CLP-Verordnung
Neue CLP-Gefahrenklasse: Endokrine Disruption
Endokrin schädigende Wirkungen auf die menschliche Gesundheit und auf die Umwelt bilden neue Gefahrenklassen in der CLP-Verordnung. Erfüllen chemische Stoffe oder Gemische die entsprechenden Kriterien, sind sie dahingehend einzustufen und zu kennzeichnen, wenn sie in Verkehr gebracht werden.
Die rechtliche Grundlage für die neue Gefahrenklasse bildet die delegierte Verordnung (EU) 2023/707, die am 31. März 2023 im EU-Amtsblatt kundgemacht wurde. Diese Verordnung führt – neben anderen rein umweltbezogenen Gefahrenklassen – die neue Gefahrenklasse 3.11 „Endokrine Disruption mit Wirkung auf die menschliche Gesundheit“ in Anhang I der CLP-Verordnung ein. Die CLP-Verordnung enthält Regelungen zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien (Stoffe und Gemische) entsprechend der von ihnen ausgehenden
- physikalischen Gefahren,
- Gefahren für die Gesundheit und
- Gefahren für die Umwelt.
Angaben dazu sind am Etikett einer Chemikalie zu finden sowie im jeweiligen Sicherheitsdatenblatt. Diese Informationen bilden auch eine wichtige Grundlage für die Arbeitsplatz- bzw. Arbeitsstoffevaluierung im Arbeitnehmer:innenschutz.
Was sind „endokrine Disruptoren“?
Endokrin aktive Substanzen (EAS) können entweder vom Menschen hergestellte Verbindungen oder natürlich vorkommende Stoffe sein. Sie können mit dem Hormonsystem von Menschen und Tieren interagieren. Einige endokrin aktive Substanzen werden wegen ihrer Wirkung absichtlich in der Medizin verwendet (z. B. Medikamente zur Verhütung). Führt eine solche Wechselwirkung (endokrine Aktivität) zu nachteiligen bzw. schädigenden Auswirkungen, spricht man von endokrinen Disruptoren (ED).
Hormone sind Teil des Hormonsystems (endokrines System). Sie fungieren als chemische Botenstoffe und können in ihren Zielorganen bestimmte Reaktionen auslösen. Sie werden in bestimmten Drüsen, wie z. B. Schilddrüse, Bauchspeicheldrüse oder Keimdrüsen (Eierstöcke, Hoden), gebildet und in die Blutbahn abgegeben und gelangen so zu ihren Zielorganen. Diese müssen spezielle Rezeptoren für ein Hormon aufweisen, um darauf reagieren zu können. Hormone und ihre Rezeptoren reagieren nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip: Das Hormon und der dazugehörige Rezeptor müssen genau zueinander passen, um eine biologische Wirkung auslösen zu können (Abb. 1). Die Wirkung von Hormonen auf ihre Zielorgane ist sehr spezifisch. Ein und dasselbe Hormon kann je nach Organ und Lebensphase eine sehr unterschiedliche Wirkung haben.
Das endokrine System ist essenziell für das reibungslose Funktionieren unseres Körpers und ebenso wichtig für Fortpflanzung, Wachstum und Entwicklung. Daraus ist ersichtlich, dass ED nicht nur unmittelbar auf das betroffene Individuum wirken, sondern auch dessen Nachkommen und damit auch Teile oder die gesamte Population betreffen können.
Beispiele für die Regulation von biologischen Prozessen über Hormonsysteme sind:
- Blutdruckregulation
- Stoffwechselsteuerung
- wie z. B. Blutzucker
- Körpertemperaturregulation
- Regulation des Schlaf-Wach-Rhythmus
- Regulation von Emotionen und Verhalten
- Körperwachstum
- Fortpflanzung
Wie wirken endokrine Disruptoren?
Endokrine Disruptoren (ED) können auf sehr unterschiedliche Weise in das Hormonsystem eingreifen. Sie können wie körpereigene Hormone wirken und deren Wirkung nachahmen (imitieren). Die natürliche Hormonwirkung kann jedoch auch blockiert oder gehemmt werden (Abb. 1).
Andere ED können die Produktion, die Abgabe des Hormons ins Blut, die Verteilung im Körper oder den Abbau von Hormonen beeinträchtigen. Von manchen ED ist bekannt, dass sie epigenetische Veränderungen (Anpassungen der Genaktivität, die nicht die DNA-Sequenz verändern, sondern durch Umwelteinflüsse und Lebensstil gesteuert werden) in hormonproduzierenden oder hormonsensitiven Zellen hervorrufen, speziell in der Kindheit und im ungeborenen Kind.
Bestimmte ED können mehr als nur ein Hormon in seiner Wirkung stören. Die Empfindlichkeit für ED ist während der Gewebeentwicklung am größten. Das bedeutet, dass Kinder bis zur Pubertät (inkl. das sich im Mutterleib entwickelnde Kind) bei einer niedrigeren Dosis beeinträchtigt werden können als Erwachsene.
Die normale endokrine Funktion des Körpers geht mit sehr geringen Veränderungen des Hormonspiegels einher. Diese sehr geringen Veränderungen können jedoch deutliche Auswirkungen auf die Körperfunktion und die Entwicklung haben. Daraus kann angenommen werden, dass selbst eine geringe Exposition gegenüber endokrin wirksamen Chemikalien das Hormonsystem des Körpers empfindlich verändern und zu gesundheitlichen Problemen führen kann. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass selbst niedrige Dosen von ED gesundheitsschädigend sein können.
Welche Erkrankungen oder Störungen können endokrine Disruptoren auslösen oder fördern?
Eine weltweite Zunahme von endokrin bedingten Erkrankungen, sowohl beim Menschen wie auch in der Tierwelt (WHO), und die Anreicherung von endokrin aktiven Substanzen in der Umwelt haben zur Annahme geführt, dass es einen Zusammenhang zwischen Exposition und endokrin bedingten Erkrankungen gibt.
Störungen des Hormonsystems durch ED können zu einer Vielzahl von Gesundheitsproblemen und Erkrankungen führen. Im Folgenden sind einige der wichtigsten möglichen gesundheitlichen Auswirkungen aufgeführt:
- Männliche Fortpflanzungsstörungen: Eine niedrige Spermienqualität kann die Fähigkeit zur Zeugung von Kindern beeinträchtigen. Genitale Fehlbildungen: gestörter Hodenabstieg (Kryptorchismus) und Penisfehlbildungen (Hypospadie).
- Weibliche Fortpflanzungsstörungen: Schwangerschaftskomplikationen können Frühgeburten und niedriges Geburtsgewicht umfassen.
- Entwicklungsstörungen: Verhaltensstörungen und kognitive Defizite im Zusammenhang mit einer Veränderung der Schilddrüsenhormonwirkung bei Kindern können Anzeichen einer gestörten Gehirnentwicklung sein. Frühere Brustentwicklung bei jungen Mädchen, was einen Risikofaktor für Brustkrebs darstellt. Abnormale Brustentwicklung bei Buben. Genitale Fehlbildungen beim männlichen Geschlecht (siehe oben).
- Hormonbedingte Krebserkrankungen: Brust-, Gebärmutter-, Eierstock-, Prostata-, Hoden- und Schilddrüsenkrebs.
- Stoffwechselstörungen: Fettleibigkeit, metabolisches Syndrom und Typ-2-Diabetes.
- Knochengesundheit: verminderte Knochendichte mit erhöhtem Risiko für Knochenbrüche.
- Immunfunktion: herabgesetzte Immunantwort auf Impfungen besonders bei Kindern. Schwächung des Immunsystems.
CLP-Einstufungskriterien für Stoffe und Gemische
Nach den Begriffsbestimmungen der CLP-Verordnung verändern endokrine Disruptoren eine oder mehrere Funktionen des Hormonsystems und lösen damit in einem intakten Organismus, seiner Nachkommenschaft, in Populationen oder Teilpopulationen schädliche Wirkungen aus. Für die Einstufung von Stoffen in diese Gefahrenklasse ist der Zusammenhang zwischen endokriner Aktivität und einer schädlichen Wirkung relevant (Abb. 2). Unterteilt wird diese Gefahrenklasse in 2 Unterkategorien:
- Kategorie 1: bekannte / wahrscheinlich endokrin schädigende Wirkung („eindeutig“)
- Kategorie 2: vermutlich endokrin schädigende Wirkung („verdächtig“)
Die Einstufung von Gemischen mit Stoffbestandteilen, die als endokrine Disruptoren für die menschliche Gesundheit gelten, wird zumeist unter Anwendung von allgemeinen Konzentrationsgrenzwerten erfolgen (siehe Tab. 1).
Als Hilfestellung zur Einstufung und Kennzeichnung überarbeitet die europäische Chemikalienagentur ECHA die Leitlinie zur Anwendung der CLP-Kriterien in Bezug auf die neuen Gefahrenklassen. Die Leitlinie wird nach Fertigstellung auf der Website der ECHA veröffentlicht werden (echa.europa.eu).
Wie sind solche Chemikalien nach CLP gekennzeichnet?
Ob ein Stoff oder Gemisch als endokrin schädigend für die menschliche Gesundheit eingestuft wurde, ist an der entsprechenden Kennzeichnung (EUH-Satz) zu erkennen (Tab. 2). Ein entsprechendes CLP-Piktogramm gibt es in diesem Fall nicht, da die neue Gefahrenklasse im internationalen GHS-System noch keine Entsprechung findet.
Ab wann ist die neue Einstufung / Kennzeichnung anzuwenden?
Für die neue Einstufung bzw. Kennzeichnung gibt es verschiedene Übergangsfristen. Dabei wird zwischen Stoffen und Gemischen unterschieden sowie, zu welchem Zeitpunkt diese in Verkehr gebracht wurden (Abb. 3). Die neue Gefahrenklasse kann jedoch schon jetzt bzw. vor diesen Übergangsfristen freiwillig angewandt werden. Dies gilt auch für die neuen umweltbezogenen Gefahrenklassen: endokrine Disruption – Umwelt, (sehr) persistent – (sehr) bioakkumulierend – toxisch, (sehr) persistent – (sehr) mobil – toxisch.
In den nächsten Jahren ist damit zu rechnen, dass die neue Einstufung und Kennzeichnung auch auf Gebinden und in Sicherheitsdatenblättern am Arbeitsplatz zu finden sein wird.
Bedeutung der neuen Gefahrenklasse für die Verwendung am Arbeitsplatz
Substanzen mit endokrin schädigenden Eigenschaften können auch an Arbeitsplätzen zu finden sein bzw. dort verwendet werden und zu einer Exposition von Arbeitnehmern:Arbeitnehmerinnen führen (z. B. Kunststoffherstellung, Kosmetika, Chemikalien, Arzneistoffe etc.). Es ist stark zu vermuten, dass die neue Gefahrenklasse auch in § 40 ASchG (gefährliche Arbeitsstoffe) nachgezogen wird. So gilt ein derart eingestufter Stoff oder ein derartig eingestuftes Gemisch als gefährlicher Arbeitsstoff im Sinne des ASchG. Die „neue Gefahr“ ist im Zuge der Arbeitsplatz- bzw. Arbeitsstoffevaluierung zu berücksichtigen und entsprechende Maßnahmen nach dem bekannten STOP-Prinzip sind gegebenenfalls abzuleiten. Aus heutiger Sicht weisen Stoffe mit bekannter endokrin schädigender Wirkung oft bereits andere gesundheitsschädigende Gefahren wie beispielsweise krebserzeugend, mutagen, reproduktionstoxisch auf. In diesem Fall sollten bereits Maßnahmen getroffen worden sein.
Gibt es in anderen Bereichen Regelungen zu endokrinen Disruptoren?
Endokrin schädigende Eigenschaften finden bereits Berücksichtigung in anderen Rechtsmaterien wie etwa im Biozid- oder Pestizidrecht, wo der Einsatz solcher identifizierten Stoffe beschränkt ist, sowie auch im Chemikalienrecht in Bezug auf das REACH-Verfahren zur Aufnahme in Anhang XIV (Verzeichnis zulassungspflichtiger Stoffe) oder im Sicherheitsdatenblatt.
Derzeit sind wenige Stoffe im Zuge des REACH-Aufnahmeverfahrens für zulassungspflichtige Stoffe als endokrin schädigend identifiziert und von der ECHA auf die Kandidatenliste der besonders besorgniserregenden Stoffe (SVHC: Substances of Very High Concern) gesetzt worden, wie etwa Bisphenol A und B oder einige Phthalate.
Weiters gibt es noch andere öffentlich zugängliche Quellen in Bezug auf die endokrin schädigende Wirkung von Stoffen. Dazu gehören beispielsweise die „Endocrine Disruptor Lists“ (www.edlists.org). Diese Listen informieren über bereits identifizierte endokrine Disruptoren sowie über jene, die sich in Evaluierung befinden. Darin sind bereits mehrere Stoffe als endokrin schädigend identifiziert. Publiziert werden sie von Behörden aus Belgien, Dänemark, Frankreich, den Niederlanden, Spanien und Schweden.
Aufgrund der neuen CLP-Einstufungsverpflichtung wird die Betrachtung und auch Identifizierung von endokrin schädigenden Stoffen künftig vorangetrieben werden.
Quellen
- Delegierte Verordnung (EU) 2023 / 707 vom 19.12.2022, ABl. L 93
- CLP-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 1272 / 2008 idF Delegierte Verordnung (EU) 2023 / 1434
- ECHA, Neue Gefahrenklassen, echa.europa.eu/de/new-hazard-classes-2023 (23.9.2023)
- Nies E., Endokrine Disruptoren – Informationen für eine betriebliche Gefährdungsermittlung, Gefahrstoffe – Reinhaltung der Luft, 2017
- National Institute of Environmental Health Science, niehs.nih.gov/health/topics/agents/endocrine (23.9.2023)
- Bergman A. et al. (Editor), State of the science of endocrine disrupting chemicals 2012, who.int/publications/i/item/9789241505031 (23.9.2024)
Zusammenfassung
Die endokrine Disruption ist eine neue CLP-Gefahrenklasse. Chemikalien mit diesen Eigenschaften sind entsprechend einzustufen und zu kennzeichnen. In der Arbeitsstoffevaluierung ist diese Gefahr zu berücksichtigen. Gesundheitsprobleme können beispielsweise durch Störung der Entwicklung des Stoffwechsels, durch Beeinträchtigung der Fortpflanzung oder durch Förderung von Krebserkrankungen entstehen.