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Ergonomie

Ergonomie in der Briefsortierung

Rund die Hälfte der täglichen Brief-Versandmenge Österreichs wird im Briefzentrum Wien der Österreichischen Post AG bearbeitet. Damit ist es das größte Logistikzentrum Österreichs und zählt aufgrund seiner Ausstattung zu den modernsten Briefzentren Europas. Es zeichnet sich durch ergonomische Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten aus.

© Ülker Balli-Post AG

Das Briefzentrum Wien in Inzersdorf im 23. Bezirk versorgt Wien, Niederösterreich und das nördliche Burgenland. Es weist eine Fläche von 40.000 m2 sowie Förderbänder in der Länge von insgesamt acht Kilometern auf und ist Arbeitsort für rund 750 Mitarbeiter:innen. Diese arbeiten von Sonntagmittag bis Samstagfrüh rund um die Uhr.

Trotz eines hohen Automatisierungsgrads gibt es eine Vielzahl an Tätigkeiten, die von Menschen durchgeführt werden müssen. Die Post als Arbeitgeberin sorgt dafür, die für ein Logistikzentrum typischen Belastungen für den Bewegungs- und Stützapparat möglichst gering zu halten.

Mag.a Michaela Strebl, fachkundiges Organ für Ergonomie in der AUVA-Hauptstelle, gibt einen Überblick über die häufigsten Belastungsarten in einem Briefzentrum: „Aus ergonomischer Sicht stellen sich vielfältige Anforderungen an den Körper: heben, halten und tragen, ziehen und schieben sowie die Handhabung von Lasten in einem niedrigeren Gewichtsbereich, aber mit einem hohen Wiederholungsgrad.“

Dr.in Petra Hofer, im Bereich Gesundheitsmanagement der Österreichischen Post AG tätig, betreut mehrere Standorte der Post. „Das Briefzentrum Wien ist seit Juli 2023 mein Hauptarbeitsgebiet. Dort habe ich einen eigenen Raum, in dem ich Sprechstunden abhalte und meine Materialien aufbewahre. Ich führe Betriebsbegehungen, Schulungen und Unterweisungen durch und biete Workshops an“, erklärt die Arbeitsmedizinerin. Sie betont, dass die Post großen Wert auf Ergonomie legt. Sämtliche Arbeitsplätze im Briefzentrum Wien wurden mit der Leitmerkmalmethode evaluiert.

Der Weg der Briefe

In einem Briefzentrum beginnt der Weg der Briefe mit der Entladung des anliefernden Lkw. Wird dies händisch durchgeführt, müssen die Behälter mit den Briefsendungen gehoben und zum Weitertransport z. B. auf Rollwagen gestellt werden. Das belastet – insbesondere bei einer falschen Hebetechnik oder wenn man Drehbewegungen ausführt – vor allem die Wirbelsäule, aber auch die Kniegelenke. Außerdem besteht bei Be- und Entladetätigkeiten eine vergleichsweise hohe Unfallgefahr, etwa durch Absturz von der Ladefläche.

Im Briefzentrum Wien werden diese Risiken durch Automatisierung vermieden. „Die in Behältern angelieferten Sendungen stehen in Briefbehälterrollwagen, welche die Mitarbeiter:innen nur in die vier Entladeroboter hineinschieben müssen. Die Roboter entladen die Wagen und stellen die Behälter auf ein Förderband“, beschreibt Gerhard Rinner, Schulungsbeauftragter im Briefzentrum Wien, den ersten Arbeitsschritt.

© Ülker Balli-Post AG

Sortierung und Codierung

In der Folge durchlaufen die Briefe mehrere Stationen. Sie werden gestempelt – also entwertet – und, getrennt nach Format, in Kleinbriefsortieranlagen (bis Format C5 und ein Gewicht von 50 g), in Flat-Sortieranlagen (bis Format B4 und 2 kg) bzw. in einer Großbriefsortieranlage (über Format B4 und bis 2 kg) nach Postleitzahl sortiert. Kann der OCR-Leser die Empfängeradresse nicht entziffern, übernehmen Mitarbeiter:innen an einem Videocodierplatz die Zuordnung. Diese haben – wie alle Beschäftigten im Briefzentrum, die sitzende Tätigkeiten ausüben – höhenverstellbare ergonomische Arbeitsstühle und -tische.

Körperlich besonders anstrengend ist die – fast ausschließlich von Männern durchgeführte – Arbeit an der Bundverteilanlage. Dabei müssen vom Absender bereits nach Postleitzahl geordnete und gebündelte Briefsendungen in Container, die mit Postleitzahlen versehen sind, einsortiert werden. „Die Bünde wiegen maximal zehn Kilogramm. Eine Person hebt an einem Arbeitstag insgesamt mehrere tausend Kilogramm“, illustriert Rinner die Belastung mit Zahlen. Um die Arbeit durch die ergonomisch richtige Manipulationshöhe zu erleichtern, kommen Scherenhubtische zum Einsatz. Ungebündelte Briefe in einem Format bis C5 werden händisch aus den Behältern genommen und in die Eingabestelle der Letter Sorting Machine eingelegt.

Stehen, ziehen und schieben

An den Steharbeitsplätzen sind trittelastische Bodenmatten verlegt, welche die Probleme, die sich bei langem Stehen auf einem harten Untergrund ergeben, verringern. Die Beinmuskulatur ermüdet nicht so schnell, und es wird Durchblutungsstörungen vorgebeugt. Bei der Platzierung der Matten wurde darauf geachtet, keine Stolperstellen oder Hindernisse für die Transportwägen zu schaffen.

Beim Ziehen und Schieben von Transportwägen werden vor allem Hände, Arme und Schultern belastet, wobei Schieben günstiger ist als Ziehen. Ruckartige Bewegungen sollten vermieden werden. Erschwerend wirken sich enge Kurven, Bodenunebenheiten und Steigungen bzw. Gefälle aus. Derartige Problemstellen gibt es im Briefzentrum Wien nicht, wie Rinner betont: „Das Briefzentrum ist ebenerdig, die Böden sind glatt und die Fahrwege ausreichend breit. Außerdem haben wir über 50 Elektrofahrzeuge angeschafft.“

© Ülker Balli-Post AG
© Ülker Balli-Post AG

Auswahl von Hilfsmitteln

Es kommt nicht nur darauf an, über welche Arbeitsmittel zur Reduktion von Belastungen des Muskel-Skelett-Systems ein Unternehmen verfügt, sondern auch darauf, wie diese in den Arbeitsprozess integriert sind und ob sie von den Beschäftigten genutzt werden. „Vor allem bei leichteren Lasten wird das Erkrankungs- und Unfallrisiko oft unterschätzt und man verzichtet auf Hilfsmittel“, so Strebl. Diesbezüglich stellt sie dem Briefzentrum Wien ein gutes Zeugnis aus: Die Mitarbeiter:innen wissen, welche Hilfsmittel es gibt, wie man sie verwendet und einsetzt. Die Post ist bemüht, die Belastungen der Beschäftigten am Arbeitsplatz weiter zu reduzieren und testet laufend neue Angebote. Bringen diese tatsächlich eine Erleichterung, werden sie im Normalbetrieb eingesetzt. Dabei ist die Akzeptanz durch die Nutzer:innen ein wesentliches Kriterium. Während sich Anschaffungen wie Entladeroboter oder Scherenhubtische gut bewährt haben, wurden andere Hilfsmittel als nicht geeignet befunden.

Nicht den Erwartungen entsprochen hat beispielsweise ein Hochfrequenzlifter, der Katalogbündel mithilfe einer Vakuumansaugung anhebt und auf das Förderband legt. Auch Exoskelette zur Unterstützung des Rückens wurden nach einer Testphase abgelehnt. Exoskelette sind nur dann sinnvoll, wenn immer die gleichen Bewegungen ausgeführt werden müssen.

Umgebungsbedingungen

Neben Heben, Halten und Tragen, Schieben und Ziehen oder langem Sitzen bzw. Stehen wirken sich auch Umgebungsbedingungen auf die Gesundheit aus. So werden die Augen bei schlechter Beleuchtung stärker belastet und das Risiko eines Arbeitsunfalls steigt, da man Hindernisse leichter übersieht. Im Briefzentrum Wien sorgt eine tageslichtabhängige Steuerung der Beleuchtung für gute Sicht, Blendungen werden vermieden.

Das Raumklima hat ebenfalls gesundheitliche Effekte. Durch Zugluft kühlt die Muskulatur aus, was Verspannungen zur Folge haben kann. Kälte und trockene Luft reizen die Atemwege. Hitze führt oft zu Kreislaufproblemen, beeinträchtigt das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit. „Bei uns sorgt eine Lüftungsanlage für ein gutes Raumklima. Wenn es in der Halle zu warm und draußen kühl ist, öffnen sich die Oberlichten und die warme Luft wird hinausgedrückt“, beschreibt Rinner.

Psychische Belastungen

Stress, mangelnde Unterstützung durch Vorgesetzte, Konflikte unter Kollegen:Kolleginnen und fehlende Mitbestimmungsmöglichkeiten beeinträchtigen die Arbeitszufriedenheit. In Studien konnten darüber hinaus Auswirkungen auf den Bewegungs- und Stützapparat nachgewiesen werden, insbesondere Verspannungen sowie Schmerzen im Schulter-Nacken-Bereich und im Rücken.

Das Briefzentrum Wien wird auch im Hinblick auf die Vermeidung psychischer Belastungen seiner Rolle als Good-Practice-Betrieb gerecht. Die Mitarbeiter:innen haben Partizipationsmöglichkeiten, z. B. bei der Gestaltung von Arbeitsprozessen und Pausen. Die Präventivfachkräfte und die Arbeitsmedizinerin sind präsent, die Mitarbeiter:innen wissen, wer Ansprechperson ist, Prävention wird gelebt.

© Ülker Balli-Post AG

Schulungen und Veranstaltungen

Hofer hält im Briefzentrum Wien laufend Schulungen ab und erklärt, unter anderem anhand eines Kunststoffmodells einer Wirbelsäule, wie sich Belastungen auf das Muskel-Skelett-System auswirken. Einmal im Jahr findet ein Gesundheitstag statt. „Beim Gesundheitstag spreche ich die Mitarbeiter:innen proaktiv an, frage, ob sie wissen, wie man ergonomisch hebt und ob sie eine Eins-zu-eins-Beratung in Anspruch nehmen wollen. Diese Angebote werden gut angenommen“, freut sich Hofer.

Am 13. Juni 2024 hielt Strebl in Zusammenarbeit mit Hofer im Briefverteilzentrum Wien einen Workshop zur Lastenhandhabung ab. In einem theoretischen Teil wurde erklärt, wie man körpergerecht hebt und trägt. Anschließend konnten die Teilnehmenden in einem Stationenbetrieb ihre Hebetechnik in der Praxis erproben. Der Hebevorgang wurde mit „HUMEN Dynamics“, einem System zur markerlosen Bewegungserfassung, per Video in Echtzeit dargestellt und analysiert. Auch die App „Heben und Tragen“ der AUVA kam zum Einsatz. Diese ermöglicht eine einfache und rasche Bewegungsanalyse mittels Mobiltelefon oder Tablet.

Damit die Aufmerksamkeit für das Thema Ergonomie auch zwischendurch erhalten bleibt, werden Schulungsvideos für körpergerechtes Handhaben von Lasten auf Screens im Eingangsbereich und in der Kantine abgespielt. Zusätzlich gibt es schriftliche Informationsmaterialien, etwa eine von der Post herausgegebene Broschüre mit dem Titel „DIE POST BEWEGT. Richtige Haltung und Bewegung am Arbeitsplatz“. Die Broschüre beinhaltet Tipps, wie typische Bewegungsabläufe bei der Post körperschonend durchgeführt werden können, sowie Ausgleichsübungen zur Entspannung und Durchblutungsförderung.

Paketlogistik

Die Broschüre richtet sich an Post-Mitarbeiter:innen in Logistikzentren, Zustellbasen und in der Transportlogistik. Je nach Arbeitsplatz und Aufgabenbereich unterscheiden sich die Tätigkeiten und damit auch die körperlichen Belastungen. Anne Mück, MSc, fachkundiges Organ für Ergonomie in der AUVA-Landesstelle Wien, hat sich den Paketbereich näher angesehen. Hier wirkt sich vor allem das im Vergleich zu Briefen höhere Gewicht der einzelnen Sendungen auf den Bewegungs- und Stützapparat aus.

„Die Post ist sehr motiviert und engagiert, die Belastung für die Mitarbeiter:innen zu reduzieren. Den Charakter der Tätigkeiten kann man nicht ändern, aber einen Mix aus technischen, organisatorischen und personenbezogen Maßnahmen umsetzen“, so Mück. Als Beispiel für eine technische Maßnahme in Paketzentren der Post nennt sie Paketentladesysteme anstelle von manuellem Entladen des Lkw.

Ein wesentliches Instrument zur Organisation der Arbeitsabläufe ist die Rotation der Beschäftigten. Dabei führen die Mitarbeiter:innen im Laufe eines Arbeitstags verschiedene Tätigkeiten mit unterschiedlichen Belastungsarten aus, was sich positiv auf den Bewegungsapparat auswirkt. Mück empfiehlt, diese Rotation zwischen den Bereichen Heben und Tragen einerseits und repetitiven Tätigkeiten andererseits vorzunehmen, um die Mitarbeiter:innen zu entlasten. Manchmal haben sich einzelne Beschäftigte ergonomisch ungünstige Arbeitsweisen angewöhnt, die sie ändern sollten.

Für den Paketbereich plant die Post ebenfalls gemeinsam mit der AUVA einen Workshop mit Theorieteil und Stationenbetrieb. „Es geht darum, die Beschäftigten dafür zu sensibilisieren, dass die Art und Weise, wie sie arbeiten, den Grad der Belastung beeinflusst. Wir wollen die Kommunikation über unterschiedliche Arbeitsweisen anregen, da die besten Ideen meist von den Beschäftigten selbst kommen“, so Mück.

Zusammenfassung

Im Briefzentrum Wien in Inzersdorf hat die Post eine Reihe von Maßnahmen umgesetzt, um die körperliche Belastung der Beschäftigten zu reduzieren. Dazu zählen Entladeroboter, eine weitgehend automatisierte Sortierung der Briefsendungen sowie Hebehilfen. In Schulungen und bei Veranstaltungen erfahren die Arbeitnehmer:innen, wie man körpergerecht hebt und trägt.


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