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Muskel-Skelett-Erkrankungen

Der digitale Blick in den Körper

Ist es möglich, Fälle von Arbeitsunfähigkeit (AU) aufgrund von Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) zu reduzieren und gleichzeitig bei einer hohen Zufriedenheit der Arbeitnehmer:innen die Bruttowertschöpfung zu steigern? Mit Fragen wie dieser beschäftigen sich Ergonomen:Ergonominnen seit Jahrzehnten. Der Blick auf aktuelle Zahlen aus Österreich und Deutschland legt ein Umdenken und das Beschreiten neuer Wege nahe.

Ein Arbeiter in Schutzkleidung und mit Schutzbrille hebt einen Karton in einem Lagerbereich an. Im Hintergrund sind gestapelte Kartons und Verpackungsmaterial zu sehen. Der Arbeiter verwendet orangefarbene Sensoren an Armen und Beinen, möglicherweise zur Überwachung seiner Bewegungen oder Haltung. Eine zweite Person, deren Gesicht unscharf ist, sitzt links und überprüft Dokumente oder Geräte.
© Predimo GmbH

In Österreich liegt laut dem Fehlzeitenreport 20211 der Anteil der auf MSE zurückzuführenden Fehlzeiten im Zeitraum 1994–2021 unverändert bei rund 20 %. Dabei sind 21,6 % aller Krankenstandstage auf MSE zurückzuführen, mit durchschnittlich 16,9 Krankenstandstagen pro Krankenstandsfall und Kosten infolge arbeitsbedingter MSE von über 1 Mrd. Euro pro Jahr.

In Deutschland beträgt laut der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA)2 die durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit (AU) pro Fachkraft 21,3 Tage. Das bedeutet bezogen auf alle Diagnosegruppen für das gesamte Jahr 2022 insgesamt 888,9 Mio. AU-Tage. Von Letzteren ausgehend, schätzt die BAUA die volkswirtschaftlichen Produktionsausfälle auf insgesamt 118 Mrd. Euro bzw. den Ausfall an Bruttowertschöpfung auf 207 Mrd. Euro. Bewertet man diese Zahlen nur unter dem Gesichtspunkt der für die Ergonomie wichtigen MSE, dann fallen hierauf bezogen in 2022 insgesamt 161,8 Mio. AU-Tage an (entspricht 18,2 % von allen AU-Tagen). Damit einhergehend sind 21,5 Mrd. Euro an Produktionsausfällen und 37,7 Mrd. Euro Verlust an Arbeitsproduktivität (Ausfall an Bruttowertschöpfung) zu verzeichnen.

Laut dem Vorsitzenden der Krankenkasse DAK-Gesundheit Andreas Storm zeigen aktuelle Zahlen für das erste Quartal 2024, dass „beim Krankenstand in Deutschland keine Entwarnung in Sicht“ ist!3

Wie lässt sich erklären, dass trotz jahrelanger Bemühungen in der Prävention und damit verbundener hoher Kosten der Erfolg, nach Betrachtung der oben genannten Zahlen, vorsichtig ausgedrückt begrenzt bleibt – und wie könnte man dem entgegenwirken?

Missverhältnis zwischen Belastung und Belastbarkeit

Verantwortlich für die arbeitsbedingten MSE ist in der Regel ein Missverhältnis, welches akut oder chronisch zwischen der im Körper einer Fachkraft auftretenden Belastung und seiner:ihrer Belastbarkeit besteht. In der Welt der Ergonomie ist somit vordergründig sicherzustellen, dass die Belastung stets geringer als die Belastbarkeit ist. Um mögliche Missverhältnisse zu erkennen, bedarf es einer möglichst umfassenden Quantifizierung der individuellen Belastung und Beanspruchung während einer Tätigkeit. Zu diesem Zweck wurde in den letzten 50 Jahren eine Vielzahl an ergonomischen Risikobewertungsverfahren entwickelt. Häufig beruhen diese Bewertungen jedoch auf Abschätzungen aus statischen Situationen, oft in der Sagittalebene, aus Verallgemeinerungen oder Hilfswerten, die nur indirekt das eigentliche Problem beschreiben. Insbesondere bei der Beurteilung von Belastungen wurden bisher oft Werte verwendet, die Belastungen auf den Körper beschreiben, anstatt die tatsächlichen Belastungen im Körper – dort, wo sie wirklich wirken – zu nutzen. Dies könnte eine mögliche Erklärung dafür sein, warum die Zahlen, wie im obigen Text beschrieben, sich seit Jahrzehnten nicht positiv verändert haben. Somit stellt sich die Frage, ob und, wenn ja, wie die im Körper einer Fachkraft auftretende Belastung valide gemessen werden kann. 

Diese Frage lässt sich wie folgt beantworten: Ja, heutzutage ist es möglich, die Bewegungen einer Fachkraft während der Arbeit so aufzuzeichnen, dass auch die im Körper auftretenden Belastungen valide zu bestimmen sind! Die Bewegungen können mittels Motion Capture über Stunden hinweg bei einer Frequenz von 60 Erfassungen pro Sekunde aufgenommen werden, ohne die Fachkräfte dabei in ihrer Tätigkeit einzuschränken. Im Anschluss können aus den aufgezeichneten Bewegungen mithilfe von invers-dynamischen Verfahren wie der ComputerMyoGraphie (CMG) präzise Aussagen über die im Körper auftretenden Belastungen (z. B. Muskelkräfte oder Gelenkbelastungen) getroffen werden. Die CMG basiert auf einem hochkomplexen Modell, welches durch das Zusammenwirken der physikalischen und biomechanischen Eigenschaften sämtlicher großer Gelenke und von weit über 650 Muskelzügen anhand der gemessenen Bewegung ein individuelles, hochauflösendes Belastungsprofil generiert. So entstehen naturgemäß enorme Datenmengen. Es schließt sich daraufhin die Frage an, wie Ergonomieexperten:-expertinnen diese neuartigen Messdaten zusammen mit altbewährten Verfahren am besten effektiv und unkompliziert einsetzen können, um erfolgreiche ergonomische Handlungsmaßnahmen zu identifizieren, zu implementieren und so die kontinuierlich steigenden Kosten für ergonomische Maßnahmen und die Anzahl der AU-Tage aufgrund von MSE zu reduzieren.

Ein Bild zeigt eine Kombination aus einem realen und einem digitalen Szenario. Im oberen linken Teil des Bildes ist ein Mann in einem Raum zu sehen, der eine Kiste trägt. Im unteren Teil des Bildes wird ein digitales Skelett mit hervorgehobenen Gelenken dargestellt, das ebenfalls eine Kiste hält. Die grünen Markierungen auf den Gelenken des digitalen Modells deuten auf eine Analyse oder Simulation der Körperhaltung beim Heben der Kiste hin.
© Predimo GmbH

1. Erfassung des IST-Zustands

Um eine möglichst präzise Beschreibung des Ist-Zustands eines Arbeitsplatzes, samt der beteiligten Fachkräfte, der Prozessabläufe und weiteren relevanten Faktoren, zu generieren, ist es von entscheidender Bedeutung, dass Messungen unbedingt vor der Umsetzung ergonomischer Handlungsempfehlungen oder Maßnahmen in einem Unternehmen geschehen. Je klarer die Erkenntnisse zu den Arbeitsplatz-Verhältnissen und dem Arbeitsplatz-Verhalten vor Abgabe bzw. Umsetzung einer Handlungsempfehlung /-maßnahme sind, desto gezielter kann diese Handlungsempfehlung / -maßnahme abgegeben und umgesetzt werden. Umso höher ist folglich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Erfolg eintritt und die damit verbundenen finanziellen Aufwendungen zielgerichtet eingesetzt werden. Darüber hinaus sollte eine aussagekräftige Bewertung eines Arbeitsplatzes auf einer objektiven und ausreichend umfassenden Datenerfassung basieren. Hierzu ist es zunächst wichtig, dass die Fachkraft durch den Messvorgang nicht in der ganz normalen Ausübung der Tätigkeit beeinträchtigt wird. Zusätzlich sollten die Arbeitsprozesse, durch unterschiedliche Fachkräfte in ausreichender Wiederholungszahl oder je nach Fragestellung auch von nur einer Fachkraft in entsprechend häufigerer Wiederholungszahl, aufgezeichnet werden. Der IST-Zustand sollte den Ausgangspunkt jeglicher Analysen bilden. Zusätzliche, spätere Messzeitpunkte können noch umfangreichere Aussagen ermöglichen.

2. Eine umfassende Prozessanalyse

Aus den so aufgenommenen Daten können durch eine Prozessanalyse wichtige Erkenntnisse über das Verbesserungspotenzial von Workflow, Effizienz und Qualität der Arbeit gewonnen werden. Es werden z. B. durch die kontinuierlich über Stunden hinweg aufgezeichneten Daten jene Anteile, welche nicht wertschöpfend sind, identifizierbar. Da in Motion-Capture-Messungen die Position im Raum automatisch mit aufgezeichnet wird, können Parameter wie Positionshäufigkeit (Laufwege), Geschwindigkeiten und Belastungen in Form einer Heatmap des jeweiligen Arbeitsplatzes dargestellt und mit individuellen Prozessanalysen kombiniert werden. Dies kann ebenfalls zu einer optimierten ergonomischen Betrachtung beitragen und gleichzeitig als Basis für eine Steigerung der Bruttowertschöpfung von großer Bedeutung sein.

Auf der linken Seite des Bildes ist ein Arbeiter zu sehen, der Kartons aus einem Container hebt, während eine andere Person mit einer Weste und einem Klemmbrett daneben steht und Notizen macht. Auf der rechten Seite des Bildes befindet sich eine digitale Darstellung eines menschlichen Skeletts mit hervorgehobenen Gelenken, die eine Analyse oder Simulation der Bewegungen des Arbeiters darstellt. Die grünen Markierungen an den Gelenken weisen auf mögliche Belastungspunkte hin.
Abbildung 1: Belastungsanalyse eines Arbeitsplatzes mittels ComputerMyoGraphie (CMG). Links ein Originalbild beim Entladen eines Containers und rechts korrespondierend der entsprechende digitale Zwilling (der „Myonardo“) der Fachkraft. Muskeln, welche bei einer Bewegung unter Beanspruchung sind, werden sichtbar, nicht-beanspruchte Muskeln sind transparent. Mittels eines Ampelschemas wird die Höhe der Belastungen der Gelenke durch Kreise an den Gelenken direkt sichtbar gemacht. © Predimo GmbH

3. Richtige Puzzlestücke ergeben zusammen ein detaillierteres Bild

In vielen Unternehmen werden aus unterschiedlichen Gründen nach wie vor bestimmte traditionelle ergonomische Risikobewertungsverfahren verwendet. Daher ist es erforderlich, ein umfassendes Tool zu verwenden, welches die Stärken dieser traditionellen Verfahren in ihrer jeweiligen Dogmatik herausstellen kann, ohne dabei ihre Schwächen berücksichtigen zu müssen. Durch das Zusammenwirken traditioneller Verfahren mit moderner Technologie, wie etwa der CMG-Methode, entsteht eine gesteigerte Anzahl qualitativ hochwertiger Puzzlestücke, die das Gesamtbild der Analyse umfassender und detaillierter machen. Mithin wird so ein wertvoller Beitrag zur Gesamtbewertung von Arbeitsplätzen geleistet, indem die Vielfalt der Verfahren, die verbesserte Vergleichbarkeit zwischen den Verfahren sowie die Objektivität und der Zeitgewinn durch digitale Aufnahme und Auswertung gewährleistet werden.

4. Gezielte Analyse von Hilfsmitteln

Neben der Bewertung eines Arbeitsplatzes können auch ergonomische oder andere wertschöpfende Hilfsmittel, die während der Arbeit zum Einsatz kommen sollen (z. B. Exoskelette oder neue Kommissionier-Wagen), in einer Vorab-Analyse, d. h. vor der Entscheidung, welches Produkt bzw. (Hilfs-)Werkzeug beschafft werden soll, auf deren ergonomischen und wertschöpfenden Nutzen hin analysiert werden.

5. Ein leicht verständlicher digitaler Zwilling

Die Essenz der erfassten Daten sollte in einer leicht verständlichen und bedarfsgerechten Art und Weise visualisiert werden, um allen Beteiligten die für sie relevanten Informationen zugänglich zu machen. Dies kann durch numerische Zeitreihen, Balken-, Torten- und andere Diagrammformen oder lebendige 3-D-Visualisierungen der Bewegungen und Belastungen – einen „Blick in den menschlichen Körper“ – passieren, solange es die Arbeit der jeweiligen Stakeholder erleichtert und verbessert. Fachkräfte können zum Beispiel mithilfe eines digitalen Zwillings, des „Myonardos“ (siehe Abb. 1), genau sehen, welche Bewegungen während ihrer Arbeit die Gelenke und Muskeln belasten, und wie sie diese Bewegungen ausführen können, um die Belastung zu reduzieren. Durch diese Visualisierung entsteht ein tieferes Verständnis für ergonomische Maßnahmen und die Optimierung von Arbeitsverhältnissen, was zu einer intrinsischen Motivation für deren nachhaltige Umsetzung führen kann. 

Hochkomplexe Daten erlauben, „in den menschlichen Körper zu schauen“

In Anbetracht der nach wie vor hohen Anzahl der AU-Tage und damit einhergehenden Kosten muss in einer Zeit mit zusätzlich zunehmendem Fachkräftemangel neu überdacht werden, wie die Ergonomie der Zukunft gestaltet werden kann. Innovative Technologien wie die CMG-Methode machen hochkomplexe Daten zugänglich und erlauben es, „in den menschlichen Körper zu schauen“ und zu ermitteln, welchen Belastungen dieser Körper während der Ausübung der realen Arbeitstätigkeiten ausgesetzt ist. Zusammen mit der gleichzeitigen Möglichkeit der Prozessanalyse und in Kombination mit bestehenden traditionellen Verfahren können Handlungsempfehlungen mit dem Ziel, die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von MSE zu verringern, präziser formuliert werden. Dies steigert das Potenzial, Wohlbefinden, Leistungsfähigkeit und Arbeitsplatzzufriedenheit der Fachkraft zu verbessern, was in weiterer Folge auch dem:der Arbeitgeber:in zugutekommt: eine klassische Win-win-Situation für alle Beteiligten in einem Unternehmen.

Quellen

[1] Quelle: Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, Fehlzeitenreport 2021, S. 51, und Unfallstatistik AUVA, Erhebungszeitraum 2015–2020; aus einer Präsentation von Stefanie Wunderl, Expertin für Präventionsökonomie, AUVA

[2] Quelle: BAUA, 2023: Volkswirtschaftliche Kosten durch Arbeitsunfähigkeit

[3] Quelle: ntv.de, tkr/AFP, 29.04.2024

Zusammenfassung

Ist es möglich, Fälle von Arbeits­unfähigkeit (AU) aufgrund von Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) zu reduzieren und gleichzeitig bei einer hohen Zufriedenheit der Arbeitnehmer:innen die Bruttowertschöpfung zu steigern? Mit Fragen wie dieser beschäftigen sich Ergonomen:Ergonominnen seit Jahrzehnten. Innovative Technologien wie die ComputerMyoGraphie(CMG)-Methode machen hochkomplexe Daten zugänglich und erlauben es, „in den menschlichen Körper zu schauen“ und zu ermitteln, welchen Belastungen dieser Körper während der Ausübung der realen Arbeitstätigkeiten ausgesetzt ist.


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