Trends im Arbeitnehmer:innenschutz
Trends im Arbeitnehmer:innenschutz
Das Risikoobservatorium des Instituts für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherungsanstalt (IFA) beobachtet Entwicklungen, die sich auf Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz auswirken können. Durch die Befragung von Fachleuten aus der Wissenschaft und Branchenvertretern:-vertreterinnen werden relevante Trends identifiziert, um deren Chancen und Risiken rechtzeitig erkennen zu können.
Die Arbeitswelt befindet sich im Wandel, neue Themen, Arbeitsweisen und technische Entwicklungen gewinnen an Bedeutung. Handelt es sich bei einem Trend um eine kurzlebige Erscheinung oder um eine nachhaltige Veränderung, die zusätzliche Maßnahmen im Bereich des Arbeitsschutzes erforderlich macht? Welche Branchen sind betroffen? Eine längerfristige Planung ist nur möglich, wenn man Antworten auf diese Fragen findet.
Bereits Anfang der 2010er-Jahre erkannte die gesetzliche Unfallversicherung in Deutschland die Notwendigkeit fundierter Prognosen. Die Präventionsleitungskonferenz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherungsanstalt (DGUV) – ein Gremium, in dem alle durch den Spitzenverband DGUV vertretenen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen mitwirken – beschloss 2011 die Einrichtung des sogenannten Risikoobservatoriums beim Institut für Arbeitsschutz der DGUV. Das Risikoobservatorium ist im Referat „Forschungstransfer und -perspektiven“ des IFA angesiedelt, das von Ina Neitzner geleitet wird. Es sammelt Informationen zu aktuellen Trends und erhebt deren Bedeutung für den Arbeitsschutz in den kommenden fünf bis zehn Jahren durch Befragungen.
Die Trendsammlung
Für die Bestandsaufnahme werden unterschiedliche Quellen von wissenschaftlichen Institutionen, Verbänden und Behörden, sowohl in gedruckter Form als auch online, genutzt. Informationen über Trends stammen auch aus den Gremien der DGUV und der Unfallversicherungsträger sowie aus Medienberichten. Im Rahmen der „Trendsuche“ der DGUV können alle Trends melden, die einen Bezug zum Arbeitsschutz haben.
Die Trendsammlung dient als Basis für die Befragungen. Bisher hat das Risikoobservatorium drei Befragungsrunden durchgeführt. Die erste fand von 2012 bis 2016 statt, die zweite von 2017 bis 2021. „Für die dritte Befragungsrunde, die im Frühjahr 2023 startete, haben wir 117 Trends gesammelt, die maßgeblich für die nächsten fünf bis zehn Jahre sein werden, und in zehn Trendkategorien zusammengefasst“, erklärt Neitzner. Bei den Trendkategorien handelt es sich um Digitalisierung und Konnektivität, neue Technologien, Globalisierung, Wirtschaft, New Work, Infrastruktur, Mobilität, demografische Entwicklungen und Diversität, Soziales und Gesundheit sowie eine Kategorie, die Klimawandel, Dekarbonisierung, Natur- und Ressourcenschutz beinhaltet.
Befragung von Fachleuten
Die dritte Befragung setzt sich aus zwei Teilen zusammen – Zukunftsrelevanz-Befragungen und Branchenrelevanz-Befragung. Für die Zukunftsrelevanz-Befragungen identifizierte das Risikoobservatorium Fachleute aus wissenschaftlichen Einrichtungen und Gesellschaften sowie aus Arbeitsschutzinstituten innerhalb und außerhalb der gesetzlichen Unfallversicherung, die in einer bestimmten der zehn Trendkategorien eine besondere Expertise aufweisen.
Diese Fachleute sollten eine Bewertung des Einflusses von Trends in den kommenden fünf bis zehn Jahren vornehmen – allerdings nur jener Trends, die in die ihnen zugeordnete Trendkategorie fallen. Bei Fachleuten aus dem Gebiet des Arbeitsschutzes war zusätzlich eine Einschätzung des Einflusses der jeweiligen Trends auf die Sicherheit und Gesundheit der Versicherten gefragt. „Wir haben insgesamt 1.332 Fachleute für die Online-Befragungen identifiziert und angeschrieben. 219 von ihnen haben sich beteiligt, das ist für eine derartige Befragung ein guter Schnitt“, beschreibt Neitzner die Vorgehensweise. Durch die Zukunftsrelevanz-Befragungen wurden 36 Top-Trends ermittelt.
Für die Branchenrelevanz-Befragung ersuchte das Risikoobservatorium 252 Fachleute aus 57 Branchen, alle Trends der Befragungsrunde hinsichtlich ihres Einflusses auf Sicherheit und Gesundheit der Versicherten ihrer jeweiligen Branche einzuschätzen. Trends, deren Einfluss die Branchenfachleute in den nächsten fünf bis zehn Jahren als sehr hoch einschätzten, nahm das Risikoobservatorium in den Pool der Top-Trends auf. Dabei berücksichtigte es, in wie vielen Branchen der jeweilige Trend als besonders wichtig angesehen wurde. Laut Neitzner zeigte sich eine hohe Übereinstimmung von Branchenrelevanz und Zukunftsrelevanz; nur drei Trends konnten durch die Branchenrelevanzbefragung ergänzt werden.
Top-Trends
Von den ursprünglich 117 Trends, die in die Befragung aufgenommen worden waren, schafften es 39 in den Pool der Top-Trends. Zu jedem von ihnen führte bzw. führt das Risikoobservatorium weitere Recherchen und vertiefende Interviews mit Fachleuten durch und erstellt eine detaillierte Trendbeschreibung. Diese enthält Antworten auf die folgenden Fragen: Was beschleunigt, was bremst den Trend? Wer ist betroffen? Welche Veränderungen ergeben sich für die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten? Was sind Erkenntnisse und Perspektiven für den Arbeitsschutz? Dieser Arbeitsschritt ist noch nicht für alle Top-Trends abgeschlossen.
Die Top-Trends sind im „Trendportal“ auf der Website des Risikoobservatoriums öffentlich zugänglich. Zusätzlich soll ein Gesamtbericht mit der Beschreibung dieser Trends veröffentlicht werden. Auf Wunsch der Präventionsleitungen der Unfallversicherungsträger können bei Bedarf sogenannte Branchenbilder erstellt werden, die sämtliche die jeweilige Branche betreffenden Top-Trends zusammenfassen. Die Gremien der DGUV und der Unfallversicherungsträger können die Weiterbearbeitung einzelner Top-Trends im Rahmen ihrer Präventionsplanungen veranlassen.
Das Risikoobservatorium plant, in Zukunft alle drei Jahre weitere Befragungen durchzuführen. Um auch zwischen diesen auf dem aktuellen Stand zu bleiben, wird die Trendsammlung in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Die im DGUV-Sachgebiet „Neue Formen der Arbeit“ eingerichtete Trendsuche-Gruppe bewertet die neu dazugekommenen Trends hinsichtlich ihrer Relevanz. Schreibt man einem Trend großen Einfluss auf Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz zu, wird er den Top-Trends hinzugefügt.
Entwicklung von Trends
Betrachtet man die in den letzten Jahren neu aufgetretenen und nach wie vor aktuellen Trends, lassen sich eindeutige Tendenzen feststellen. Neitzner fasst diese zusammen: „Trends, die mit Digitalisierung und neuen Technologien zusammenhängen, haben sich massiv verstärkt. Neu dazugekommen sind Trends aus dem Bereich Klimawandel, Dekarbonisierung, Natur- und Ressourcenschutz. Bereits seit der ersten Befragung spielt die demografische Entwicklung mit Fachkräfte- und Personalmangel eine wichtige Rolle.“ Trends mit Gesundheitsbezug wie körperliche Inaktivität oder ungesunde Ernährung zählen ebenfalls seit der ersten Befragung zu den Favoriten.
Zwischen den Trends bestehen viele Wechselwirkungen. Beispielsweise kann eine Flexibilisierung des Arbeitsorts nur im Kontext einer guten digitalen Infrastruktur erfolgen, und die Transformation der Wirtschaft ermöglicht z. B. den Ausbau erneuerbarer Energien, was zu veränderten Arbeitsplätzen führt.
Künstliche Intelligenz
Eines der Themen in der Trendkategorie Digitalisierung und Konnektivität ist künstliche Intelligenz (KI). Im Trendportal des Risikoobservatoriums werden die Faktoren beschrieben, die den Trend zum Einsatz künstlicher Intelligenz beschleunigen. Die Technologisierung aller Lebensbereiche fördert die Weiterentwicklung von KI, insbesondere die Verfügbarkeit großer Datenmengen („Big Data“), die digitale Vernetzung von Objekten („Internet of Things“) und die zunehmende Automatisierung von Fahrzeugen bis hin zum autonomen Fahren. Auch im Bereich Klimaschutz wird KI eingesetzt, etwa zur Erstellung von Klimamodellen oder zur Steigerung der Energieeffizienz.
Als hinderlich für den Einsatz von KI erweisen sich die hohen Anforderungen bezüglich Know-how und Infrastruktur, die erforderliche Änderung betrieblicher Prozesse und die nötigen finanziellen Investitionen. Kleinere Unternehmen und Start-ups erfüllen diese Voraussetzungen meist nicht. Argumente, die oft eine Entscheidung gegen die Implementierung von KI zur Folge haben, sind datenschutzrechtliche Bedenken sowie die Angst vor Überregulierung und bürokratischen Hürden.
Künstliche Intelligenz wird am häufigsten von großen Unternehmen genutzt und ist vor allem in der Industrie verbreitet, zunehmend auch im Handel und im Dienstleistungssektor. Prognosen gehen von einer stark steigenden Relevanz von KI in allen Branchen aus.
Veränderungen für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz ergeben sich in mehreren Bereichen. Kollaborierende Roboter können die Arbeit erleichtern, aber auch zu Verletzungen durch Kollisionen führen. Intelligente Assistenzsysteme an gefährlichen Arbeitsplätzen tragen dazu bei, Unfälle zu vermeiden, erläutert Neitzner anhand eines Beispiels: „Bei einer Kreissäge erkennt ein KI-gestütztes System, wenn eine Hand dem Sägeblatt zu nahe kommt. Dieses senkt sich dann automatisch ab.“ Mithilfe von KI lassen sich Daten zu (Beinahe-)Unfällen analysieren, um gefährliche Situationen zu identifizieren und gezielt Maßnahmen zu setzen.
Im Arbeitsschutz kommt es darauf an, rechtzeitig auf die Veränderungen zu reagieren. Berater:innen der Unfallversicherungsträger, die sogenannten Aufsichtspersonen, und andere mit dem Schutz der Arbeitnehmer:innen befasste Personen müssen über das nötige Know-how verfügen und auch über die für KI relevanten rechtlichen Grundlagen wie den AI-Act der EU, die Maschinen- und die KI-Verordnung Bescheid wissen. Für die Versicherten sollten Beratungs- und Informationsangebote geschaffen werden.
Demografische Entwicklung
Deutschland zählt zu den europäischen Ländern, in denen die Alterung der Gesellschaft durch sinkende Geburtenraten und steigende Lebenserwartung besonders stark ausgeprägt ist. Dieses Phänomen macht sich auf dem Arbeitsmarkt durch Fachkräfte- und Personalmangel bemerkbar. Verstärkt wird dieser Trend durch das Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben, abgeschwächt durch Migration.
Besonders betroffen von fehlenden Arbeitskräften sind laut dem Trendportal des Risikoobservatoriums der IT-Sektor und technische Berufe, etwa IT-Systemanalyse, IT-Anwenderberatung und -Vertrieb, Softwareentwicklung, Programmierung und Informatik sowie in der elektrotechnischen Industrie Mechatronik und Automatisierungstechnik. Auch die Energiewirtschaft leidet unter zu wenig technischem Personal. Im handwerklichen Bereich zeigt sich in der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik ein starker Mangel an Beschäftigten. Weitere große Bereiche, in denen Arbeitskräfte dringend benötigt werden, sind die Pflege und das Bildungswesen.
Die Veränderung der Altersstruktur bringt mit sich, dass ein größerer Anteil der Beschäftigten von altersbedingten gesundheitlichen Einschränkungen, etwa von Muskel-Skelett-Erkrankungen, betroffen ist. Die Erkrankungswahrscheinlichkeit steigt mit körperlich schwerer Arbeit und psychosozialen Belastungen. Mit zunehmendem Alter erhöht sich das Dequalifizierungsrisiko, da die Einführung neuer Technologien vorhandene Qualifikationen „entwerten“ kann. Müssen ältere Mitarbeiter:innen aus gesundheitlichen Gründen oder wegen fehlender Qualifikationen in bestimmten Bereichen ein Unternehmen frühzeitig verlassen, geht mit ihnen wertvolles Erfahrungswissen verloren.
Angesichts der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels werden das Leistungspotenzial und die Fähigkeiten älterer Beschäftigter dringend benötigt. Eine alter(n)sgerechte Arbeitsgestaltung für ein möglichst langes und gesundes Arbeitsleben ist nicht nur für Unternehmen essenziell, sondern auch für die Gesellschaft. „Guter Arbeitsschutz trägt dazu bei, Fachkräfte zu bekommen und zu halten“, betont Neitzner. Auch ältere Arbeitnehmer:innen sollten Zugang zu Qualifizierungsmaßnahmen haben.
Zeitliche und örtliche Flexibilität
„Das Thema Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort wurde durch die Corona-Pandemie gepusht“, so Neitzner. In der Folge haben sich alternative Bürokonzepte mit Desk-Sharing und Co-Working-Spaces durchgesetzt. Das Risikoobservatorium fasst diese Entwicklungen in der Kategorie „New Work“ zusammen; neue Bürokonzepte sowie Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort wurden als Top-Trends ins Trendportal aufgenommen.
Beschleunigt wird der Trend zu flexiblem Arbeiten durch die zunehmende Globalisierung und die weltweite Vernetzung. Wer nicht an fixe Bürozeiten gebunden ist und virtuell kommuniziert, kann auch mit Personen in anderen Zeitzonen zusammenarbeiten. Voraussetzung dafür ist eine funktionierende Kommunikationsinfrastruktur, die in Deutschland durch eine 5G-Abdeckung von fast 92 Prozent (Stand Frühjahr 2024) gegeben ist. Der Personalmangel verstärkt den Trend zu zeit- und ortsunabhängigem Arbeiten, weil dadurch Menschen mit Betreuungspflichten vermehrt als Arbeitskräfte gewonnen werden können. Die Möglichkeit, zumindest einen Teil der Arbeitszeit im Homeoffice zu verbringen, erhöht die Attraktivität eines Jobs speziell bei der jüngeren Generation.
Eine zeitliche und örtliche Flexibilisierung ist vor allem bei klassischen Bürotätigkeiten und in der IT möglich. Auch bei Beratungsdienstleistungen kann der persönliche Kontakt in Präsenz in Teilen durch virtuelle Kommunikation ersetzt werden.
Für die Arbeitnehmer:innen ermöglicht die zeitunabhängige Arbeit außerhalb der Büroräumlichkeiten eine bessere Vereinbarkeit mit privaten Tätigkeiten wie Kinderbetreuung, aber auch mit Freizeitaktivitäten. Zu möglichen negativen Auswirkungen zählen Arbeitsverdichtung, Bewegungsmangel im Homeoffice und soziale Isolation. Die Motivation und damit auch die Arbeitsleistung kann durch technische Probleme, Missverständnisse in der Kommunikation und eine schwächere Bindung an das Unternehmen in Mitleidenschaft gezogen werden. Für den Arbeitsschutz bedeutet die Flexibilisierung eine höhere Priorität der Prävention. Die Beschäftigten müssen dafür sensibilisiert werden, auf eine ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes zu Hause zu achten.
Nutzen der Trendanalysen
Die Informationen über die wichtigsten Trends mit Auswirkung auf Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz sind in erster Linie für die Unfallversicherungsträger gedacht, damit diese ihre Ressourcen fokussieren können. Aber auch andere mit Arbeitsschutz befasste Stellen interessieren sich für die Ergebnisse der Befragungen, so Neitzner: „Wir stehen in einem informellen Austausch mit zahlreichen Akteuren und sind international vernetzt. Das Risikoobservatorium wird wahrgenommen.“
Zusammenfassung
Das Risikoobservatorium beim Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherungsanstalt (IFA) erhebt, welche Trends für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz relevant sind. Zu den Top-Trends zählen unter anderem der Einsatz künstlicher Intelligenz, der durch die demografische Entwicklung verursachte Personal- und Fachkräftemangel sowie zeitlich und örtlich flexibles Arbeiten.