Digitalisierung
Exoskelette: überschätzte Belastungsreduktion
Mag. Norbert Lechner, fachkundiges Organ Ergonomie in der AUVA-Hauptstelle, befasst sich schon seit Jahren mit dem Einsatz von Exoskeletten zur Verhinderung von Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE). Die Erwartungen, die Unternehmen in Exoskelette setzen, sind hoch, werden aber oft nicht erfüllt. Lechner gibt Auskunft darüber, was das vermeintliche „Wundermittel“ tatsächlich leisten kann.
Sie beraten Unternehmen, die den Kauf von Exoskeletten in Betracht ziehen. Warum ist das Interesse an diesen nach wie vor so hoch?
Exoskelette gelten als modern und innovativ und sollen die Mitarbeiter:innen am Arbeitsplatz entlasten. Dabei sprechen wir von einer Vielzahl unterschiedlicher Systeme für eine Vielzahl an Tätigkeiten in unserer vielfältigen Arbeitswelt, weshalb ich von pauschalen Behauptungen von vorneherein Abstand nehme. Exoskelette haben eine komplexe Wirkung auf den menschlichen Körper. Wie sie sich langfristig auf die Gesundheit auswirken, ist unklar, und das oft gehörte Versprechen, dass sie MSE verhindern, ist nicht bewiesen.
Mit dem Einsatz von Exoskeletten sind auf alle Fälle neue Herausforderungen im Bereich der Arbeitssicherheit, der Gefährdungsbeurteilung physischer Belastungen sowie der Arbeitsplanung verbunden.
Welche Arten von Exoskeletten gibt es?
Es gibt aktive und passive Exoskelette. Aktive verfügen über motorisierte Komponenten, die durch Batterien oder andere Energiequellen betrieben werden. Passive verwenden keine externen Energiequellen, sondern setzen auf Federn, Gummibänder und andere mechanische Vorrichtungen. Eine weitere Unterteilung könnte man hinsichtlich des Unterstützungsorts – z. B. obere Extremitäten, Rumpf oder untere Extremitäten – vornehmen.
Was ist der Unterschied zwischen Exoskeletten und Orthesen?
Orthesen zählen zu den medizinischen Hilfsmitteln in der Orthopädie und dienen zur Therapie bzw. Prophylaxe. Sie werden an den jeweiligen Einsatzzweck angepasst und sichern oder erhalten die Funktion eines nicht mehr voll funktionsfähigen Körperteils. Orthesen sollten nicht dauerhaft präventiv eingesetzt werden, da der Muskulatur Haltearbeit abgenommen wird, was sie langfristig abschwächt. Das kann die Verletzungsgefahr erhöhen, wenn die Orthese einmal nicht verwendet wird.
Handelt es sich bei Exoskeletten um persönliche Schutzausrüstung (PSA)?
Aufgrund der nicht allgemein wissenschaftlich nachgewiesenen positiven Wirksamkeit stellen Exoskelette keine persönliche Schutzausrüstung dar. Sie gelten als Assistenzsysteme und im Sinn des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes (ASchG) als Arbeitsmittel.
Welche gesetzlichen Rahmenbedingungen sind beim Einsatz von Exoskeletten zu beachten?
Am relevantesten ist § 7 ASchG, nach dem der:die Arbeitgeber:in bei der Gestaltung der Arbeitsstätten, Arbeitsplätze und Arbeitsvorgänge, bei der Auswahl und Verwendung von Arbeitsmitteln und Arbeitsstoffen, beim Einsatz der Arbeitnehmer:innen sowie bei allen Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer:innen allgemeine Grundsätze der Gefahrenverhütung umzusetzen hat. Laut § 33 ASchG dürfen nur Arbeitsmittel eingesetzt werden, die nach dem Stand der Technik die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer:innen so wenig wie möglich gefährden. Liegt bereits vor dem Einsatz eines Exoskeletts eine Tätigkeit mit Fehlbeanspruchung vor, muss diese zuerst so gestaltet werden, dass sie frei von physischen Beeinträchtigungen ist.
Welche Faktoren sollte man bei der Auswahl von Exoskeletten berücksichtigen?
Man muss den Funktionsmechanismus des Systems kennen, wissen, wann und wie die Unterstützung in Kraft tritt und wann sie wieder endet. Es bedarf in vielen Fällen einer messtechnischen Belastungs- bzw. Bewegungsanalyse der Tätigkeiten und Bewegungen im Arbeitsprozess, um das passende System auszuwählen. Anbieter:innen von Exoskeletten haben natürlich ein kommerzielles Interesse und preisen ihr System als optimal an, auch wenn es für die entsprechende Tätigkeit nicht passt.
Wenn sich ein Unternehmen für die Anschaffung eines Exoskeletts entschieden hat – wie sollte dann der Implementierungsprozess aussehen?
Zunächst sollte eine Gefährdungsbeurteilung der physischen Belastungen am Arbeitsplatz durchgeführt werden. Sind Maßnahmen erforderlich, ist nach dem STOP-Prinzip – Substitution vor technischen und organisatorischen Maßnahmen und zuletzt persönliche Maßnahmen – vorzugehen. Exoskelette gelten als persönliche Maßnahme und sollten daher erst zum Einsatz kommen, wenn andere Maßnahmen nicht ausreichen. Nach einer Belastungs- bzw. Bewegungsanalyse folgt eine Testphase, begleitet von umfassender Schulung und Unterweisung der Mitarbeiter:innen. Diese beinhaltet richtige An- und Ablegetechniken, Wartung und Pflege des Exoskeletts, Sicherheitshinweise und Notfallmaßnahmen. Ein nicht korrekt sitzendes System kann nicht die vorgesehene Unterstützung bieten und sogar zu einer Fehlbeanspruchung führen.
Feedback und Anpassungen basierend auf den Rückmeldungen der Nutzer:innen sind ebenfalls wichtig, gefolgt von vollständiger Integration in den Arbeitsablauf und kontinuierlicher Überwachung der Nutzung. Zusätzlich sollten die Auswirkungen mit messtechnischer Analyse objektiv untersucht werden, am besten durch Personen mit einem entsprechenden Befähigungsnachweis und ohne Verkaufsmotivation. Die AUVA unterstützt hier!
Welche Unterstützungen bietet die AUVA?
Die AUVA berät bei der Auswahl der Exoskelette und sowohl mit einer Gefährdungsbeurteilung inklusive Bewegungsanalyse vor der Anschaffung als auch mit einer Risikobewertung, wenn die Exoskelette bereits im Einsatz sind. Dafür haben wir den Leitfaden „Gefährdungsbeurteilung für Exoskelette“ ausgearbeitet.
Wie kann man die durch ein Exoskelett bewirkte veränderte Beanspruchung erfassen?
Herkömmliche Instrumente wie Ergonomie-Checklisten, z. B. die Leitmerkmalmethoden, eignen sich nicht, da sie den Arbeitsplatz bewerten und nicht die veränderte Beanspruchung durch das Exoskelett. Kardiovaskuläre Parameter wie Sauerstoffaufnahme, Herzfrequenz oder Energieverbrauch können mit einer mobilen Spiroergometrie untersucht werden. Wichtiger ist es, die Auswirkungen auf das Muskel-Skelett-System zu erfassen, etwa mit Motion Capturing und Elektromyographie, um Veränderungen von Gelenkwinkeln, Muskelaktivitäten und -spannungen zu untersuchen. Genauere Ergebnisse liefern Muskel-Skelett-Simulationen bzw. Computermodelle wie die ComputerMyoGraphie (CMG), die einen Blick in den Körper ermöglichen.
Welche Chancen und Risiken sollte man beim Einsatz von Exoskeletten bedenken?
Die Chancen umfassen eine Reduktion von Beanspruchungsspitzen sowie eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Zufriedenheit der Mitarbeiter:innen. Zu den Risiken zählen Fehlanpassungen, die zu neuen gesundheitlichen Problemen führen können, Abhängigkeit von der Technologie und mögliche Fehlfunktionen. Zu bedenken sind Kraftumleitungen bzw. -ableitungen, höhere Beanspruchungen in bestimmten Körperregionen, Muskelatrophien, Gewöhnungseffekte, Druckempfindlichkeit, Unbehagen und Einschränkung bei der Bewegung. Nachteile sind auch die hohen Anschaffungskosten sowie die Notwendigkeit regelmäßiger Wartung und Schulung der Mitarbeiter:innen.
Für welche Tätigkeiten lassen sich Exoskelette sinnvoll einsetzen?
Ein sinnvoller Einsatz zeigt sich meist dort, wo die Arme statische Haltearbeit verrichten müssen. Ein Beispiel ist die Neurochirurgie: Wenn die Arme während einer Operation länger in einem bestimmten Winkel gehalten werden müssen, kann ein Exoskelett die schwerkraftkompensierenden Muskeln entlasten. Aber auch hier ist auf die tatsächliche Armhöhe, die Bewegungen nach unten oder außen zu achten, denn Bewegungen gegen die Unterstützungsrichtung können zu einer erhöhten Beanspruchung führen. In der Zahnmedizin hat sich der Einsatz einer Armunterstützung bei mikroskopischen Arbeiten als hilfreich herausgestellt. Bei anderen Tätigkeiten, etwa dem Polieren der Zähne, kann es vorkommen, dass der:die Zahnarzt:-ärztin gegen die Führung des Systems arbeitet. Auch das Thema der Anpassbarkeit spielt eine Rolle: Ist die Armschale kompatibel mit dem Oberarm oder ist der Unterstützungsgrad falsch gewählt, wodurch es zu einer erhöhten Beanspruchung durch ein aktives Hinunterdrücken kommt? Diese Parameter sind durch Muskelaktivitätsanalysen gut zu untersuchen.
In welchen Bereichen haben sich Exoskelette in der Praxis nicht bewährt?
Es gibt viele Negativbeispiele – etwa, weil für den:die Anbieter:in der Verkauf des Systems an erster Stelle gestanden ist, oder weil die Einführung schlecht geplant und ohne Analyse durchgeführt worden ist. Oft werden Logistik und Baustellen als Paradebeispiele für den sinnvollen Einsatz von Exoskeletten genannt, weil es an technischen Lösungen mangelt. In diesen Branchen gibt es allerdings eine große Vielfalt an Aufgaben, die Arbeitsprozesse und Bewegungsgeometrien sind komplex. Exoskelette unterstützen dabei nur in Teilbereichen und schränken bei verschiedenen Arbeiten ein. Dabei zeigt sich auch der Unterschied zwischen Laboruntersuchungen, bei denen nur bestimmte Arbeitsschritte untersucht werden, und der betrieblichen Praxis.
Wenn sich ein Unternehmen entscheidet, Exoskelette dauerhaft einzusetzen, wie sieht es dann mit den Langzeitfolgen für die Nutzer:innen aus?
Die Langzeitfolgen der Nutzung von Exoskeletten sind noch nicht erforscht, aber es wäre wichtig, bei einem dauerhaften Einsatz regelmäßige Bewertungen durchzuführen, um mögliche gesundheitliche Auswirkungen feststellen zu können.
Aktuell sieht es aber so aus, dass keine Langzeitstudien durchgeführt werden können, weil Exoskelette nach anfänglicher Euphorie meist kaum genutzt werden, da sie sich in der betrieblichen Realität oft als nicht praktikabel erwiesen haben.
Wie könnte man die langfristige Wirksamkeit des Einsatzes von Exoskeletten nachweisen?
Der tatsächliche Nutzen und die Effizienz von Exoskeletten im Arbeitsumfeld könnten sich durch regelmäßige ergonomische Analysen mit Computermodellen, wiederholte messtechnische Analysen, Mitarbeiter:innenbefragungen, Feedback, Unfall- und Gesundheitsstatistiken sowie durch Leistungskennzahlen und Produktivitätsdaten nachweisen lassen.
Werden Exoskelette in Zukunft eine Lösung sein, um Mitarbeiter:innen physisch zu entlasten?
Ob Exoskelette, wie oft behauptet, die Arbeitswelt revolutionieren werden, hängt von der Weiterentwicklung der Technologie, der Kosten-Nutzen-Bewertung und der Akzeptanz durch die Mitarbeiter:innen ab. Von der Vielzahl österreichischer Unternehmen, die Exoskelette getestet haben, verwendet sie nur eine Handvoll dauerhaft, meist bei Überkopfarbeit.
Aktive Systeme mit Motor haben mehrere Nachteile: zusätzliches Gewicht am Körper, eine weitere Lärmquelle, eingeschränkte Unterstützung in nur einer Bewegungsrichtung, keine Kompatibilität mit PSA oder Arbeitskleidung.
Außerdem entwickeln sich technische Hilfsmittel wie Hebehilfen schnell weiter, Automatisierung und Robotik schreiten rasch voran. Ich denke also nicht, dass sich Exoskelette in der Praxis durchsetzen werden.
Zusammenfassung
Mag. Norbert Lechner, AUVA-Experte für Exoskelette, informiert über Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Exoskeletten. Die erhoffte Belastungsreduktion wird oft überschätzt. Die AUVA berät bei der Auswahl der Exoskelette und unterstützt durch eine Gefährdungsbeurteilung inklusive Bewegungsanalyse.