Digitalisierung – Robotik & KI
KI-App bringt Ergonomie für alle
Ergonomisches Arbeiten ist ein Faktor, um langfristig arbeitsbedingte gesundheitliche Schäden am Bewegungsapparat zu vermeiden. Doch in der Praxis bleibt körpergerechtes Arbeiten oft eine Herausforderung – die Gründe dafür sind vielfältig. Mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) und maschinellem Sehen soll nun das von der AK Niederösterreich geförderte Projekt „Ergo4A“ neue Möglichkeiten in der Prävention bieten.
Die Schaffung menschengerechter Arbeitsbedingungen gewinnt an Bedeutung. In der Ergonomie beginnt dies mit der Arbeitsplatzgestaltung, die ein ergonomisches Arbeiten überhaupt erst ermöglichen soll. Mit technischen Maßnahmen können bekanntermaßen die Bedingungen für den Menschen verbessert werden, ebenso können durch organisatorische und persönliche Anpassungen die Belastungen und in weiterer Folge die Beanspruchung reduziert werden. So sieht es auch der Grundsatz der Gefahrenverhütung im ArbeitnehmerInnenschutzgesetz vor. Doch bevor man zu den passenden Maßnahmen kommt, braucht man eine treffsichere Analyse und Bewertung. Im Fokus der Ergonomie stehen oftmals die Körperhaltung und die Bewegungen des Menschen. In Österreich sind Muskel-Skelett-Erkrankungen derzeit die zweithäufigste Ursache für Krankenstände. Sie sind für rund 15 % aller Krankenstandsfälle und für über 21 % aller Krankenstandstage verantwortlich1 – Zahlen, die hinlänglich bekannt sind und die sich Jahr für Jahr ähneln! Es sind Zahlen, die ein Umdenken in vielerlei Hinsicht notwendig machen, die alte Bewertungsschemata in Frage stellen, und die nach Lösungen schreien.
Die Wichtigkeit ergonomischer Körperhaltung
Für die Prävention sind regelmäßige und wiederkehrende Risikobeurteilungen von Arbeitsprozessen vorteilhaft. Eine besondere Herausforderung besteht jedoch darin, dass die Körperhaltung eine dynamische Größe ist, die von zahlreichen Faktoren beeinflusst wird. Während viele Belastungsfaktoren, wie beispielsweise Vibrationen oder Lärm, anhand einer Analyse des Arbeitsplatzes erfasst werden können, ist die Körperhaltung ein Parameter, der individuell für jede einzelne Arbeitskraft betrachtet werden sollte und nicht immer gleich sein muss. Personen bewegen sich unterschiedlich und verfügen über unterschiedliche anthropometrische Voraussetzungen. So variiert beispielsweise die empfohlene Sitzhöhe für durchschnittliche „Europamenschen“ um beachtliche 19,5 cm2, was die Differenz zwischen der unteren bzw. oberen Empfehlung für das 5. und 95. Perzentil der europäischen Population widerspiegelt.
Da die Körperhaltung oft nicht nur durch die durchzuführenden Tätigkeiten im Arbeitsprozess vorgegeben ist, sondern auch bei denselben Aufgaben von Person zu Person unterschiedlich sein kann, sollte diese, wenn möglich, auch individuell untersucht werden. Eine Bewegungsanalyse nimmt diese Unterschiede genau unter die Lupe. Aktuell werden Risikobeurteilungen im Betrieb meist durch Beobachtungen oder in Form von Checklisten durchgeführt, die den Arbeitsplatz bewerten. Die Körperhaltung und die Ausführungsbedingungen werden zwar berücksichtigt, aber nicht in der Genauigkeit, in der es individuell oft notwendig wäre. Ergonomie-Screeningverfahren bieten viel Interpretationsspielraum und Bewertungen sind oft ungenau oder bringen Ergebnisse, die wenig Aussagekraft haben. Zudem können Beobachtungen mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden sein. Diese Herausforderungen führen dazu, dass Arbeitsergonomie manchmal als eine Art „Luxus“ betrachtet wird, der nicht allen Beschäftigten in gleichem Maße zugänglich ist.
Körperhaltung mittels KI-Analyse
Jetzt kommt die künstliche Intelligenz ins Spiel. Aktuelle Entwicklungen in der Forschung zeigen, dass der Einsatz von KI die Analyse der Körperhaltung deutlich erleichtern kann. Durch die Verwendung digitaler Tools kann der Prozess der Risikobeurteilung effizienter und objektiver gestaltet werden. Die sich rasant weiterentwickelnden digitalen Technologien bieten auch hier neue Möglichkeiten für Betriebe und deren Mitarbeiter:innen.
Das Ziel der digitalisierten Risikobeurteilung ist dabei nicht, die Analyse komplett zu automatisieren, sondern Experten:Expertinnen und Sicherheitsfachkräfte zu unterstützen, potenziell gesundheitsschädliche Belastungen des Körpers frühzeitig zu erkennen. Moderne KI-Modelle ermöglichen es, die Körperhaltung ohne zusätzliche Sensorik allein anhand eines Videos zu analysieren. Dabei werden Gelenkpositionen Bild für Bild erfasst und eine dreidimensionale Projektion der Körperpose wird erstellt. Durch die weitere Verarbeitung lassen sich Körperhaltungen sowohl aus der Frontal- als auch aus der seitlichen Ebene detailliert betrachten. Abweichungen von natürlichen Gelenkstellungen können berechnet und mithilfe etablierter ergonomischer Analyseverfahren quantifiziert werden.
Eine solche KI-gestützte Analyse kann 60 Schätzungen pro Sekunde durchführen. Entsprechend können Körperhaltungen bis ins kleinste Detail analysiert werden, sodass kein Risiko übersehen wird. Dieser Vorteil bringt jedoch auch Herausforderungen mit sich, denn die enorme Datenmenge muss von Experten:Expertinnen weiter interpretiert und auf Plausibilität überprüft werden, um präzise und praxisnahe Empfehlungen zur Verbesserung der Körperhaltung abzuleiten.
3, 2, 1 … say „Ergo for All“!
Komplexe KI-Modelle sind nach wie vor auf Experten:Expertinnen ausgerichtet und tragen bislang kaum dazu bei, dass ergonomische Verbesserungen direkt bei den Arbeitskräften ankommen. Daher sind neue Ansätze erforderlich, die für Betroffene leichter interpretierbar sind und effektiver zur Prävention beitragen. Im Rahmen des Forschungsprojekts Ergo4A (Ergonomics for All), gefördert vom Projektfonds Arbeit 4.0 der Arbeiterkammer Niederösterreich, entwickeln TU Wien und FH St. Pölten eine mobile App zur spielerischen Ergonomie-Bewertung. Durch interaktive Analysen und Lerneinheiten soll das Bewusstsein für ergonomische Prinzipien gestärkt werden. Ein zentraler Aspekt der Entwicklung ist der Schutz der Privatsphäre – die gesamte Verarbeitung erfolgt direkt auf dem Smartphone, ohne die Nutzung externer KI-Server. Dadurch bleiben personenbezogene und unternehmensbezogene Daten vollständig privat.
Bei den Spracheinstellungen kann der:die User:in seine:ihre bevorzugte Sprache für die App (geplant sind Deutsch, Englisch, Serbokroatisch und Türkisch) auswählen. Anschließend folgt eine kurze Einführung, die den:die User:in mit der App vertraut macht. Durch die Erstellung eines persönlichen Profils können individuelle Informationen wie Geschlecht und Alter erfasst werden, um diese später in die Abschätzung ergonomischer Risiken einzubeziehen. Alternativ ist es jedoch möglich, ein „Standard-Profil“ zu nutzen, bei dem die Analyse nicht weiter personalisiert wird.
Nach dem Aufnehmen eines Videos analysiert die App die Bewegungen und berechnet einen individuellen Ergonomie-Score. Die Ergebnisse werden anschaulich durch Infografiken und eine animierte Figur (Puppe) dargestellt. Je nach Risiko wird die Bewegung farblich markiert.
Insights aus der KI-Forschung und Herausforderungen für bessere Ergonomie
Langfristige Prävention erfordert eine nachhaltige Auseinandersetzung mit dem Thema Ergonomie sowie mit KI-Technologien. „Keep the Workers in the Loop” – so soll der Ansatz sein. Um dies zu ermöglichen, wird aktuell erforscht, wie sich Sprachmodelle miteinbeziehen lassen. Arbeitskräfte sollen die Möglichkeit bekommen, zu den vorgeschlagenen Maßnahmen sowie ergonomischen Risiken Fragen zu stellen. Zusätzlich soll die App Lerneinheiten (Lessons), zum Beispiel zu Themen wie „ergonomisches Heben“, vorschlagen können, um die Bewegungsabläufe des:der Users:Userin zu verbessern und in weiterer Folge auch die Arbeitsbedingungen ergonomischer zu gestalten.
Insgesamt soll ein menschzentrierter Ansatz verfolgt werden. Wichtig ist, das Bewusstsein für ergonomische Bewegungen zu schärfen und langfristig Verletzungsrisiken und arbeitsbedingte Muskel-Skelett-Erkrankungen zu reduzieren. Denn auch wenn KI neue Möglichkeiten zur Analyse bietet, ist sie nicht komplett fehlerfrei. Das Ziel ist, das Verständnis der Ergonomie zu fördern, anstatt die KI-Hinweise passiv zu akzeptieren.
Deshalb ist es wichtig, mögliche Interaktionsszenarien mit digitalen Tools und die Akzeptanz in Bezug auf KI-Hinweise sowie ergonomische Maßnahmen im Allgemeinen zu erforschen. Um das komplexe Setting und die Wahrnehmung von Ergonomie in der Praxis besser zu verstehen, wurden im Rahmen des Projektes auch Interviews mit Experten:Expertinnen durchgeführt.
Die Erkenntnisse zeichnen dabei ein düsteres Bild. In Österreich mangelt es vielen Arbeitskräften an Bewusstsein und Wissen über ergonomische Praktiken, was häufig zu unergonomischen Arbeitsweisen führt. Viele betrachten Ergonomie als Einschränkung ihrer Leistung und befürchten, dass die Einhaltung ergonomischer Prinzipien ihre Effizienz mindert. Einige berichten sogar davon, für ergonomisches Verhalten von Kollegen:Kolleginnen belächelt oder gar ausgelacht zu werden.
Die Herausforderung für KI in der Ergonomie besteht daher nicht nur darin, ergonomische Prinzipien zu vermitteln, sondern auch das negative Image der Ergonomie versus Jobperformance zu verändern. Dies erfordert ein grundlegendes Umdenken – und zwar nicht nur im digitalen Bereich. So spielt beispielsweise das richtige Timing eine entscheidende Rolle. Wenn Arbeitskräfte bereits während des Onboardings eine Ergonomie-Schulung absolvieren, kann dies effektiver sein, da sie noch keine unergonomischen Gewohnheiten entwickelt haben. Digitale Tools können dabei unterstützen – interaktiv und direkt am konkreten Arbeitsplatz. Ebenso muss Ergonomie positiv kommuniziert werden. Viel zu oft werden lediglich notwendige Änderungen kommuniziert, während Lob für ergonomisch korrektes Arbeiten selten ist. Ein individuelles Tracking sowie kontinuierliches Lernen durch eine digitale App könnten dazu beitragen, die negative Wahrnehmung ergonomischer Maßnahmen zu verändern. Entsprechend sind auch passende organisatorische Maßnahmen notwendig, um das Potenzial der KI zur effektiven Prävention vollständig ausschöpfen zu können.
Next Steps – wie geht es weiter?
Die mobile App wird im Herbst 2025 über Google- und iOS-Stores kostenfrei verfügbar sein und ermöglicht so eine breite Nutzung. Um eine praxisnahe und benutzerfreundliche Lösung zu gewährleisten, ist es essenziell, Arbeitskräfte frühzeitig in die Testphase einzubeziehen. Betriebe, die Interesse an einer Teilnahme am Testing haben, sind eingeladen, aktiv zur Weiterentwicklung beizutragen. Von der TU Wien und der AUVA in Zukunft geplante Webinare geben mehr Informationen zu der neuen Entwicklung von Ergo4A.
Quellen
[1] C. Mayrhuber And B. Bittschi, „Fehlzeitenreport 2021 – Krankheits- Und Unfallbedingte Fehlzeiten In Österreich“, 2021. [Online]. Available: Wifo.ac.at/Publikationen/Publikationssuche?Detail-View=Yes&Publikation_id=68042.
[2] H. W. Jürgens, I. A. Aune Und U. Pieper, „Internationaler Anthropometrischer Datenatlas“, 1989. Wirtschaftsverl. Nw.
[3] D. Van Eerd, E. Irvin, M. Le Pouésard, A. Butt And K. Nasir, “Workplace Musculoskeletal Disorder Prevention Practices And Experiences”, 2022. Inquiry: The Journal Of Health Care Organization, Provision, And Financing, 59, 00469580221092132.
Zusammenfassung
Die Ergonomie spielt eine große Rolle, wenn es darum geht, den Arbeitsalltag ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen zu erleben. Trotzdem mangelt es vielen Arbeitskräften an Wissen und Verständnis über ergonomische Praktiken. Ein von der AK Niederösterreich geförderte Projekt will Abhilfe schaffen. Die App „Ergo4A“ soll mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) Ergonomie für alle zugänglich machen.