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Digitalisierung

Extended Reality zur Arbeitsplatzoptimierung

Extended Reality (XR) kann bei der ergonomischen Optimierung eines Industrie-Arbeits­platzes zur Qualitätsprüfung von Motorenteilen sehr gut eingesetzt werden – das hat eine Studie von AIT Austrian Institute of Technology & AUVA im Auftrag der Arbeiterkammer Tirol unter Beweis gestellt.

Mitarbeiter mit VR-Headset bei der Sichtkontrolle von Werkstücken in blauen Kisten, umgeben von technischem Equipment, in einer Werkstattumgebung.
Mitarbeiter von Innio bei der Sichtkontrolle der Werk­stücke in der Xtended Reality © Norbert Lechner

Metalltechniker:innen, Maschinenbauer:innen, Elektrotechniker:innen oder Mechatroniker:innen – sie alle arbeiten bei INNIO Jenbacher, dem führenden Tiroler Hersteller von Motoren für Generatoren und Kraft-Wärme- und Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungsanlagen im Leistungsbereich von 250 kW bis 10,4 MW. INNIO Jenbacher gehört zur INNIO Group. Mit den Produktmarken Jenbacher und Waukesha sowie seiner digitalen Plattform myPlant bietet INNIO innovative Systeme für Energieerzeugung und Verdichtung. INNIO hat seinen Hauptsitz in Jenbach (Tirol) und verfügt über weitere Hauptbetriebsstätten in Waukesha (Wisconsin, USA) und Welland (Ontario, Kanada).

Das Wohl der Mitarbeiter:innen in der Motorenproduktion ist INNIO ein wichtiges Anliegen. Allein am Standort in Jenbach sind rund 2.000 Arbeitskräfte tätig. Beim Projekt „Digitale Evaluation von Industriearbeitsplätzen“ – initiiert von der AUVA, durchgeführt in Kooperation mit dem Austrian Institute of Technology (AIT) und unterstützt von der Arbeiterkammer Tirol – wurden Potenziale und Anwendungsfelder von Extended Reality (XR) zur Arbeitsplatzoptimierung entwickelt und evaluiert. XR bedeutet in diesem Fall die Kombination eines physischen Arbeitsplatzes vor Ort bei INNIO Jenbacher mit einem simulierten Set-up der Arbeitsumgebung.

Begriffsbestimmung „Xtended Reality“ (XR)

XR bezieht sich auf alle kombinierten realen und virtuellen Umgebungen und Mensch-Maschine-Interaktionen und ist sozusagen ein Sammelbecken für repräsentative Formen wie Augmented Reality (AR), Virtual Reality (VR) sowie die zwischen ihnen interpolierenden Bereiche wie Mixed Reality (MR). Erzeugt werden sie durch Computertechnologie. 

In der Augmented Reality werden der realen Welt virtuelle Informationen und Objekte überlagert. Diese Erfahrung bereichert die reale Welt mit digitalen Inhalten wie Bildern, Grafiken oder Animationen, auf die mittels AR-Brille oder Smartphones und Tablets zugegriffen wird. Die User:innen sind nicht von der realen Welt isoliert.

In der Virtual Reality (VR) tauchen die User:innen hingegen in eine gänzlich virtuelle Welt ein, die nichts mehr mit der realen Welt zu tun hat. In der Mixed Reality (MR) existieren digitale und real existierende Objekte gleichzeitig und können in Echtzeit miteinander interagieren. 

Von der Arbeitsplatzanalyse zur XR-Simulation 

Erster Schritt der Studie war eine umfassende ergonomische Arbeitsplatzanalyse eines Industrie-Arbeitsplatzes (Motorenteile-Prüfung und Erfassung im System), die bei INNIO durchgeführt wurde. Die Leitung der Evaluierung mit der messtechnischen Untersuchung lag bei Mag. Norbert Lechner, Ergonomieexperte der AUVA, während für die Worker-Experience-Untersuchung wissenschaftliche Mitarbeiter:innen des Center for Technology Experience des AIT verantwortlich waren. Auf die Arbeitsplatzanalyse folgte die Erarbeitung eines optimierten Set-ups für den Arbeitsablauf. Danach ging es darum, sowohl den klassischen, bisherigen Arbeitsprozess als auch eine optimierte Arbeitsumgebung in einer XR-Umgebung abzubilden. In einer umfassenden Studie, bei der von Anfang an die Mitarbeiter:innen einbezogen waren, wurde schließlich überprüft, wie gut sich die Optimierung von Arbeitsplätzen mittels XR durchführen und auch untersuchen lässt.

Person mit VR-Headset führt eine Sucheingabe von Werkstücken in eine Datenbank durch, während eine zweite Person Kabel hält und eine dritte die Szene beobachtet. Im Hintergrund ein Monitor mit der virtuellen Umgebung.
Proband bei der Such­eingabe von Werk­stücken in die Datenbank, durch­geführt in Xtended Reality © Norbert Lechner

Ablauf der Arbeitsplatzanalyse

Für die Arbeitsplatzanalyse wurde ein typischer Arbeitsprozess bei einem INNIO-Mitarbeiter in drei Durchgängen vom Projektteam evaluiert. Konkret ging es um die Identifikation und Qualitätsüberprüfung von Motorenteilen. Die dabei im Detail untersuchten Arbeitsschritte waren wie folgt: 

  • Sichtkontrolle und Zählen der Werkstücke 
  • Suche des Datensatzes zum Werkstück in der Datenbank
  • Ausdrucken des zugehörigen QR-Codes
  • Anbringen des QR-Codes auf dem zugehörigen Werkstück 

Für die ergonomische Analyse wurden die Bewegungen mittels eines Motion-Capture-Systems (Inertialmesssensoren, Videokamera und Synchronisationssoftware) analysiert. Anschließend wurde ein Work-Experience-Interview mit den Mitarbeitern:Mitarbeiterinnen durchgeführt. Die Studienteilnehmer:innen wurden dabei zur Wahrnehmung ihres Arbeitsplatzes befragt, ausgehend von Themen und Fragen des Work Design Questionnaire von Stegmann et al. (2010).

Analyse zeigt Verbesserungspotenzial

Bei der ergonomischen Arbeitsplatzanalyse wurden die Körperbewegungen und -haltungen insbesondere des Rumpfes (Vorneigung, Seitneigung und Rotation) sowie die der Arme in horizontaler und vertikaler Ebene über definierte Arbeitsprozesse erhoben. Die Analyse veranschaulichte mit durch Inertialmesssensoren erhobenen objektiven Daten kritische Haltungen, die sich vor allem durch bodennahes Arbeiten ergaben. Statische Vorneigungen sowie große Greifräume wurden als zu beseitigende Gefährdungspotenziale identifiziert. Auffällig war zudem, dass sich die Testpersonen vor allem zu den am Boden stehenden Paletten mit den Motorteilen in beträchtlicher Häufigkeit hinunterbeugen mussten.

In einem nächsten Schritt wurden Maßnahmen überlegt, die zu einer ergonomischeren Arbeitsgestaltung beitragen konnten. Die Ergebnisse der Arbeitsplatzanalyse ergaben einige Verbesserungspotenziale, die einerseits für einen optimierten Arbeitsplatzaufbau und andererseits für die Entwicklung des XR-Szenarios genutzt wurden. Im konkreten Fall konnten die Hotspots mit höhenverstellbaren Lösungen wie etwa Scheren- oder Drehhubtischen leicht adaptiert werden. Anpassungen der Sitz- und Stehmöglichkeit wurden ebenfalls vorgenommen. 

In ihren Interviews gaben die Mitarbeiter:innen wertvollen Input zur Maßnahmenfindung. Die Tätigkeit selbst wurde von ihnen als nicht übermäßig kompliziert wahrgenommen. Allerdings gaben viele an, dass ihnen bei der Sichtkontrolle  die Entscheidung nicht ganz leicht fällt, ob bestimmte Teile wiederverwendbar sind oder nicht. Auch Verschiedenartigkeit und Zustand der Teile (welcher Typ, neuwertig, starke Abnützungsspuren, verschmutzt) erschweren eine schnelle Beurteilung und Entscheidung über Weiterbenutzung oder Entsorgung. Dieser Umstand führt immer wieder zu längerer Verweildauer in bestimmten Körperhaltungen. Würden diese über mehrere Sekunden anhalten, spricht man auch von sogenannten Zwangshaltungen, die für diese Tätigkeiten eingenommen werden müssen. Diesen Terminus verwendet man, wenn eine Tätigkeit, Arbeitsplatzgestaltung oder ein Arbeitsmittel eine bestimmte unnatürliche Körperhaltung erfordert oder nur geringe bzw. unergonomische Bewegungsmöglichkeiten zulässt. Dabei handelt es sich häufig um extreme Haltungen und Gelenkwinkelstellungen, die das Muskel-Skelett-System stark belasten, zu Schmerzen und Ermüdung sowie verminderter Bewegungskontrolle, zu Konzentrationsmangel, erhöhtem Fehlerrisiko und letztlich auch Leistungs- und Qualitätseinbußen führen können. 

Person mit VR-Headset hebt virtuell ein Motorenteil mit einem virtuellen Kran und Lastaufnahmemittel, während auf einem Monitor die Simulation des Vorgangs dargestellt wird.
Sichtkontrolle und Zählen der Werkstücke im virtuellen Raum © Norbert Lechner

Simulation in XR: Zwei Szenarien

Um die Frage zu beantworten, inwieweit Xtended Reality zur Planung und Simulation von Industriearbeitsplätzen herangezogen werden kann, wurden in weiterer Folge virtuelle Abbildungen und realitätsnahe Szenarien erstellt, in denen die im normalen Arbeitsalltag durchzuführenden Tätigkeiten auszuführen waren. Um einen optimalen Vergleich der Bewegungsabläufe zu ermöglichen, wurde der Arbeitsplatz einerseits in seiner klassischen, traditionellen Weise und anderseits in der optimierten Weise in XR simuliert. 

Die Versuchsdurchführung erfolgte in einem als Labor umgestalteten Seminarraum bei INNIO. Die Aufgabe der Mitarbeiter:innen bestand darin, Motorenbauteile zu sichten und zu kontrollieren, in der Datenbank zu suchen und mittels QR-Code-Etikett zu erfassen bzw. zu bekleben. Der signifikanteste Unterschied: Während im traditionellen Arbeitsprozedere die Bauteile am Boden lagen, wurden die Bauteile im optimierten Szenario auf einen Beistelltisch gehoben und kontinuierlich angeliefert. In der Studie wurden die Aufgabenbearbeitungsdauer pro Person, die Arbeitsplatzvariante und die ergonomischen Daten erhoben und Video-Aufnahmen der XR-Umgebung erstellt.

Schon auf den ersten Blick war ersichtlich, dass sich die im virtuellen Raum des neu gestalteten Arbeitsplatzes agierenden Mitarbeiter:innen insgesamt länger in ergonomisch unkritischen Bereichen als unter ihren bisherigen Bedingungen bewegten. Die Nutzung der XR-Headsets war für einige zwar anfangs ungewohnt, aber nach kurzer Eingewöhnungszeit kamen die beteiligten Mitarbeiter:innen mit der Kombination aus realen und virtuellen Inhalten gut zurecht.

Ergebnisse der XR-Studie

Die Auswirkungen einer optimierten Arbeitsumgebung lassen sich mit XR sehr gut beobachten und untersuchen. Im Vergleich zur Ausgangssituation wurden in der optimierten Version Verbesserungen in den folgenden Bereichen festgestellt: Die Bearbeitungszeit war kürzer, es wurde weniger in kritischen Körperhaltungen gearbeitet, Zwangshaltungen wurden reduziert, Bewegungsabläufe optimiert und die subjektiv empfundene physische Beanspruchung war in Summe geringer. XR-Technologien können daher sehr hilfreich sein, um einerseits frühzeitig in der Arbeitsplatzgestaltung einzugreifen und diese vor realen Veränderungen virtuell zu simulieren und zu exerzieren, oder andererseits neue Konstellationen von technischen Hilfsmitteln auszuprobieren und zu vergleichen. Mithilfe von XR gelingt es sehr gut, eine sehr immersive und realistische Abbildung eines Industriearbeitsplatzes zu schaffen. 

Durch die Möglichkeit, echte Teile (wie in der vorliegenden Studie reale Motorenteile) zu verwenden und diese im virtuellen System auch räumlich dargestellt zu bekommen, ergibt sich ein hoher Grad an Realismus. Die Teilnehmer:innen sind zusätzlich sehr leicht zu motivieren und zu begeistern und werden aktiv in die Arbeitsplatzgestaltung und Maßnahmenfindung miteingebunden. Die intuitive Nutzung und einfache Handhabung eines XR-Headsets ist ein weiterer Vorteil. 

Das in diesem Projekt verwendete XR-Set-up inklusive Greenscreen-Technologie ist für industrielle Arbeitsplätze aller Art zu empfehlen. Falls der zu modellierende Arbeitsplatzaufbau standardisierter ist und die Haptik verschiedener Bauteile kein zentrales Kriterium darstellt, können auch weniger komplexe Umsetzungsformen verwendet werden. Ohne das Einbinden von konkreten, realen Gegenständen kann die Komplexität eines Szenarios natürlich deutlich reduziert werden, was die Umsetzung erleichtert. Auch der Einsatz eines kabellosen Headsets ist dann möglich. Statt Greenscreen-Technologie könnten auch Tracking-Sensoren eingesetzt werden. Weiters ist es möglich, das XR-Studiendesign individuell anzupassen, auszuweiten oder einzuschränken: zum Beispiel in Hinblick auf die Anzahl der Testpersonen, Auswahl des Arbeitsplatz-Szenarios, Einzelplatz oder Team-Zusammenarbeit, oder auch unterschiedliche Fragestellungen – etwa hinsichtlich Trainings und Ausbildung, Arbeitssicherheit oder Wartung / Support.

Fazit: XR-Technologien eignen sich dafür, ergonomische Arbeitsplatzanalysen, Simulationen und virtuelle Gestaltungsmaßnahmen durchzuführen. Auf Basis dieser Ergebnisse entwickelte Set-ups können für die virtuelle Optimierung verschiedenster Anwendungsbereiche an industriellen Arbeitsplätzen empfohlen werden.

Zusammenfassung

Extended Reality (XR) kann bei der ergonomischen Optimierung eines Industrie-Arbeitsplatzes und der Qualitätsprüfung von Motorenteilen sehr gut eingesetzt werden. In einer Studie des AIT Austrian Institute of Technology und der AUVA im Auftrag der Arbeiterkammer Tirol wurde dies unter Beweis gestellt. Auf Basis dieser Ergebnisse entwickelte Set-ups können für die virtuelle Optimierung verschiedenster Anwendungsbereiche an industriellen Arbeitsplätzen empfohlen werden.


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