Ergonomie
Ergonomie in unterstützenden Berufen
Die Betreuung und Unterstützung pflegebedürftiger Personen stellt hohe Anforderungen an das Pflegepersonal und die Angehörigen. Diese Herausforderungen können zu gesundheitlichen Problemen führen. Ergonomische Arbeitsmethoden und der Einsatz von Hilfsmitteln tragen dazu bei, diese Belastungen zu reduzieren und die Selbständigkeit der pflegebedürftigen Personen zu fördern. Das neu überarbeitete AUVA-Merkblatt M 105 „Ergonomie in unterstützenden Berufen“ soll dafür Erleichterungen aufzeigen.
Das neu überarbeitete und aktualisierte AUVA-Merkblatt M 105 „Ergonomie in unterstützenden Berufen“ richtet sich an Personen, die in der Betreuung und Unterstützung von pflegebedürftigen Personen tätig sind. Die Zielgruppe umfasst unterschiedliche Berufsfelder und Personengruppen wie diplomiertes Gesundheits- und Krankenpflegepersonal (DGKP), Pflegeassistenz (PA), Pflegefachassistenz (PFA), Mitarbeiter:innen in der Heimhilfe und der Unterstützung bei der Basisversorgung (UBV), Mitarbeiter:innen in der 24-Stunden-Betreuung, Mitarbeiter:innen in der Sozialbetreuung für Altenarbeit, Mitarbeiter:innen im Krankentransportwesen sowie Angehörige von pflegebedürftigen Personen.
Belastungen in unterstützenden Berufen
Beschäftigte in unterstützenden Berufen sind täglich großen physischen und psychischen Herausforderungen ausgesetzt. Ihre Arbeit ist häufig mit Tätigkeiten wie Heben und Tragen schwerer Lasten, ungünstigen Körperhaltungen, repetitiven Bewegungen sowie langem Stehen und Gehen verbunden. Insbesondere das Bewegen von Personen stellt eine erhebliche Belastung dar. Da Menschen als Last unhandlich sind und keine guten Griffmöglichkeiten bieten, kommt es zu ungünstigen Körperhaltungen bei den Pflegepersonen. Darüber hinaus können mangelnde Kommunikation und unvorhersehbares Verhalten der pflegebedürftigen Personen zu unkontrollierten Bewegungen und Unfällen führen. Diese Herausforderungen können nicht nur körperliche Beschwerden bei den Pflegepersonen verursachen, sondern auch die Selbständigkeit der pflegebedürftigen Personen einschränken.
Folgen unzureichender Ergonomie
Die häufigsten gesundheitlichen Folgen der beschriebenen Belastungen sind Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE). MSE betreffen den Bewegungsapparat des Menschen wie beispielsweise Muskeln, Gelenke oder Knochen. Sie sind für rund ein Fünftel aller Krankenstandstage verantwortlich. Im Durchschnitt fallen Arbeitnehmer:innen aufgrund dessen rund 15 Tage pro Krankenstandsfall aus. Die Belastungen und deren Folgen können die Verweildauer in Pflegeberufen beeinflussen und langfristig zu einem Mangel an qualifizierten Pflegekräften führen. Dies stellt nicht nur ein gesundheitliches, sondern auch ein wirtschaftliches Problem dar, da die Ausbildung neuer Pflegekräfte zeit- und kostenintensiv ist.
Jede Bewegungsunterstützung für einen Menschen, auch mit Hilfsmitteln, kann für die Beschäftigten, je nach Körperhaltung, Kraftausübung und Bewegungsausführung, mit einer Gefährdung ihres Muskel-Skelett-Systems einhergehen. So können beispielsweise eine schlechte Körperhaltung oder das Heben von Lasten Rückenschmerzen und eine Beeinträchtigung der Dämpferfunktion der Bandscheiben zur Folge haben. Eine gesunde Wirbelsäule ist wichtig für das allgemeine Wohlbefinden und die Arbeitsfähigkeit. Regelmäßige Bewegung, eine ausgewogene Ernährung und eine gute Körperhaltung sind entscheidend für die Gesunderhaltung der Wirbelsäule. Daher ist es wichtig, die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsweise so zu gestalten, dass mit möglichst aufrechtem und geradem Rücken gearbeitet werden kann.
Pflichten der Arbeitgeber:innen
Die Vermeidung von Verletzungen und anderen Gesundheitsproblemen ist ein wichtiger Aspekt des Arbeitnehmer:innenschutzes, den alle Arbeitgeber:innen beachten müssen.
Sie sind gemäß ArbeitnehmerInnenschutzgesetz verpflichtet, über die mit der Tätigkeit verbundenen Gefahren zu informieren und die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer:innen zu gewährleisten und zu optimieren. Der:Die Arbeitgeber:in hat die Gefahren zu ermitteln, zu beurteilen und daraus Maßnahmen abzuleiten (mittels Arbeitsplatzevaluierung). Checklisten oder Screening-Methoden (z. B. Leitmerkmalmethode) sind dabei hilfreiche Instrumente, um körperliche Belastungen zu ermitteln und zu objektivieren. Die Unterweisung der Arbeitnehmer:innen ist ebenfalls verpflichtend, um sicherzustellen, dass sie die bestehenden Gefährdungen kennen und wissen, wie sie diese vermeiden können. Arbeitnehmer:innen müssen beispielsweise genaue Anweisungen für die sachgemäße Handhabung von Lasten und Angaben über die bestehenden Gefahren bei unsachgemäßer Handhabung erhalten.
Darüber hinaus ist der:die Arbeitgeber:in verpflichtet, regelmäßige Schulungen und Weiterbildungen anzubieten, um die Kenntnisse und die Fähigkeiten der Arbeitnehmer:innen in Bezug auf ergonomische Arbeitsmethoden laufend zu aktualisieren und zu verbessern. Dies schließt auch die Nutzung und Wartung technischer Hilfsmittel mit ein, um deren effektiven Einsatz zu gewährleisten.
Lösungsansätze und Ziele
Das ASchG definiert eine klare Reihenfolge von Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit – das sogenannte STOP-Prinzip:
- Substitution: Gefährdungen oder Belastungen sollen vermieden werden. Im Bereich der Ergonomie ist dieser Punkt in der Regel nur in speziellen Fällen anwendbar, da viele Tätigkeiten in der Pflege nicht durch weniger belastende ersetzt werden können.
- Technische Lösungen: Technische Hilfsmittel wie Lifter, Rutschmatten und höhenverstellbare Betten werden eingesetzt, um Gefährdungen und Belastungen zu reduzieren. Der Einsatz dieser Hilfsmittel muss durch Schulungen begleitet werden, um sicherzustellen, dass alle Mitarbeiter:innen sie korrekt und effizient nutzen können.
- Organisatorische Maßnahmen: Dazu gehören Anpassungen in der Arbeitsorganisation, wie z. B. die Erstellung von Schichtplänen, die regelmäßige Rotation von Tätigkeiten und die Festlegung eines angemessenen Personalschlüssels, um Überlastungen zu vermeiden. Auch die Anpassung der Arbeitsumgebung, z. B. durch ergonomische Möbel und Geräte, kann einen wichtigen Beitrag zur Reduzierung von Belastungen leisten.
- Personenbezogene Maßnahmen: Diese beziehen sich direkt auf die Beschäftigten und ihr Verhalten. Schulungen zu ergonomischen Bewegungsabläufen und Konzepten wie Kinästhetik können helfen, körperliche Belastungen zu reduzieren. Darüber hinaus sollten die Mitarbeiter:innen zu regelmäßigen Pausen und gezielten Übungen zur Kräftigung und Entspannung der Muskulatur angehalten werden.
Ein zentrales Ziel ergonomischer Maßnahmen ist es, die körperlichen Belastungen der Mitarbeiter:innen zu reduzieren und ihre Gesundheit zu erhalten. Gleichzeitig kann eine entsprechende Technik dazu beitragen, die pflegebedürftige Person zur eigenständigen Bewegung zu motivieren und ihre vorhandenen Fähigkeiten zu erhalten und zu fördern. Dies beugt dem Verlernen noch vorhandener Fähigkeiten vor und reduziert damit langfristig den Pflegeaufwand. Für den Selbstschutz der Pflegekräfte ist es wichtig, Belastungs- und Stresssituationen zu erkennen und Strategien zur Stressbewältigung zu erlernen. Die regelmäßige Teilnahme an Fort- und Weiterbildungen, wie z. B. Kinästhetik-Kursen, fördert ein gutes Verständnis für ergonomische Arbeitsweisen. Ebenso kann sie dazu beitragen, die Gesundheitskompetenz zu erhöhen, sodass die Pflegekräfte auftretende Beschwerden richtig bewerten und Maßnahmen zur Vorbeugung und Linderung ergreifen können.
Beim „Im Bett nach oben rutschen“ wird jeweils zuerst eine Beckenseite (Pfeil 1), dann die Schulter (Pfeil 2) wieder zurück auf die Unterlage gebracht. Dadurch wandert die pflegebedürftige Person Stück für Stück kopfwärts.
Grundprinzipien der Mobilisation
Rückenschonendes Arbeiten ist wichtig, um körperliche Belastungen zu minimieren. Hierfür spielen insbesondere eine aufrechte Körperhaltung und das Vermeiden von verdrehtem und körperfernem Arbeiten eine wichtige Rolle. Bei der Planung von Bewegungen sollte die Pflegeperson klären, wohin sich die pflegebedürftige Person bewegen soll und welche Fähigkeiten sie hat, diese Bewegung selbst auszuführen. Kommunikation ist dabei essenziell: Die Pflegeperson sollte der pflegebedürftigen Person die Pflegemaßnahme erklären und den Bewegungsablauf beschreiben. Klare Bewegungsimpulse und die Nutzung der Ressourcen der pflegebedürftigen Person können die Kooperation verbessern und die Selbständigkeit fördern.
Kinästhetik reduziert körperliche Belastungen
Kinästhetik ist ein Bewegungskonzept, das durch das Erkennen und Fördern der Bewegungsressourcen der pflegebedürftigen Personen die körperliche Belastung der Pflegepersonen nachhaltig reduzieren kann. Das Konzept erleichtert die Mobilisation von Pflegebedürftigen ohne Heben und Tragen und fördert eine schonende Arbeitsweise. Durch Berührungen und gemeinsames Bewegen werden arbeitsbedingte körperliche Beschwerden der Pflegepersonen reduziert. Gleichzeitig werden die Bewegungsmöglichkeiten der pflegebedürftigen Personen ausgeschöpft und ihre Bewegungskompetenz wird erhalten bzw. erweitert. Die Anwendung der Kinästhetik unterstützt die pflegebedürftige Person in ihrer Eigenständigkeit und fördert damit ihre Selbständigkeit und aktive Beteiligung am Bewegungsprozess.
Der Transfer „Im Bett nach oben rutschen“ (Abb. 1 und Abb. 2), ist ein gutes Beispiel dafür, wie durch eine gute Technik Hebevorgänge ganz vermieden werden können und gleichzeitig die Bewegungskompetenz der pflegebedürftigen Person verbessert werden kann. Beim klassischen Transfer ist dieser Vorgang mit Heben oder Ziehen verbunden. In der Kinästhetik setzt die Pflegeperson gezielt Bewegungsimpulse für eine Gewichtsverlagerung und eine Rotation zwischen Schulter und Becken. Dieser Vorgang ist dem natürlichen Gangmuster sehr ähnlich und erfordert weder ein Heben noch ein Ziehen.
Der Einsatz von Hilfsmitteln
Hilfsmittel spielen in der Pflege eine wesentliche Rolle. Einerseits gleichen sie gesundheitliche Einschränkungen und Behinderungen aus oder unterstützen den Behandlungserfolg. Andererseits können sie die körperlichen Belastungen für das Pflegepersonal reduzieren. Das Angebot an Hilfsmitteln ist groß und umfasst Produkte für unterschiedliche Bedürfnisse und Behandlungen. Pflegepersonen sollten sich regelmäßig über aktuelle Hilfsmittel informieren und deren adäquaten Einsatz in den Pflegealltag integrieren. Nur dann können Hilfsmittel dazu beitragen, körperliche Belastungen zu reduzieren und die Pflegequalität zu verbessern.
Praxistipps für den Pflegealltag
Im Pflegealltag können verschiedene Maßnahmen dazu beitragen, die körperlichen Belastungen zu reduzieren:
- Arbeitskleidung: Sie sollte Bewegungsfreiheit ermöglichen und durch festes Schuhwerk ergänzt werden.
- Arbeitshöhe: Bei Tätigkeiten wie dem Bettenmachen sollte auf die richtige Arbeitshöhe geachtet werden, um eine aufrechte Körperhaltung zu fördern.
- Rückenschonende Arbeitsweise: Der Oberkörper sollte aufrecht gehalten und ein breitbeiniger Stand oder eine Schrittstellung eingenommen werden.
- Hilfsmittel: Vorhandene Hilfsmittel sollten adäquat eingesetzt werden, um körperliche Belastungen zu reduzieren.
Zusätzlich können Übungen, die in den Alltag integriert werden, die Durchblutung fördern, Muskelverspannungen vorbeugen und so für Entlastung sorgen. Ein einfacher Wechsel der Position, das Dehnen von Muskeln oder kurze Pausen können Abhilfe schaffen. Wichtig ist, diese Übungen regelmäßig in den Arbeitsalltag einzubauen. Zum anderen ist es ratsam, auch in der Freizeit Ausgleichsaktivitäten nachzugehen, die Freude bereiten (wie Sport, Hobbys oder kulturelle Aktivitäten). Sowohl in der Arbeit als auch in der Freizeit ist es wichtig, den Gesundheitsaspekt durch regelmäßige Bewegung, ausgewogene Ernährung und ergonomische Arbeitsbedingungen zu berücksichtigen. Nur so kann rechtzeitig gegensteuert werden, um gravierende Probleme zu vermeiden.
Fazit – gezielte Entlastungen
Ergonomie ist in unterstützenden Berufen von zentraler Bedeutung, um die Gesundheit der Beschäftigten zu schützen und ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Durch eine Kombination von technischen, organisatorischen und personenbezogenen Maßnahmen sowie den gezielten Einsatz von Hilfsmitteln können die Belastungen im Pflegealltag deutlich reduziert werden. Schulungen und eine gute Selbstwahrnehmung der Pflegekräfte tragen dazu bei, gesundheitliche Beeinträchtigungen zu vermeiden und die Qualität der Pflege zu verbessern.
Zusammenfassung
Die Arbeit in unterstützenden Berufen ist körperlich und geistig anspruchsvoll. Ergonomische Bewegungsabläufe, der richtige Einsatz von Hilfsmitteln und eine gute Selbstwahrnehmung schützen die Gesundheit der Pflegepersonen und verbessern die Pflegequalität. Die Pflege sollte darauf ausgerichtet sein, die Selbständigkeit der pflegebedürftigen Personen zu fördern und ihre Fähigkeiten zu erhalten, um sowohl die Pflegepersonen zu entlasten als auch die Lebensqualität der pflegebedürftigen Personen zu verbessern.