Digitalisierung – New Work
Ein Augenblick für die Körperhaltung
Augengesundheit und Körperhaltung sind miteinander verbunden. Veränderungen und Probleme der visuellen Wahrnehmung können auf die Haltung und das Gleichgewicht Einfluss haben. Körperliche Beschwerden können die Folge sein. Eine falsche Körperhaltung im Arbeitsalltag – z. B. vor dem Bildschirm – kann zu Sehproblemen führen. Eine gute Körperhaltung bei der Bildschirmarbeit wiederum entlastet auch die Augen.
Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) umfassen eine Vielzahl von Beschwerden und Erkrankungen, die Muskeln, Knochen, Gelenke, Sehnen und Bänder betreffen. Stehen diese Erkrankungen in kausalem Zusammenhang mit der Arbeit, insbesondere bei Tätigkeiten, die körperliche Belastungen, repetitive Bewegungen oder schlechte ergonomische Bedingungen umfassen, spricht man von arbeitsbedingten muskuloskelettalen Erkrankungen.
Diese Erkrankungen können sowohl durch die Arbeitsumgebung als auch durch die Art der ausgeführten Arbeit ausgelöst werden1. So sind gerade in Assoziation zum beruflichen Sitzen Schulter-Nacken-Beschwerden nachgewiesen2.
Dies führt nicht nur zu menschlichem Leid, sondern darüber hinaus auch zu hohen Kosten für betroffene Arbeitnehmer:innen, Betriebe und auch für die Volkswirtschaft3.
Die Augen sind ein wesentlicher Bestandteil des komplexen Systems, das die Körperhaltung steuert. Veränderungen oder Störungen der visuellen Wahrnehmung können sich direkt auf die Haltung und das Gleichgewicht auswirken. Der visuelle Kortex (Sehzentrum) und der motorische Kortex (Bewegungszentrum) im Gehirn sind auf komplexe Weise miteinander verbunden, um visuelle Informationen mit motorischen Handlungen zu koordinieren. Diese Verbindungen erfolgen durch mehrere neuronale Netzwerke und Strukturen, welche die Verarbeitung und Weiterleitung von Informationen ermöglichen.
Was Augen und Körperhaltung verbindet
Eine häufig beobachtete Folge von Schulter- und Nackenbeschwerden sind Kopfschmerzen, die sich langsam aus dem verspannten und teilweise schmerzhaften Bereich der Schultern und des Nackens nach oben und vorne bis zu den Augen ziehen. Die Pathogenese dieser Beschwerden ist komplex und wird von einem Zusammenspiel aus Körperhaltung und Sehleistung beeinflusst.
Fast jede Bewegung, die wir in unserer Umgebung ausführen, wird sensorisch durch das visuelle, vestibuläre und das propriozeptive System gesteuert. Die Augen liefern entscheidende Daten über die Position des Körpers im Raum und beeinflussen die Haltung des Kopfes und des Oberkörpers. Diese Informationen werden mit Daten aus dem Innenohr (vestibuläres System) und den Propriozeptoren der Muskeln und Gelenke kombiniert, um eine stabile Körperhaltung zu gewährleisten.Bei schlechtem Sehvermögen oder unpassender Brille neigen Menschen dazu, den Kopf zu kippen oder nach vorne zu schieben, um besser sehen zu können.
Das sensomotorische System
Die bedeutendsten Informationsgeber in diesem hierarchischen System sind die Augen6. Die motorischen Fähigkeiten der Augen, auch als Okulomotorik bezeichnet, umfassen alle Bewegungen der Augen, die für die visuelle Orientierung und Wahrnehmung notwendig sind. Hierfür werden die Augen jeweils von sechs äußeren Muskeln (extraokularen Muskeln) bewegt, die für die Steuerung der Augenbewegungen verantwortlich sind, sowie von Muskeln, die die Pupillenweite und den Linsenfokus kontrollieren.
Die visuelle Wahrnehmung bezieht sich auf die gesamte Aufnahme, Verarbeitung und Auswertung visueller Informationen im Gehirn und ist somit weit mehr, als die Überprüfung der Sehschärfe beim:bei der Optiker:in wiedergibt. Durch die Informationsaufnahme konstruieren wir ein internes Modell der Umwelt, das es uns ermöglicht, zielgerichtete motorische Handlungen auszuführen, da Haltung, Stabilität und Präzision eng mit dem visuellen System verbunden sind6.
Das Gleichgewichtsorgan, auch vestibuläres System genannt, befindet sich im Innenohr und setzt sich aus fünf Organen zusammen: den drei Bogengängen, die sensorisch für die Winkelbeschleunigungen (Drehen des Kopfes) zuständig sind, und aus den beiden Otolithenorganen oder Maculae, welche für lineare Beschleunigungsrichtungen (horizontal und vertikal) empfindlich sind7. Es erfasst die Lage und Bewegung des Kopfes im Raum und hilft, die Körperposition darauf abzustimmen. Es dient der Stabilisierung der Augen und sorgt über den vestibulo-okulären Reflex dafür, dass die Augen während Kopfbewegungen stabil bleiben und klare Sicht ermöglichen. Durch die posturale Kontrolle unterstützt es Haltung und Balance, indem es Signale an Muskeln sendet und somit den Körper stabilisiert.
Gemeinsam messen diese Organe die Bewegungsrichtung und die Schwerkraft. Sie haben Einfluss auf die Kopf-, Nacken- und Augenbewegungen und die reflexive Aufrichtung des Körpers gegen die Schwerkraft.
Das propriozeptive System, auch bekannt als Tiefensensibilität, ist ein Teil des somatosensorischen Systems. Es ermöglicht uns, die Position und Bewegung unseres Körpers im Raum wahrzunehmen, ohne visuelle Hinweise zu benötigen. Es erfasst innere Signale von Rezeptoren aus Muskeln, Gelenken und Sehnen und ist essenziell für Bewegungskoordination, Gleichgewicht und Körperhaltung. Die Signale werden über sensorische Nervenbahnen ins Rückenmark und das Gehirn geleitet.
Durch das Zusammenspiel dieser drei Systeme kann eine aufrechte, gegen die Schwerkraft beizubehaltende Körperhaltung gewährleistet werden, wenn diese frei von jeglichen Einschränkungen sind. Dabei spielen Assoziationsbahnen zwischen dem visuellen System und dem motorischen Kortex eine zentrale Rolle. Die visuellen Informationen werden über den Sehnerv an die primären visuellen Areale im Okzipitallappen weitergeleitet und mit den sensorischen Informationen kombiniert. In spezialisierten Hirnarealen werden diese verarbeitet und an die motorischen Zentren gesandt, welche für die Planung und Ausführung von Bewegungen verantwortlich sind.
Somit liegt es nahe, dass die Körperhaltung und die Augengesundheit eng miteinander verbunden sind, da sie sich gegenseitig beeinflussen können.
„Forward Head Posture“
Fehlhaltungen wie die „Forward Head Posture“ (Kopf-nach-vorne-Haltung) verstärken Verspannungen oder führen langfristig zu Schmerzen. Studien legen nahe, dass eine nach vorne geneigte Kopfhaltung bei der Arbeit am Computer zu Gleichgewichtsstörungen bei gesunden Erwachsenen führen kann4. Diesbezüglich warnt auch die DGOU (Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie) davor, dass die Belastung bei einer Beugung der Halswirbelsäule (HWS) von circa 15 Grad nach vorne nicht die durchschnittlichen 4 bis 6 Kilogramm Kopfgewicht beträgt, sondern zusätzlich rund 12 Kilogramm an Belastung auf die HWS einwirken. Je weiter der Kopf nach vorne geneigt wird, desto stärker ist die Belastung. Beim Blick auf das Handy senkt der:die Nutzer:in sein:ihr Haupt meist um über 45 Grad – dann wirken Kräfte von über 20 Kilogramm auf die HWS.
Hält diese Haltung oft und lange an – etwa durch mehrstündiges Lesen eines E-Books oder das Arbeiten am Tablet oder Smartphone – werden Muskeln, Sehnen und Bandscheiben erheblich strapaziert und die HWS überlastet. Dies kann zu dauerhaften Muskelverhärtungen und einer Schonhaltung führen. Schmerzen im Schulter-Nacken-Bereich, Kopfschmerzen und Verschleißerscheinungen sind die Folge5.
Wenn die Motorik gestört ist
Häufige Bildschirmarbeit fördert eine nach vorne geneigte Haltung, die oft mit einem ständigen Fixieren auf den Monitor verbunden ist. Bei dieser Tätigkeit sowie bei der Nutzung anderer digitaler Geräte (z. B. Smartphones), blicken wir fast ausschließlich in eine Sehrichtung und -distanz (≈ 40 cm bis ≈ 70 cm). D. h., die Augenmuskeln sind sowohl im Richtungs- als auch im Distanzsehen permanent angespannt, um ein scharfes Sehen in diesen Nahdistanzen zu ermöglichen. Je länger wir auf eine kleine Fläche sehen, desto starrer werden unsere Augen.
Diese starre Haltung und Blickrichtung kann das Risiko für das „Computer Vision Syndrom“ (CVS) erhöhen, bei dem trockene und brennende Augen, verschwommenes Sehen, Kopfschmerzen und Nackenverspannungen auftreten. Zusätzlich machen Reflexionen, Spiegelungen oder verschiedene Kontraste es den Augen schwer sich anzupassen, ebenso wie trockene Raumluft oder schlechte Lichtverhältnisse am Arbeitsplatz.
Zusätzlich führt die schlechte Körperhaltung dazu, dass der Blick konstant in eine ungünstige Richtung fällt. Als Ergebnis kann eine ungleichmäßige Belastung der Augenmuskeln erwartet werden, was das Sehen anstrengender macht und eventuell zu Augenfehlern wie Kurzsichtigkeit führen kann.
Die Augenmuskeln steuern die Blickrichtung und arbeiten eng mit den Nackenmuskeln zusammen, um die Kopfposition an die Blickbewegungen anzupassen. Dies ist besonders für die Stabilisierung des Blicks, etwa beim Lesen oder Arbeiten am Bildschirm, wichtig. Es gibt in der Tat starke Hinweise auf eine schnelle, umweltbedingte Veränderung der Prävalenz von Myopie, die mit zunehmender Bildung und Urbanisierung einhergeht8, 9.
Man kann dies mit einem Gummiband vergleichen. Wenn man ein Gummiband über längere Zeit hinweg dehnt, kann es zuerst wieder in seine ursprüngliche Form zurückkehren, da es elastisch ist. Das bedeutet, dass es sich dehnen lässt und danach wieder schrumpft. Wenn das Gummiband zu lange oder zu stark gedehnt wird, verliert es seine Fähigkeit, sich zurückzuziehen. Es bleibt möglicherweise gedehnt oder wird locker. Mit der Zeit, besonders bei ständiger Belastung, kann das Gummiband schwächer werden. Ein Gummiband bzw. die Funktionen des Körpers funktionieren nur so gut, solange sie nicht über ihre Grenze hinaus strapaziert werden. Zu viel Belastung kann dazu führen, dass sie die ursprüngliche Form bzw. Funktion verlieren oder kaputtgehen.
Zusätzlich kann eine schlechte Körperhaltung bzw. Sitzposition, bei der der Kopf nach vorne geneigt ist oder der Rücken krumm und die Halswirbelsäule (HWS) überstreckt wird, zu einer Veränderung des Blickwinkels führen.
Verspannungen im Nacken, oberen Rücken und Schulterbereich können auch zu einem funktionellen HWS-Syndrom führen. Forschungen legen nahe, dass die Muskelpartien von Schultern, Nacken und Augen in einem funktionalen und oft komplexen Zusammenhang stehen, der sowohl biomechanisch als auch neurologisch bedingt ist. Verspannungen in einer dieser Regionen können Beeinträchtigungen des Sehvermögens zur Folge haben10, da die Blutzirkulation und der Flüssigkeitstransport zu den Augen beeinträchtigt sein kann. Dies führt zu einer schlechteren Versorgung mit Nährstoffen und Sauerstoff. Die Augen können somit schneller ermüden und dies führt unweigerlich zu einer Einnahme einer ungünstigen Körperhaltung.
Tipps zum Thema Augengesundheit und Bewegungstraining unter Trockene Augen am Bildschirmarbeitsplatz (AUVA auf YouTube)
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Literaturverzeichnis
1. Work-Related Musculoskeletal Disorders: A Systematic Review and Meta-Analysis. Greggi, Chiara, et al. 6. 7 2024, Journal of Clinical Medicine.
2. Berufliches Sitzen und Beschwerden im Muskel-Skelett-System – Auswertung auf Basis der BiBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung. Liebers, F und Brendler, C. Stuttgart: Georg Thieme Verlag KG, 2021, Gesundheitswesen; S. 83(08/09): 710.
3. AUVA. AUVA – Packen wir’s an. [Online] 20. 11 2024. [Zitat vom: 20. 11 2024.] https://auva.at/praevention/kampagnen/packen-wirs-an/.
4. The Effect of The Forward Head Posture on Postural Balance in Long Time Computer Based Worker. Kang Jung-Ho, et al. 2012, ARM – Annals of Rehabilitation Medicine, S. 98–104.
5. Herda, Susanne und Radke-Lottermann, Regina. Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. [Online] 10. 3 2016. [Zitat vom: 21. 11 2024.] https://www.dgu-online.de/aktuelles/news-archiv/detail/rueckengesundheit-orthopaeden-und-unfallchirurgen-geben-tipps-gegen-den-handynacken-1-2665.
6. Lienhard, Lars. Training beginnt im Gehirn: Mit Neuroathletik die sportliche Leistung verbessern. München: Riva Verlag, 2019. ISBN 978-3-7453-0344-5.
7. Graumann, Walther und Sasse, Dieter. Anatomie – Sinnessysteme, Haut, ZNS, periphere Leitungsbahnen. Stuttgart: Schattauer GmbH, 2005. Bd. 4. ISBN 3-7945-2064-5.
8. On the etiology of myopia: An epidemiological study. Goldschmidt, E. Munksgaard. 1968.
9. Association between Global Myopia Prevalence and International Levels of Education. Jong, Monica, et al. 10 2023, Optometry and Vision Science, S. 702–707.
10. Richter, Hans et al. Neuroanatomical correlates of voluntary inhibition of accommodation/vergence under monocular open-loop viewing conditions. European Journal of Neuroscience. 6. 4 2005, S. 3077–3088.
11. Update and guidance on management of myopia. European Society of Ophthalmology in cooperation with International Myopia Institute. Németh, János et. al. 2021, European Journal of Ophthalmology, S. 853–883.
12. Global Prevalence of Myopia and High Myopia and Temporal Trends from 2000 through 2050. Holden, Brien A. 2016, American Academy of Ophthalmology, S. 1036–1042.
13. Morgan, Ian und Rose, Kathryn . How genetic is school myopia? Progress in Retinal and Eye Research. 2004.
Zusammenfassung
Veränderungen oder Störungen der visuellen Wahrnehmung können sich direkt auf die Haltung auswirken. Eine gute Körperhaltung bei der Bildschirmarbeit fördert die Gesundheit und entlastet die Augen, indem sie die richtige Ausrichtung des Kopfes und des Blicks ermöglicht. Wer viel am Bildschirm arbeitet oder liest, sollte auf regelmäßige Blickwechsel in die Ferne, bewegte Pausen, eine entspannte Haltung und eine optimale Ausrichtung des Bildschirms achten, um Augen und Körper zu schonen.