AUVAfit
Zwischenmenschliche Arbeit – selbstorganisiert gestaltet
Pflegewohnheime sind Orte, an denen Heimbewohner:innen ihren „Lebensabend“ und Mitarbeiter:innen einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Lebenszeit verbringen. Insofern sind Pflegewohnheime Orte privater Lebens- und Arbeitsgestaltung. Grundlage für diesen Artikel ist eine halbtägige teilnehmende Beobachtung inkl. Interviews im März 2024 im Pflegewohnheim Peter Rosegger der Geriatrischen Gesundheitszentren der Stadt Graz, um einen Einblick in die dort praktizierte selbstorganisierte Arbeitsweise zu erhalten.
Lebens- und Arbeitsgestaltung sollten von Würde, als Oberbegriff für Autonomie, Freiheit, Eigenständigkeit und Selbstbestimmung, getragen werden5. Dazu bedarf es einer wohlwollenden, wertschätzenden, respekt- und vertrauensvollen Arbeits- und Beziehungsgestaltung zwischen Heimbewohnern:-bewohnerinnen, deren Angehörigen und Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen. Diese soll in einem ausgewogenen Verhältnis von Standardisierung und Individualisierung flexible und interaktive, das heißt selbstorganisierte Arbeitsweisen ermöglichen. Dadurch können Mitarbeiter:innen persönliche Interessen von Heimbewohnern:-bewohnerinnen erkennen und berücksichtigen. Diese so bezeichneten „individualisierten Leistungen“3 rücken mit dem dazugehörigen Verständnis von Autonomie und Selbstbestimmung (professionelle) soziale Beziehungen, Interaktion und Kommunikation ins Zentrum einer Arbeits- und Organisationsgestaltung4.
Dieses Verständnis war handlungsleitend für das Projekt „Zukunftsorientierte Organisationsstruktur im Pflegewohnheim Peter Rosegger“, das im Zeitraum von 2022 bis 2023 entlang von drei Befragungen und verschiedenen Arbeitsgestaltungsmaßnahmen umgesetzt wurde.
Ausgangslage
Vor Projektstart fühlten sich Mitarbeiter:innen vor allem durch Schwächen der Arbeitsorganisation belastet. Besonders (ungünstige) hierarchische Organisationsstrukturen samt wenig ausgeprägten Mit- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten hatten eine beschränkte Vorhersehbar- und Planbarkeit und – vor allem beim diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegepersonal – (zu) geringe Heimbewohner:innen-orientierte Handlungs- und Gestaltungsspielräume zur Folge. Ferner zeigten sich Schwächen in der Kommunikation, der informativen Versorgung, hinsichtlich der Qualität von Besprechungen und folglich in der Zusammenarbeit und der sozialen (Team-)Integration. Auswirkungen waren gehäufte Fehlzeiten, eine hohe externe Personalfluktuation sowie Erschöpfungszustände bei Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen.
Arbeitsgestaltungsmaßnahmen und Erfolgsfaktoren
Eine zentrale Arbeitsgestaltungsmaßnahme war die Neuregelung der Organisationsabläufe durch eine soziokratische Organisationsform nach Strauch6 in Form einer „Kreisstruktur“ mit mehreren Teams. Diese Organisationsabläufe, ausgestattet mit klaren gemeinsamen Werten, Zielen und Leitsätzen sowie (Team-)Regeln zur Funktions- und Arbeitsweise ermöglichen eine engmaschige Kommunikation über alle Organisationsabläufe. Damit wird ein kommunikativer Rahmen für informative Kommunikationsprozesse und Austauschmöglichkeiten, unter anderem auch hinsichtlich eigener Emotionen und emotionaler Anteile bei der (Zusammen-)Arbeit geschaffen. Dies stellt eine Grundlage für Selbstorganisation dar2. Teammitgliedern bietet dieser kommunikative Rahmen die Möglichkeit, ihre Erwartungshaltungen, Aufgabenbereiche und Rollenverteilungen bezüglich einer – auch berufsgruppenübergreifenden – Zusammenarbeit zu finden und miteinander abzugleichen.
„Neue“ digitalisierte Tools (MS OneNote) ermöglichen eine gute Information als Grundlage für partizipative Entscheidungsfindungen auf allen Ebenen. Das unterstützt Austauschmöglichkeiten – auch über eigene emotionale Anteile der Arbeit – als Grundlage für authentische soziale Beziehungen zwischen Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen untereinander und zwischen Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen und Heimbewohnern:-bewohnerinnen.
Durch eine konsequente Thematisierung von Heimbewohner:innen-orientierten Inhalten (in unterschiedlichen Settings und kommunikativen Formaten) werden auch „Social Skills“ wie „Self-Awareness“, Reflexionsfähigkeit, Perspektivenwechsel, Wertepluralismus sowie ein guter Umgang mit Widersprüchen, Ungewissheiten und Mehrdeutigkeiten gefördert. Aufkommende Fragen können so eher aufgegriffen, Arbeitsprozesse kritisch(er) hinterfragt und selbstorganisiert(er) gesteuert werden. Jungen Kollegen:Kolleginnen und Berufseinsteigern:-einsteigerinnen kann damit auch Erfahrungswissen besser vermittelt werden, was Vertrauen und Bindung an die Tätigkeiten, Werte, Kollegen:Kolleginnen und vor allem auch Heimbewohner:innen fördert.
Im Zuge der Einführung eines individualisierten und flexiblen Dienstplanmodells und eines neu gestalteten Heimbewohner:innen-orientierten Tages- und Arbeitsablaufs wurde eine Grundlage für eine relativ offene Planung, geringe Standardisierung und ausreichend zeitliche Freiräume, vor allem für pflegerische Tätigkeiten, geschaffen. Bezugspflege als Grundlage für eine günstige selbstorganisierte Arbeitsgestaltung wird damit unterstützt1, die Arbeit erscheint dadurch bedeutungsvoller zu werden.
Ermöglicht wurde dies durch die konsequente Partizipation aller Mitarbeiter:innen in sämtlichen Entscheidungsprozessen samt einem hohen Grad an Transparenz bei Entscheidungen. Das damit hergestellte Vertrauen wurde durch eine begleitende Evaluierung mit dem Versprechen an die Teammitglieder, dass Änderungen nur beibehalten werden, wenn sie eine Verbesserung darstellen, sowie durch begleitende Teamentwicklungen ermöglicht und gefestigt. Die Ergebnisoffenheit auf allen Ebenen bei gleichzeitig konsequenter Vermittlung eines „großen gemeinsamen Bildes“ und die Herausarbeitung der Vorteile durch Veränderungen unterstützten überdies die soziokratische Arbeits- und Funktionsweise im Pflegewohnheim Peter Rosegger.
Führung fokussiert im beschriebenen Projekt vor allem auf eine autonomiefördernde strategische Funktion, indem Mitarbeiter:innen möglichst weitreichend in unternehmensbezogene Entscheidungen miteinbezogen werden. Hierarchische Linienstrukturen bleiben dabei erhalten. Die bedeutsamsten Erfolgsfaktoren bilden empathisches Verstehen und Achtsamkeit in Bezug auf psycho-soziale und emotionale Inhalte eines sozialen Miteinanders von Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen und vor allem auch mit Heimbewohnern:-bewohnerinnen. Entlang einer guten Balance zwischen Regelungen und Freiräumen, die nicht nur einer instrumentell-funktionalen, sondern vor allem auch einer sozialen, verständigungsorientierten Rationalität entsprechen, wird die für eine Selbstorganisation notwendige Selbstbestimmung der Mitarbeiter:innen gestärkt. Dies kann durch soziale Unterstützung und positives Feedback hinsichtlich der Wertigkeit der verrichteten Tätigkeiten erreicht werden. Damit werden eine sinnstiftende Kollektividentität und kollektive Intelligenz ermöglicht sowie Möglichkeiten der individuellen Einflussnahme und Kontrolle als menschliche Basismotive geschaffen.
Effekte und Wirkungen
Zentrale Effekte waren die Reduktion der Fehlzeiten und der externen Personalfluktuation. Zentrale Wirkungen waren eine erhöhte Vorherseh- und Planbarkeit durch eine Dienstplansicherheit im Zuge der Optimierung der Personalplanung und Diensteinteilungen. Die Zufriedenheit der Mitarbeiter:innen bei der Erfüllung von Dienstplanwünschen ist gestiegen, die Work-Life-Balance und Vereinbarkeit von Beruf und Familie wurden verbessert. Auch gab es einen Rückgang von Beschwerden von Heimbewohnern:-bewohnerinnen und deren Angehörigen, die auf ein erhebliches Fehlverhalten von Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen hingewiesen hätten. Überdies konnten weniger hierarchische Unstimmigkeiten und Kränkungen, eine Steigerung der Qualität von Besprechungen sowie die Bereitschaft der Mitarbeiter:innen zur aktiven Mitgestaltung festgestellt werden. Die Heimbewohner:innen-Orientierung und Bezugspflege konnten – unter anderem durch fixe Arbeitsteams – gestärkt werden. Daraus leiteten sich ein erhöhtes Kompetenzerleben, Verbundenheit mit Organisation, Kollegen:Kolleginnen und Heimbewohnern:-bewohnerinnen sowie eine bessere soziale Integration in Arbeitsteams ab.
Fazit
Für eine Attraktivierung und gute Funktionalität beruflicher Tätigkeiten in Einrichtungen der (vollstationären) geriatrischen Langzeitpflege gilt es, gute Arbeitsbedingungen zu gestalten und dabei vor allem auf selbstorganisierte Arbeitsweisen zurückzugreifen. Dabei soll vor allem auf organisationskulturelle und -strukturelle Merkmale sowie die Beziehungsarbeit mit Heimbewohnern:-bewohnerinnen (und deren Angehörigen) und auch Kollegen:Kolleginnen fokussiert werden.
Dazu bietet sich unter anderem das „Modell einer sozial-aktivierenden Arbeitsgestaltung“ an. Dabei wird auf verschiedene Rahmenbedingungen wie Unternehmenskultur, Führung, fachliche und vor allem sozial-emotionale Kompetenzen von Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen und innerbetriebliche soziale Beziehungen Bezug genommen.
Drei Prinzipien erscheinen in diesem Modell als zentral: eine Heimbewohner:innen-Orientierung, gute Möglichkeiten einer selbstbestimmten und selbstorganisierten Arbeitsweise und ein geeigneter kommunikativer Rahmen, der die Umsetzung dieser Arbeitsweisen unterstützt1. Das ermöglicht eine aktive(re) Rolle der Mitarbeiter:innen bei der (Mit-)Gestaltung der Arbeitsbedingungen, was zum einen den Spielraum hinsichtlich der (kommunikativen und Heimbewohner:innen-orientierten) Arbeitsgestaltung und -organisation erweitert und damit die Identifikation mit den Tätigkeiten erhöht und deren professionelle Verrichtung gewährleistet. Eine solche Arbeitsgestaltung kann auch helfen, die Beziehungsarbeit und damit auch die Qualität und Effizienz der Arbeit zu steigern und die Arbeitsbelastungen der Mitarbeiter:innen zu reduzieren4,7.
Bei Interesse an einem Austausch zum oben beschriebenen Projekt wenden Sie sich bitte an den Pflegedienstleiter des Pflegewohnheims Peter Rosegger, Herrn Christoph Kocher, MSc oder an die Stationsleitung, Frau Amela Ramic.
Bei Interesse an einer arbeitspsychologischen Beratung oder an AUVAfit wenden Sie sich bitte an Herrn MMag. Peter Eckerstorfer, MPH.
Literaturverzeichnis
- [1] Eckerstorfer, P. (2024). Der Mehrwert zwischenmenschlich gestalteter Arbeit in Pflegeheimen. Pflege Professionell - Das Fachmagazin. 34/2024. S. 87-97. https://markusgolla.at/wp-content/uploads/2024/04/ausgabe-pp34.pdf
- [2] Kleve, H. (2020). Die Rückkehr des „Menschlichen“: Integration des Psycho-Sozialen, Emotionalen und Elementaren als Voraussetzung für gelingende Selbstorganisation. In: O. Geramanis & S. Hutmacher (Hrsg.). Der Mensch in der Selbstorganisation. Heidelberg: Springer-Gabler. S. 247-260. DOI 10.1007/978-3-658-27048-3
- [3] Schalek, K. (2020). Pflegebedarf. Working paper der Arbeiterkammer Wien Abteilung Gesundheitsberuferecht und Pflegepolitik. https://wien.arbeiterkammer.at/service/studienundzeitschriften/studien/gesundheitundpflege/Working-Paper_Pflegebedarf_2020-12.pdf aufgerufen am 20.06.2024
- [4] Schalek, K. (2024). Qualität in der stationären Langzeitbetreuung und -pflege. Beitrag zur Entwicklung eines Qualitätskonzepts. Working paper der Arbeiterkammer Wien Abteilung Gesundheitsberuferecht und Pflegepolitik. https://emedien.arbeiterkammer.at/viewer/api/v1/records/AC17259210/files/source/AC17259210.pdf aufgerufen am 28.08.2024
- [5] Schlögl-Flierl, K. & Schneider, W. (2021). Selbstbestimmtes Leben im Pflegeheim (SeLeP) – Die Würde des pflegebedürftigen Menschen in der letzten Lebensphase. https://pflegenetzwerk-deutschland.de/fileadmin/files/Downloads/pflegenetzwerk-deutschland-selep-ergebnisbericht.pdf aufgerufen am 29.06.2024
- [6] Strauch, B. (2022). Soziokratie. Organisationsstrukturen zur Stärkung von Beteiligung und Mitverantwortung des Einzelnen in Unternehmen, Politik und Gesellschaft. 2., komplett überarbeitete und erweiterte Auflage. München: Vahlen. DOI 10.15358/9783800654178
- [7] Weishaupt, S. (2017). Perspektiven für Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik. In: F. Böhle (Hrsg). Arbeit als Subjektivierendes Handeln. Handlungsfähigkeit bei Unwägbarkeiten und Ungewissheit. Berlin: Springer. S. 691-699. DOI 10.1007/978-3-658-14983-3
Zusammenfassung
Pflegewohnheime sind Orte privater Lebens- und Arbeitsgestaltung, bestimmt von Würde als Oberbegriff für Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Dazu ist eine Arbeits- und Beziehungsgestaltung in einem ausgewogenen Verhältnis von Standardisierung und Individualisierung als Basis „individualisierter Leistungen“ nötig. Damit werden (professionelle) soziale Beziehungen, Interaktion und Kommunikation ermöglicht.