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Digitalisierung

Innovative Technologien in der Logistik

Beschäftigte in der Logistik sind bei der manuellen Lastenhandhabung hohen körperlichen Belastungen ausgesetzt. Das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) hat sich zum Ziel gesetzt, die Arbeitsbedingungen durch Automatisierung und den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) zu verbessern.

© Adobe Stock / Gorodenkoff

Wenn es um die angewandte Logistikforschung geht, ist man beim Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund an der richtigen Adresse. Im Sinn der Fraunhofer-Idee werden einerseits Problemlösungen zur unmittelbaren Nutzung für Unternehmen erarbeitet, andererseits betreibt das Institut auch Vorlaufforschung von meist zwei bis fünf Jahren.

Bei der Entwicklung technischer Systeme wird auch auf deren Be­nutzer:innen­freund­lich­keit geachtet, betont Dr.in Dipl.-Psych.in Veronika Kretschmer, Senior Scientist am IML: „Kognitive Ergonomie ist für uns ein wesentliches Thema: Fühlt sich der Mensch durch die Technik unterstützt oder eher gestört? Die Technologie muss zum Prozess und zur Logistik-IT passen, von den Beschäftigten akzeptiert werden und den Arbeitsschutzvorgaben entsprechen, daher beziehen wir Beschäftigte, Betriebsrat und Sicherheitsfachkräfte mit ein.“

Herausforderungen

Die Logistikbranche steht laut Kretschmer vor drei großen Herausforderungen, für die zukunftssichere Lösungen gefunden werden müssen: Fachkräftemangel und Fluktuation, gesundheitliche Beschwerden und häufige Krankenstände sowie Kostenanstieg.

Die Suche nach qualifiziertem Personal wird durch die demografische Entwicklung und eine hohe Fluktuation insbesondere junger Mitarbeiter:innen erschwert. Bei einer in Deutschland durchgeführten Befragung von Logistikunternehmen gaben 28 Prozent an, dass sie von einer starken Zunahme des Fachkräftemangels im eigenen Unternehmen ausgehen. 61 Prozent rechnen laut Statista (2021) mit einer Mehrbelastung für die Belegschaft. „Bei vorherrschenden unergonomischen Arbeitsbedingungen ist es schwer, neue Mitarbeiter:innen zu gewinnen und die bestehenden, v. a. der jüngeren Generation, zu halten“, fasst Kretschmer die Ergebnisse der Befragung zusammen.

Die gesundheitliche Belastung war Gegenstand einer von Siefer & Meyer 2019 durchgeführten Befragung deutscher Beschäftigter in der Lagerwirtschaft, bei Post- und Zustelldiensten und im Güter- und Warenumschlag. Rund 20 Prozent der Befragten bezeichneten ihren Gesundheitszustand als „weniger gut“ oder „schlecht“, als häufigste Beschwerden nannten sie körperliche Erschöpfung und Schmerzen in verschiedenen Körperregionen. Die Zahl der Krankenstandstage in der Logistik ist hoch, Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems führen zu zahlreichen Fällen von Arbeitsunfähigkeit.

Statistiken und Studienergebnisse in Deutschland zeigen, dass es in operativen Bereichen unter anderem aufgrund der Knappheit an qualifiziertem Personal zu Kapazitätsengpässen (statista 2030) oder zu Zusatzkosten durch betriebliche Störungen, Produktivitätsverluste und die Fluktuation erfahrener Mitarbeiter:innen kommt1. Der geschätzte Ausfall an Bruttowertschöpfung liegt bei 5,1 Prozent des Bruttonationaleinkommens, wobei Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes mit 0,9 Prozent dazu beitragen2.

Die Lösung dieser komplexen Probleme sieht Kretschmer in der Integration von Menschen und innovativen Technologien in das Arbeitsökosystem. Eine Zukunftsvision der Forschungen am Fraunhofer IML ist die automatisierte Individualisierung cyber-physischer und kognitiver Systeme durch den Einsatz von Sensoren oder auch Kameras. So kann innovative Technik wie kollaborative Roboter Hand in Hand mit dem Menschen zusammenarbeiten. KI-Systeme haben das Potenzial, relevante Parameter wie Körperhaltungen und -bewegungen, psychische Zustände wie Stress oder Ermüdung, Objekte und Prozessdaten zu erfassen und zu analysieren.

Bei einer Befragung deutscher Beschäftigter in der Lager­wirtschaft, bei Zustelldiensten und im Warenumschlag bezeichneten rund 20 Prozent ihren Gesundheits­zustand als „weniger gut“ oder „schlecht“. Die häufigsten Beschwerden waren körperliche Erschöpfun © Adobe Stock / Halfpoint

Motion-Mining

Ein derartiges KI-System, das zur digitalen Prozessanalyse in der Lagerlogistik dient, das „Motion-Mining®“, wurde vom Dortmunder Start-up MotionMiners GmbH entwickelt. Das IML fungiert als Projektpartner, setzt das System in Planungsprojekten mit Unternehmen ein und veranstaltet Workshops.

„An den Regalen sind Sensoren angebracht, die Mitarbeiter:innen tragen an den Handgelenken und am Gürtel ebenfalls Sensoren. Diese liefern Daten über Bewegungen und Prozesskennzahlen“, beschreibt Kretschmer die Funktionsweise des Systems. Die Technologie ist in vielen intralogistischen Prozessen von der Kommissionierung bis zu Verpackung und Warenausgang einsetzbar und liefert Transparenz über die Prozesse, um Effizienzpotenziale und gleichzeitig ergonomische Risiken zu erkennen. Aus Datenschutzgründen erfolgt die Sammlung der Daten anonymisiert. Anschließend analysiert und quantifiziert das KI-basierte System die Rohdaten.

„Das Ziel von Motion-Mining ist, Effizienz und Ergonomie zu verbessern, z. B. durch Optimierung der Laufwege oder die Änderung ungünstiger Körperhaltungen“, erklärt Kretschmer. Sie sieht mehrere Vorteile von Motion-Mining im Vergleich zu einer herkömmlichen Prozessanalyse. Das KI-System punktet durch Objektivierung, Zeitersparnis und die einfachere Erfassung, auch bei einer größeren Anzahl von Beschäftigten und einer längeren Beobachtungsdauer. Wo der Mensch die Grenzen seiner Kapazität erreiche, komme künstliche Intelligenz zum Einsatz – die Entscheidungsgewalt bleibe jedoch beim Menschen, betont Kretschmer.

Exoskelette

Heben und Tragen, Ziehen und Schieben – am IML wird erforscht, ob Exoskelette eine Möglichkeit darstellen, Beschäftigte zu entlasten, die häufig schwere körperliche Arbeit verrichten. Die Arbeit in der Logistik ist jedoch durch einen häufigen Wechsel von Tätigkeiten gekennzeichnet. Das IML befasst sich mit der Frage, welche Exoskelette für welche Tätigkeiten in der Logistik geeignet sind und ob die Mitarbeiter:innen eine Entlastung erfahren. Dafür wurde ein Intralogistik-Parcours aufgebaut, bei dem typische Tätigkeiten in der Logistik mit Exoskeletten ausgeführt werden.

Kretschmer weist darauf hin, dass ein Exoskelett nur dann zum Einsatz kommen sollte, wenn Substitution und technische und organisatorische Maßnahmen nicht ausreichen. Derzeit gibt es noch keine wissenschaftlich abgesicherten Nachweise für die Wirksamkeit von Exoskeletten zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen. Im Idealfall erfolgt eine Stabilisierung und Unterstützung von Rumpf bzw. Körperpartien, wodurch der Bewegungs- und Stützapparat entlastet wird und der:die Träger:in weniger ermüdet, was sich auch positiv auf die Leistungsfähigkeit auswirken kann.

Wesentlich dafür, ob ein Unternehmen Exoskelette einsetzen sollte, ist auch die Akzeptanz durch die Beschäftigten. Oft als störend angesehene Faktoren sind das Gewicht, die Behinderung beim Gehen und bei Bewegungen, die nicht durch das Exoskelett unterstützt werden, sowie ein häufiges An- und Ablegen, wenn dies aufgrund der unterschiedlichen Tätigkeiten erforderlich ist.

Das IML bietet Unternehmen, die überlegen, Exoskelette anzuschaffen, eine Hilfestellung bei der Entscheidungsfindung. Produkte unterschiedlicher Hersteller werden im Exoskelett-Parcours getestet, wobei man die Körperhaltungen und -bewegungen der Träger:innen misst und die empfundene Entlastung sowie den Tragekomfort mittels Fragebögen erhebt.

Fühlt sich der Mensch durch die Technik unterstützt oder eher gestört? Die Technologie muss zum Prozess und zum Arbeitsschutz passen, daher beziehen wir die Betroffenen und ihre Interessenvertretungen ein

Veronika Kretschmer
© dusanpetkovic1

Ergonomie-Quick-Check

Zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen und psychischen Beschwerden hat das IML den Ergonomie-Quick-Check entwickelt. Mit der Analyse und Bewertung typischer Arbeitsanforderungen können die Forschenden Gefährdungen für Arbeitnehmer:innen identifizieren und geeignete Maßnahmen erarbeiten. Der Quick-Check nutzt verschiedene Methoden wie das biomechanische Messsystem der Motion-Capture-Sensorik oder Befragungen mittels Fragebogens, um physische und psychische Risiken zu erkennen und gesundheitliche Beschwerden zu erheben. Auf Basis der Analysen visualisieren die Forschenden die Gefährdungen in Form eines Ampelsystems und leiten daraus individuelle Maßnahmen zur ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung ab.

Um Muskel-Skelett-Erkrankungen vorzubeugen, werden auch Exoskelett-Quick-Checks in Unternehmen durchgeführt. Dabei können Beschäftigte die Exoskelette verschiedener Hersteller an ihrem Arbeitsplatz testen und auf ihre Eignung überprüfen.

Fahrwerk für unebene Böden

Bei fahrerlosen Transportfahrzeugen musste man sich bisher zwischen einem einfacheren, beweglicheren Fahrzeug mit drei Rädern oder einem vierrädrigen Fahrzeug mit höherer Stabilität entscheiden. Das vom IML entwickelte Rautenfahrwerk „STUART“ (Stable Transport in Uneven And Rough Terrains), das sich in ungefederte Vierrad-Fahrzeuge integrieren lässt, punktet durch seine Wendigkeit und eignet sich auch für sehr unebene oder wellige Böden.

Das rautenförmig angelegte Fahrwerk bietet durch einen mittig angeordneten Differenzialantrieb mit jeweils einem Stützrad vorne und hinten eine hohe Beweglichkeit und eine schmale Hüllkurve. Die simpel aufgebauten Gelenke und Hebel des Fahrwerks, die zwei um die mittlere Differenzialantriebsachse gelenkig verbundene Aufstandsdreiecke bilden, lösen außerdem das typische Problem des Kippelns von konventionellen ungefederten vierrädrigen Fahrzeugen. Der realisierte Prototyp kann mit einem Eigengewicht von 100 kg eine Nutzlast von bis zu 400 kg in Form von Europaletten mit einer Geschwindigkeit von 1 m / s sicher über unebenen oder welligen Grund bewegen und bleibt auch bei engen Kurvenradien stabil.

Picking Lab

Im Rahmen der Projektinitiative „Leistungszentrum Logistik und IT“ hat das IML das „Picking Lab“, ein Kommissionierlager in Miniaturform, errichtet. Es dient der Bewertung und dem Vergleich von Kommissioniertechnologien und Logistik-IT-Systemen für die Lagerverwaltung und Steuerung von Logistikprozessen. Unternehmen soll die Entscheidung zwischen unterschiedlichen Arbeitsmitteln, von der klassischen Methode mittels Pickliste und Scanner über Pick-by-Voice bis zum Einsatz einer Datenbrille, erleichtert werden. Zielgruppe sind aber auch Anbieter von Technologien und Logistik-IT-Systemen, die ihre Entwicklungen testen wollen.

„In unserem Picking Lab können typische intralogistische Bereiche wie E-Commerce, Kleinteilekommissionierung oder Lastenhandhabung simuliert werden. Wir untersuchen und bewerten die Technologien nach ergonomischen Kriterien und objektiven Leistungskriterien in einem Person-zur-Ware-Kommissioniersetting“, erklärt Kretschmer.

Um realitätsgetreue und standardisierte Testbedingungen für die Simulation intralogistischer Bereiche zu schaffen, wurden Fachbodenregale mit verschiedenen Kleinladungsträgern und Kartonagen aufgebaut, die ein breites Artikelspektrum abbilden. Im Picking Lab können sowohl leichte Kleinteile wie Schrauben als auch schwere und voluminösere Artikel wie Werkzeugkoffer kommissioniert werden. Das Picking Lab verfügt über ein cloudbasiertes Warehouse-Management-System, an das die IT der Kommissioniertechnologien über eine Schnittstelle angebunden wird.

Das IML bietet auch Schulungen an, in denen vermittelt wird, welche Eigenschaften und Einsatzgebiete die unterschiedlichen Kommissioniertechnologien haben, um eine Wissensbasis für eine gezielte Technologieauswahl zu schaffen. Für Mitarbeiter:innen von Logistikunternehmen gibt es Trainings, in denen der Umgang mit den neuen Technologien geübt werden kann.

In Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Förder- und Lagerwesen der Technischen Universität Dortmund erstellte das IML ein Bewertungsmodell für Kommissioniertechnologien. Das IML kooperiert darüber hinaus mit verschiedenen Forschungsinstituten der Region, damit die Ergebnisse aus interdisziplinärer Sicht direkt in Forschung und Industrie einfließen können.

Zusammenfassung

Das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) befasst sich mit dem Einsatz neuer Technologien zur Optimierung von Logistikprozessen und zur Unterstützung des Menschen. Zu den Projekten zählen ein KI-System zur Prozessanalyse in der Lagerlogistik, ein Schwarm-System fahrerloser Transportfahrzeuge für die Paketsortierung, ein Test-Kommissionierlager und ein Exoskelett-Parcours.


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