Psychische Belastung
Diversität und psychische Belastung
Wer Maßnahmen für den Erhalt oder die Verbesserung der psychischen Gesundheit der Belegschaft setzen möchte, muss differenzieren: Nicht jede:r empfindet die gleichen Arbeitsbedingungen auch als gleich belastend. Eine Rolle spielt dabei, welcher Diversitätsgruppe der:die jeweilige Mitarbeiter:in angehört.
Beim Begriff Diversität denken die meisten vor allem an jene Gruppen, deren Bemühungen um Gleichberechtigung besonders häufig in der Medienberichterstattung thematisiert werden: an Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe und an Personen aus dem LGBTIQ-Spektrum. Im beruflichen Kontext gilt es jedoch, weitaus mehr Diversitätsmerkmale zu berücksichtigen, die ebenfalls zu Benachteiligungen und damit zu psychischen Belastungen der Betroffenen führen können. Genau genommen gehört jeder Mensch mehreren Diversitätsgruppen an, deren typische Merkmale sich am Arbeitsplatz vorteilhaft oder nachteilig auswirken können.
Diversitäts-Dimensionen
Die Universitätslektorin, Arbeitspsychologin, klinische und Gesundheitspsychologin Mag.a Dr.in Elisabeth Ponocny-Seliger zieht als Modell, um die Diversität in Organisationen darzustellen, gern das Vier-Schichten-Modell (s. auch S. 10 und S. 22) heran. Die in Schichten angeordneten „Dimensionen“ ermöglichen es, die am Arbeitsplatz relevanten Merkmale strukturiert zu betrachten. Neben unveränderlichen Merkmalen wie Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit und im Lauf des Lebens veränderbaren wie Familienstand oder Wohnort werden auch jene Merkmale berücksichtigt, die sich aus der beruflichen Tätigkeit ergeben. Dazu zählen etwa die Position in der Hierarchie und die Art des Arbeitsverhältnisses von der Anstellung bis zu prekärem Cloud- oder Clickworking.
Ob jemand im Beruf bevorzugt oder benachteiligt wird, hängt von der individuellen Kombination der unterschiedlichen Merkmale, der sogenannten Intersektionalität, ab. Gemäß dem Stereotyp des „ideal worker“ ist eine bestimmte Merkmalskombination am Arbeitsplatz besonders erwünscht. Ein gebildeter, weißer, heterosexueller, junger Mann ohne Betreuungspflichten und körperliche Einschränkungen entspricht diesem Ideal, an dem man sich selbst und andere nach wie vor oft unbewusst misst, am besten.
Auf den Großteil der Arbeitnehmer:innen treffen diese stereotypen Merkmale allerdings nicht zu. Bei ihnen fällt die Bilanz umso günstiger aus, je mehr als vorteilhaft angesehene Merkmale die im Job weniger gefragten ausgleichen. Mitglieder von Diversitätsgruppen, deren typische Merkmale beruflich als nicht „ideal“ betrachtet werden, versuchen häufig, diesen vermeintlichen Makel wettzumachen, indem sie sich besonders anstrengen. Das stellt eine zusätzliche psychische Belastung dar, die als „minority stress“ bezeichnet wird.
„Makel“ Mutterschaft
Ponocny-Seliger bringt ein Beispiel: Die Benachteiligung von Frauen im Beruf hat in den letzten 20 Jahren im Allgemeinen abgenommen, was aber nicht für Mütter gilt. Das betrifft nicht nur Schwangere und Frauen mit Kindern, sondern sogar kinderlose Frauen, die in ein Alter kommen, in dem man mit dem ersten Kind rechnet. „Es passieren Zuschreibungen wie jene, dass sich eine Frau mit Kind nicht mehr so sehr auf den Job konzentrieren kann. Die Betroffenen müssen beweisen, dass sie die Anforderungen trotzdem erfüllen können“, erklärt Ponocny-Seliger. Schafft eine Frau das, ist sie mit einer weiteren Zuschreibung konfrontiert: Eine beruflich erfolgreiche Frau mit Kind sei sicher keine gute Mutter.
Wie dieses Beispiel zeigt, spielen – bezogen auf eine im Beruf unerwünschte Betreuungspflicht kleiner Kinder – gleich mehrere Merkmale eine Rolle: das Geschlecht, das Alter, aber auch die Herkunft. So schätzt man die Wahrscheinlichkeit höher ein, dass eine junge Arbeitnehmerin in der nächsten Zeit schwanger wird, wenn die Frau einer ethnischen Gruppe entstammt, in der Frauen in jüngerem Alter Mutter werden und meist mehrere Kinder bekommen. „Auch wenn diese Zuschreibung auf eine bestimmte junge Frau nicht zutreffen muss, kann sich für sie im Berufsleben ein Nachteil daraus ergeben“, so Ponocny-Seliger.
Unterschiedlich empfundene Belastungen
Angesichts des Personalmangels in zahlreichen Branchen und eines zunehmend diverser werdenden Angebots an Arbeitskräften sind Arbeitgeber:innen gut beraten, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das auch für Mitarbeiter:innen förderlich ist, die nicht dem Ideal-Worker-Stereotyp entsprechen. Dabei müssen sie laut Ponocny-Seliger berücksichtigen, dass die gleichen Arbeitsbedingungen von verschiedenen Personen als unterschiedlich belastend empfunden werden. In diesem Zusammenhang spielt auch die private Situation der Betroffenen eine Rolle.
Ponocny-Seliger verwendet dafür das Symbol eines Rucksacks, der mit Belastungen gefüllt und dadurch immer schwerer wird. Hat z. B. eine Supermarktangestellte zu Hause ein pubertierendes schwieriges Kind, wird sie es wahrscheinlich als anstrengender empfinden, am Arbeitsplatz zu unhöflichen Kunden freundlich zu sein. Der für Jobs mit Kundenkontakt typische „Freundlichkeitsstress“ stellt für die pubertätsgeplagte Mutter vielleicht eine größere Belastung dar als für einen Studenten, der sich im Supermarkt stundenweise etwas dazuverdient.
Gleichheits- und Differenzansatz
Der in der Regel zur Evaluierung psychischer Belastungen angewandte Gleichheitsansatz, dass an einem Arbeitsplatz alle die gleichen Rechte und Pflichten haben, bezieht den unterschiedlich schweren in den Job mitgebrachten „Belastungs-Rucksack“ nicht mit ein. Das tut der Differenzansatz, der für bestimmte Diversitätsgruppen besondere Maßnahmen vorsieht. Aber auch hier gibt es einen Haken: Wer einer solchen Gruppe angehört, wird von diesen Maßnahmen erfasst, auch wenn er:sie diese nicht braucht oder nicht will – z. B., weil dadurch die Aufstiegschancen verringert werden. So kann z. B. auch eine junge Mutter beruflich flexibel sein, wenn andere Bezugspersonen die Kinderbetreuung übernehmen.
Der Königsweg liegt für Ponocny-Seliger in einer Kombination beider Ansätze und einem jeweils an den konkreten Fall angepassten Vorgehen der Führungskräfte. Diese wissen meist nicht, wie schwer der „Rucksack“ der einzelnen Arbeitnehmer:innen ist, können aber unterstützende Verhältnisse schaffen. Dazu gehört ein Betriebsklima, in dem es als normal angesehen wird, dass psychische Belastungen manchmal zu viel werden, oder auch die Installation von Vertrauenspersonen, an die sich Beschäftigte mit psychischen Problemen wenden können. Damit kann man vor allem bei den Jungen punkten. Ihnen ist das Thema psychische Gesundheit besonders wichtig, wie Mitarbeiter:innenbefragungen im Rahmen der „Great place to work“-Zertifizierung von Unternehmen als attraktive Arbeitgeber zeigen.
Digitalisierung
Eine Entwicklung, mit der sich junge, technikaffine Digital Natives leichter tun als ältere Semester, ist die fortschreitende Digitalisierung. „In Zukunft wird es wahrscheinlich kaum einen Job geben, in dem Digitalisierung keine Rolle spielt. Schon jetzt werden viele Prozesse digital abgebildet oder unterstützt, man wird digital überwacht. Personen, die diesbezüglich Ängste haben, können im Extremfall eine Angststörung entwickeln und glauben, dass der:die Arbeitgeber:in alles über sie weiß“, erklärt Ponocny-Seliger. Hier gilt es, eine Vertrauensbasis aufzubauen und die Mitarbeiter:innen mit den erforderlichen Informationen über die verwendeten Technologien zu versorgen.
Die Digitalisierung führt dazu, dass selbst gut ausgebildete Personen in vermeintlich sicheren Branchen fürchten müssen, ihren Job zu verlieren, was Stress erzeugt. Durch künstliche Intelligenz ersetzbar sind insbesondere sich wiederholende, leicht automatisierbare Tätigkeiten wie Buchhaltung. In anderen Bereichen steigt die Belastung durch den Einsatz von KI, etwa bei Helpdesk-Mitarbeitern:-Mitarbeiterinnen. Wenn Routineanfragen von einer künstlichen Intelligenz beantwortet werden können, bleiben dem Menschen nur mehr die schwierigen Fälle und jene Kunden:Kundinnen, die nach langen vergeblichen Lösungsversuchen mithilfe eines Chatbots ihrem Frust per Telefon Luft machen.
Auch in der Produktion ändern sich die Tätigkeiten. Statt Maschinen zu bedienen, muss man sie überwachen und nur mehr bei Fehlern eingreifen. „95 Prozent dieser Arbeit sind unglaublich langweilig, aber wenn es blinkt, muss man rasch richtig reagieren. Für die psychische Belastung in solchen Situationen haben wir noch keine Modelle, dazu fehlen noch Studien. Wahrscheinlich kann man so eine Arbeit nur ein paar Jahre lang ausüben, das sind keine Lebensjobs“, vermutet Ponocny-Seliger.
Viele Beschäftigte müssen umlernen, weil sie sonst riskieren, ihren Job zu verlieren. Arbeitgeber:innen sollten sich laut Ponocny-Seliger bewusst machen, dass Job-Enrichment und Job-Enlargement nicht von allen als positiv empfunden werden. Umschulungen bedeuten für Personen, die nicht leicht lernen, in der Schule negative Lernerfahrungen gemacht oder eine andere Erstsprache als Deutsch haben, zusätzlichen Stress. Das gilt auch für Eltern mit kleinen Kindern, denen die Zeit zum Lernen fehlt. Wer der „falschen“ Diversitätsgruppe angehört, dem:der kann es passieren, dass er:sie nicht von den Arbeitserleichterungen der Digitalisierung profitiert und eine qualifiziertere Arbeit bekommt, sondern im Gegenteil in einem prekären Job wie Crowd- oder Clickwork landet.
Zusammenfassung
Jeder Mensch gehört unterschiedlichen Diversitätsgruppen an, die sich durch gemeinsame Merkmale wie Alter, Geschlecht, Familienstand oder Stellung im Beruf auszeichnen. Manche Merkmale können sich im Beruf vorteilhaft, andere nachteilig auswirken. Als wie schwer die psychische Belastung am Arbeitsplatz empfunden wird, hängt auch von der Zugehörigkeit zu den jeweiligen Diversitätsgruppen ab.