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Digitale Transformation

Richtig verstanden, ist Digitalisierung immer menschzentriert

Die Digitalisierung schreitet rasch voran und hat nicht nur eine Reihe neuer Schlagworte wie „New Work“, künstliche Intelligenz und Usability mit im Gepäck, sondern sie verändert auch Schritt für Schritt unsere Arbeitswelt. Der Experte für Mensch-Computer-Interaktion Prof. Dr. Simon Nestler beschreibt im Gespräch, wie eine menschzentrierte Digitalisierung aussehen kann, was digitale Systeme leisten können und was nicht.

Ein Mann in einem blauen Anzug mit weißem Hemd und Brille spricht auf einer Bühne vor einem Mikrofon. Er gestikuliert mit beiden Händen und trägt ein Namensschild an einem blauen Band um den Hals. Im Hintergrund ist eine blaue Wand mit dem Logo und der Website "auva.at" sowie ein stilisiertes Adler-Emblem sichtbar.
© Richard Reichhart

Herr Prof. Dr. Nestler, Sie sind Experte für Mensch-Computer-Interaktion: Wo stehen wir aktuell in dieser Beziehung – hat der Computer unsere Arbeit vereinfacht?

Wir nutzen den Computer im Arbeitsumfeld ungefähr seit den 1990er-Jahren. Wir haben angefangen mit klassischen Office-Produkten, die meisten von uns nutzen Dokumente, Tabellenkalkulationen, E-Mails, Kalender usw. Das haben wir so verinnerlicht, dass wir uns gar nicht mehr vorstellen können, wie diese Dinge ohne Computer funktionieren. Wenn wir uns heute einen Büroarbeitsplatz vorstellen, wo einfach nur ein Blatt Papier liegt und ein Stift – ich würde sagen, dann wüssten 99 Prozent von uns nicht, wie man arbeiten soll. Und ich glaube, das beantwortet schon die Frage: Wir haben uns daran gewöhnt und der Computer ist für uns erst einmal nicht mehr wegzudenken. 

Sollten wir besser von „DigitalisierungEN“ in der Mehrzahl sprechen, da es je nach Branche, Arbeitsbereich und Tätigkeit sehr unterschiedliche Formen der Digitalisierung gibt?

Es ist entscheidend, wie man den Begriff definiert. Standardanwendungen sind in allen Branchen ähnlich digitalisiert. Dann aber stellt sich die Frage, was verbirgt sich hinter dem Begriff Digitalisierung? Digitale Werkzeuge und Lösungen gibt es viele. Ich würde Digitalisierung anders definieren: Nämlich als die Nutzbarmachung von Werkzeugen durch Menschen im Arbeitsumfeld. In diesem Fall würden wir von einer Digitalisierung sprechen, die eben nicht nur diese technologische Perspektive hat, sondern die Mensch-Computer-Interaktion mitaufgreift. 

Sie beschäftigen sich intensiv mit „menschzentrierter Digitalisierung“ – was bedeutet der Begriff?

Aus meiner Sicht gibt es keine andere Digitalisierung. Eigentlich ist Digitalisierung, wenn wir sie richtig begreifen, immer menschzentriert. Ich möchte damit ein Gegengewicht zu dem Prozess darstellen, den wir gerade haben. Menschen bekommen neue digitale Werkzeuge und sie verändern damit ihre Arbeitsweisen – das steckt im Begriff Digitalisierung, wie wir ihn häufig verstehen. Menschzentrierte Digitalisierung versucht deutlich zu machen, dass neben diesen technologischen Aspekten eben auch die Perspektive der Menschen drinsteckt. Er besagt letztlich, dass wir bei der Gestaltung aller Dinge immer an den Bedürfnissen der Menschen ansetzen müssen. Und dass wir, wenn wir fertig sind mit dem Entwickeln, schauen müssen, ob wir diese Bedürfnisse auch tatsächlich erfüllt haben. 

Häufig fragt man die Beschäftigten anfangs, was sie genau brauchen, und dann läuft das Projekt. Der Gedanke der Menschzentrierung ist, dass dieses Wechselspiel kontinuierlich stattfindet. 

Vier Personen sitzen und stehen an einem Tisch in einem modernen Büro und schauen gemeinsam auf einen Laptop. Eine Frau zeigt mit dem Finger auf den Bildschirm, während ein Mann neben ihr aufmerksam schaut. Eine weitere Frau und ein Mann beugen sich interessiert über die Szene. Auf dem Tisch liegen Papiere, ein Stift und eine Kaffeetasse.
Was verbirgt sich hinter dem Begriff Digitalisierung? Die Nutzbarmachung von Werkzeugen durch Menschen im Arbeitsumfeld – nicht nur technologisch, sondern als Mensch-Computer- Interaktion. © Adobe Stock / dusanpetkovic1

Welche Fehler werden bei der Einführung neuer Systeme häufig gemacht?

Das sind all diese Projekte, wo ich frage: Warum führen wir gerade dieses Digitalisierungsprojekt durch? Und die Antwort lautet: Damit dieser Prozess irgendwie digital abläuft. Unsere Anfangshypothese ist dann, dass wir durch den Computer effizienter werden, leistungsfähiger und sogar zufriedener und glücklicher. Viele moderne Digitalisierungsprojekte nutzen dieses Potenzial der Digitalisierung aber nicht. Es wird dadurch nicht leichter, wir werden nicht schneller, sondern das Gegenteil. Zu sagen: Wir digitalisieren, damit es digital ist, löst kein Problem. Man könnte auch sagen, diese Art der Digitalisierung löst überhaupt kein Problem.

Sie haben einen Sechs-Punkte-Plan für die Einführung von digitalen Lösungen entwickelt – könnten Sie diese Vorgehensweise kurz erklären? 

Der erste Schritt ist, sich gar nicht mit Technologien zu beschäftigen, sondern mit den Bedürfnissen der Menschen. Also statt zu sagen, wir führen eine neue Videokonferenzlösung ein, was wieder eine starke technologische Perspektive hätte, schauen Sie sich die Bedürfnisse an und was davon technisch zu lösen ist. Die erste Erkenntnis ist, ich kann gar nicht alles mit Digitaltechnologien lösen. Zum Beispiel findet informeller Austausch genau dort statt, wo sich Menschen persönlich und eben nicht nur online begegnen. Wenn ich aber die Bedürfnisse kenne, kann ich überlegen, wie ich manches effektiver gestalten kann. 

Ich betrachte also zuerst die Effektivität, kümmere mich um die Effizienz und sorge dafür, dass die Lösung zufriedenstellend ist – das ist es, was der Begriff Usability beschreibt. Die nächsten Schritte wären die Ästhetik und das Erlebnis, gemeinhin als User-Experience beschrieben. Im letzten Schritt geht es darum, ein ganzheitliches Ökosystem zu betrachten und ganzheitliche Services zu entwickeln, teilweise abgedeckt durch Software, teilweise durch Menschen.

Nicht allen fällt der Umstieg auf neue Systeme leicht – wie kann dabei der Arbeitnehmer:innenschutz gewährleistet werden? 

Für Unternehmen ist es verlockend, die Lösungen anderer Firmen zu übernehmen. Dann merkt man aber schnell, dass der Erfolg der Digitalisierungslösung auch hier nicht von der Technik abhängt, sondern von der Passgenauigkeit zwischen Mensch und Lösung. Wenn ich von Anfang an die Menschen miteinbeziehe, die von der Lösung profitieren, dann habe ich am Ende nicht das Problem der Überforderung. Überforderung ist immer ein Alarmsignal. Es gibt dann Bedürfnisse, die uns gar nicht bewusst sind oder die nicht genug Aufmerksamkeit bekommen haben in unserem Digitalisierungsprojekt.

Es ist wichtig, zu verstehen, warum Beschäftigte unglücklich sind, was genau die Ursachen in der gegenwärtigen Digitalisierung sind, die zu dieser Überforderung führen, die zu Kündigungen, zu hohem Krankenstand, zu psychischen Belastungen führen. In größeren Unternehmen braucht es letztlich einen:eine Experten:Expertin aus dem Themenfeld Usability oder User-Experience, um diese Perspektive einzubringen. Und kleinere Unternehmen können sich zum Beispiel bei Agenturen Unterstützung suchen. 

Portraitbild Prof. Dr. Simon Nestler
Prof. Dr. Simon Nestler spricht über mensch­zentrierte Digitalisierung. Er ist Professor für Mensch-Computer-Interaktion an der Technischen Hochschule Ingolstadt und professioneller Keynote-Speaker. © Rafael Michel
Screenshot Copilot Fragen und Antworten
Diese Vorschläge lieferte der KI-gestützte Chatbot „Copilot“ von Microsoft unserer Redakteurin auf die Anfrage, welche Fragen sie Prof. Dr. Simon Nestler in einem Interview stellen könnte. Ob KI damit die ganze Arbeit getan hat, mag bezweifelt werden, wie © Microsoft Copilot

Welche Rolle spielen „New Work“, Automatisierung, fortgeschrittene Robotik und KI bei der Digitalisierung von Arbeit?

Wenn ich da wieder meine Brille der Mensch-Computer-Interaktion aufsetze, ist das Gemeinsame, dass ich mit all diesen Systemen interagiere. Aus meiner Perspektive tue ich mir leicht, da ich im ersten Schritt nicht so tief technologisch hineingehe. Eine KI ist aus Sicht der Mensch-Computer-Interaktion einfach eine Anwendung, die mich mithilfe einer neuen Technologie gut unterstützt. Und solche Software gab es auch schon vor dem KI-Zeitalter. Das Verbindende zwischen den Themen ist, dass der Mensch in irgendeiner Form in diesem „Loop“ drinnen ist. Auch Roboter agieren vielleicht eigenständig, müssen aber mit dem Menschen in Dialog treten, wenn Probleme auftreten. New Work setzt hingegen nicht bei der Digitalisierung an, sondern Digitalisierung ermöglicht New Work. 

Und wie sieht es mit digitalen Anwendungen zum Schutz der Arbeitnehmer:innen aus?

Das würde ich als Querschnitt über all diese Themen sehen, weil das Schutzbedürfnis erst daraus entsteht. Es entsteht aus Themen wie New Work, wo ich über Arbeitszeit neu nachdenken muss, es entsteht durch Robotik, wo plötzlich Computer eine physische Gefährdung für Beschäftigte darstellen, und es entsteht durch Themen wie KI, wo Menschen lernen müssen, mit neuen Strategien Informationen zu bewerten. 

Viele Menschen denken bei KI zuallererst an Chatbots wie ChatGPT. Ich habe einen KI-gestützten Chat-Assistenten gefragt, welche Fragen ich Ihnen in einem Interview stellen soll. Ist das ein Beispiel einer gelungenen Nutzung von KI im Arbeitskontext, weil die KI mir Arbeit abnimmt?

Die Art und Weise, wie Sie KI eingesetzt haben, sagt schon etwas darüber aus, woraus Ihre Arbeit besteht, nämlich gute Fragen zu stellen. KI-Anwendungen machen oft nur den ersten Schritt, denn die Frage ist nur der Anfang. Was Sie von dem Interview eigentlich wollen, sind gute Erkenntnisse. Das Spannende ist, ob die KI Ihr Ziel kennt und weiß, warum Sie das tun. 

Es ist ein bisschen wie bei „Alice im Wunderland“, wo Alice die Grinsekatze nach dem Weg fragt und die antwortet: „Das kommt ganz darauf an, wo du hinwillst“. Als Alice sagt, dass ihr das eigentlich egal sei, antwortet die Grinsekatze: „Dann ist es auch egal, welchen Weg du nimmst“. Und genauso ist das mit der KI. Wenn ich noch nicht weiß, was ich will, kann ich diese Fragen ohne Probleme nehmen, einsetzen und schauen, was passiert. Wenn ich aber weiß, worauf ich hinauswill, dann ist die Hauptarbeit ohnehin schon getan. 

Was kann KI also im Arbeitsprozess leisten?

Die KI ist gut darin, klare Lösungen auf genaue Problembeschreibungen zu geben. Meine Erwartung ist nicht, dass die KI den kreativen Part übernimmt. Sie kann vielleicht eine Art Sparring-Partnerin sein: Ich habe ein paar Gedanken, gebe das ein und schaue, was der KI dazu einfällt, dann denke ich weiter darüber nach usw. Computer werden in diesem kreativen Prozess mehr zu einem Gegenüber. 

Viele Menschen befürchten, dass durch die Nutzung von KI Jobs wegfallen könnten. 

Bei mir würden vielleicht 20 Prozent meiner Arbeit durch KI wegfallen und ich wäre sehr glücklich mit den 80 Prozent, die übrigbleiben, denn das sind die, die mir Freude bereiten. Wenn ich aber einen Job habe, wo plötzlich 80 Prozent durch KI wegfallen, ist es spannend, was passiert. Aus Unternehmensperspektive betrachtet, braucht man dann statt fünf Menschen, die nur noch 20 Prozent arbeiten, nur noch einen Menschen. Ich glaube, das Risiko dabei ist: Die eine Person trägt plötzlich die Verantwortung, die vorher fünf Menschen getragen haben. Wenn sich dann gerade die kritischen, die problematischen Fälle häufen, kann das schnell zu Überlastung führen. Denn vielleicht konnte ich meinen Job vorher nur machen, weil ich 20 Prozent schwierige Sachen und 80 Prozent einfache Sachen hatte. Damit entsteht mit dem Wegfall gar nicht unbedingt ein Optimierungspotenzial, wenn es auf Kosten der Gesundheit der Mitarbeitenden geht. 

New Work ist ein allgegenwärtiger Begriff – aber welche Aspekte umfasst New Work eigentlich?

Für mich sind das momentan zwei Dimensionen: Da ist einerseits die räumliche Entgrenzung der Arbeit, die sehr extrem getrieben wird. Man sagt nicht nur, ich bin zuhause, sondern, ich arbeite jetzt auf Fuerteventura. Das Zweite ist die zeitliche Entgrenzung. Wenn jeder von überall arbeitet, muss es auch nicht mehr von neun bis fünf Uhr sein. 

Das Entscheidende ist der Wechsel der Verantwortung. Während vorher die Arbeitgeber:innen dafür verantwortlich waren, dass ich einen vernünftigen Arbeitsplatz habe, geht diese Verantwortung auf mich über, ohne dass ich mir vielleicht bewusst bin, wie wichtig die Aspekte des Arbeitsplatzes für meine Arbeitssituation sind, für die Belastung, die ich bei der Arbeit empfinde. Das ist also die Herausforderung: New Work bringt tolle Vorteile mit sich, reduziert etwa unnötiges Pendeln. Aber wir bekommen auch neue Herausforderungen, die uns vielleicht gar nicht so bewusst sind. 

Wie wird sich die Arbeitswelt in den nächsten zehn Jahren verändern?

Ich glaube, was bleiben wird – Glück für mich –, ist das Thema der Mensch-Computer-Interaktion. Wir werden auch in zehn Jahren darüber nachdenken, wie wir gut mit Computern zusammenarbeiten können. Wir werden uns fragen müssen: Wer hat hier eigentlich die Kontrolle und wer kontrolliert wen? Die Frage der Kontrolle wird sicher bedeutsamer und auch die Frage der Verantwortung: Wenn 99 Prozent der Entscheidung von der KI kommt und ein Prozent vom Menschen – wer ist dann für die Gesamtentscheidung verantwortlich und wer wird im Zweifelsfall rechtlich zur Verantwortung gezogen? Ich glaube da werden wir noch sehr intensive Diskussionen sehen.

Zusammenfassung

Der Experte für Mensch-Computer-Interaktion Prof. Dr. Simon Nestler beschreibt im Interview das Konzept einer „menschzentrierten Digitalisierung“. Dabei wird bei den Bedürfnissen der Mitarbeitenden angeknüpft, etwa wenn eine neue Software eingeführt wird. Auch in den Bereichen „New Work“, künstliche Intelligenz (KI) und Robotik ist zentral, wie eine gute Interaktion zwischen Mensch und Computer gelingen kann.


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