Digitalisierung
Alte und neue Herausforderungen digitalisierter Büroarbeit
Vor dem Hintergrund einer digitalisierten Arbeitsorganisation sind Beschäftigte in modernen Büros mit alten und neuen Herausforderungen und Belastungen konfrontiert. Dazu zählen etwa eine hohe Arbeitsintensität, die ständige Erreichbarkeit über digitale Kommunikationskanäle oder zeitlich und räumlich entgrenzte Arbeit. In diesem Artikel zeigen wir anhand der ersten Ergebnisse einer Betriebsfallstudie (ShapeTech)2, wie Beschäftigte diesen allgemeinen Herausforderungen mit individuellen Strategien entgegentreten.
Tanja1 arbeitet in einer großen Organisation, macht dort Projektarbeit und lehrt in Seminaren. Die Arbeit beschreibt sie als „viel Denkarbeit, viel Büroarbeit“. Sie arbeitet einige Tage pro Woche von zu Hause aus, was ihr den Anfahrtsweg zur Arbeit erspart. An beiden Arbeitsorten beginnt ihr Arbeitstag recht früh, zwischen 6:15 Uhr und 7:30 Uhr. Wenn sie ins Büro fährt, beginnen die Arbeitstage von Tanja schon vor dem offiziellen Arbeitsbeginn, nämlich auf dem Weg zur Arbeit im Zug. Sie nutzt die Anfahrtszeit im Zug, um sich in besonders arbeitsintensiven Zeiten eine Entlastung zu verschaffen, indem sie erste E-Mails auf ihrem Laptop oder Smartphone bearbeitet und sich überlegt, was sie an diesem Arbeitstag alles zu tun hat: „Dann entspannt es mich, wenn ich schon vorher sehe, was auf mich zukommt“. Der weitere Arbeitstag ist abwechslungsreich, sie bereitet sich auf Besprechungen vor, arbeitet an Material für ihre Seminare, hält diese ab, erledigt Administratives und telefoniert mit anderen Abteilungen. Für fast alle ihre Tätigkeiten nutzt sie digitale Anwendungen, darunter eine organisationsinterne Administrationsanwendung und unterschiedliche Anwendungen aus dem Office-Paket. Typischerweise enden die Arbeitstage gegen 16:00 Uhr, ganz zu Ende ist der Arbeitstag damit aber nicht immer. Die anfallende Arbeit geht sich in den vertraglich vereinbarten Wochenstunden nur in der Jahresdurchrechnung aus: In arbeitsintensiven Zeiten werden Mehrarbeitsstunden geleistet, die im Laufe des Sommers wieder abgebaut werden (müssen). Digitale Technologien ermöglichen dabei eine Arbeitsweise, die sich nicht nur auf die vereinbarte Arbeitszeit und das Büro beschränkt. Am Ende des Arbeitstags kommt es immer wieder vor, dass Tanja sich emotional erschöpft fühlt und von ihrer Arbeit belastet ist.
In dieser kurzen Beschreibung eines prototypischen Arbeitstags einer Angestellten aus einem laufenden Forschungsprojekt werden unterschiedliche Aspekte, die belastend sein können, deutlich. Dazu gehören eine hohe Arbeitsintensität, die Verteilung der Arbeitsbelastung im Jahresverlauf sowie Arbeit an den Abenden oder Wochenenden, aber auch die ständige Erreichbarkeit über digitale Kommunikationskanäle. Manche dieser Belastungen bringen wir mit digitalisierten Arbeitsweisen in Verbindung, also Arbeitsweisen, die erst durch den Einsatz digitaler Technologien ermöglicht werden. Zu diesen Belastungen gehören einerseits die Arbeit, die digital unterstützt außerhalb des Büros gemacht wird (z. B. im Homeoffice), und andererseits Tätigkeiten, die eng an bestimmte Anwendungen geknüpft sind (z. B. Workflow-Systeme wie SAP). In der Literatur werden solche Belastungen als Technostress bezeichnet[3]. Sie umfassen unter anderem Unterbrechungen und Ablenkungen bei der Arbeit sowie die wahrgenommene Notwendigkeit, schnell auf arbeitsbezogene Nachrichten zu reagieren[1,4]. Außerdem führt digitales Arbeiten bei Frauen häufiger zu einer Mehrbelastung als bei Männern, und sie haben seltener die Möglichkeit, den Einsatz digitaler Technologien zu beeinflussen[5]. Hinzu kommen besondere Herausforderungen bei Mehrfachbelastungen außerhalb der Arbeit, wie beispielsweise die Notwendigkeit, Care-Arbeit zu leisten. Dieses „vergeschlechtlichte Flexibilitätsparadox“[2] verdeutlicht, dass die neuen flexiblen, technologiegestützten Arbeitsweisen insbesondere bei Frauen mit Betreuungspflichten zu Belastungen führen können.
Methodische Vorgehensweise im Projekt
Um Potenziale für die Humanisierung hochdigitalisierter Büroarbeit zu untersuchen, führen wir im Rahmen eines laufenden Forschungsprojekts zwei Betriebsfallstudien durch. Dadurch erhalten wir Einblicke in die täglichen Arbeitspraktiken der Büroangestellten und ihre Arbeitsorganisation. Konkret beginnen die Betriebsfallstudien mit problemzentrierten Interviews mit jeweils zehn Angestellten pro Betrieb. Anschließend protokollieren diese Angestellten detailliert ihre täglichen Aktivitäten und die verwendeten Technologien über einen Zeitraum von mehreren Arbeitstagen. Zudem füllen sie täglich zwei kurze Fragebögen zu Stimmung und Technologienutzung aus. Um mehr über die Arbeitsbelastungen zu erfahren, werden die zehn Teilnehmer:innen mit einem biometrischen Self-Tracking-Tool – einer Smartwatch und einem Stirnband3 – ausgestattet, um Rückschlüsse auf die Häufigkeit von Stress und Konzentration für jeden Arbeitstag während der beobachteten Arbeitswoche zu ermöglichen.
Es ist dann doch so, dass man den Laptop zuhause aufdreht. Und nach der E-Mail kommt dann noch eine E-Mail und so entstehen halt die Überstunden.
In einem weiteren Schritt werden alle erhobenen Daten einschließlich der problemzentrierten Interviews, Fragebögen, Tagesprotokolle, Stress- und Konzentrationswerte auf der Grundlage biometrischer Daten in individuellen Berichten für jeden:jede Teilnehmer:in verdichtet. Jeder Bericht folgt dabei einer ähnlichen Struktur, die eine Interpretation der Arbeitsorganisation, der Arbeitsbedingungen und des Stressniveaus ermöglicht. Ein zentrales Ziel dieses Schrittes ist es, die biometrischen Daten zu Stress und Aufmerksamkeit im Laufe eines Arbeitstages mit den subjektiven Daten der Teilnehmer:innen zu den Aufgaben und Technologien zu verknüpfen, um Feedback zum Arbeitsprozess, den Tätigkeiten und der Technologienutzung sowie zu den Stress- und Konzentrationsmessungen zu geben. In einem letzten – und zentralen – Forschungsschritt sind die Teilnehmer:innen eingeladen, ihre individuellen Berichte in teilstrukturierten Fokusgruppen zu diskutieren.
Allgemeine Arbeitsbelastungen, individueller Umgang
Die eingangs beschriebene Arbeitspraxis von Tanja im Umgang mit Arbeitsbelastungen stellt dabei eine von mehreren unterschiedlichen Herangehensweisen der in unserer Studie repräsentierten Beschäftigten dar. Auffällig dabei ist, dass die Beschäftigten meist individuell auf die Belastungssituationen reagieren, obwohl es sich häufig um Problemlagen im Zusammenhang mit der Arbeitsorganisation handelt, die somit viele Beschäftigte betreffen können.
Die folgende Darstellung basiert auf der ersten der beiden Betriebsfallstudien. An der Studie nahmen einerseits Beschäftigte mit komplexen Tätigkeitsfeldern und geringem Anteil an Routinetätigkeiten und andererseits Beschäftigte mit administrativen Aufgabenbereichen teil. Die Beschäftigten arbeiten alleine, aber auch in Teams mit Kollegen:Kolleginnen, und arbeiten meist sehr selbstverantwortlich. Ein wesentlicher Belastungsfaktor für die Arbeit in dieser Betriebsfallstudie ist jedenfalls eine stark unterschiedliche Arbeitsmenge im Jahresverlauf mit hohen Spitzen und Zeiten, in denen sehr wenig Arbeit anfällt. Hinzu kommt eine Arbeitsorganisation, die durch den Einsatz digitaler Anwendungen geprägt ist und eine örtlich und zeitlich flexibilisierte Arbeit ermöglicht – aber auch erfordert. Gerade Aspekte der digitalen Erreichbarkeit tragen zu einem Gefühl ständiger Arbeitsbelastung bei. Eine Teilnehmerin beschreibt in diesem Zusammenhang eine typische Arbeitsweise:
Die hohe Anzahl an digitalen Anwendungen, die für die Erfüllung der Arbeit benötigt werden, ist für manche Teilnehmer:innen problematisch, aber nicht für alle. Die Menge an Nachrichten und zu bearbeitenden Anfragen wird hingegen allgemein als überfordernd beschrieben. Hinzu kommen insbesondere bei Projektarbeit eine hohe Eigenverantwortung und enge kollegiale Beziehungen, die eine hohe Identifikation mit der Arbeit zur Folge haben.
Für diese Arbeitsbelastungen, die mehr oder weniger direkt mit einer digitalisierten Arbeitsorganisation zusammenhängen, haben alle Beschäftigten in unserer Studie individuelle Herangehensweisen entwickelt. So zeigt sich erstens eine hohe Bereitschaft der Beschäftigten, die Arbeitsbelastungen eigenständig auszugleichen. Dies geschieht etwa, indem sie Prioritäten zwischen Arbeitszeit und arbeitsfreier Zeit verschieben.
„Die Arbeit ist insgesamt leichter, wenn man auch einmal außer der Reihe arbeitet. Das lässt sich leichter bewältigen, diese Spitzen lassen sich besser abfangen, wenn man auch einmal an einem freien Tag arbeitet.“ (Caroline, Administration)
Beschäftigte versuchen also ihre Arbeitsbelastung durch eigenständige Mehrarbeit zu verringern – ein Verhalten, das von Studienteilnehmerin Tanja als „toxische Leistungsbereitschaft“ bezeichnet wird. Diese Mehrarbeit wird an Wochenenden, freien Tagen, vor oder nach der Arbeit erledigt. Zweitens begegnen die Beschäftigten Arbeitsbelastungen durch einen Parallelisierungsakt, indem sie ihre Erwerbsarbeit und die reproduktive Arbeit gleichzeitig organisieren. Diese Kategorie betrifft in erster Linie Frauen mit Betreuungspflichten und bedeutet etwa, dass anfallende Hausarbeiten in kurzen Pausen während der Arbeit im Homeoffice erledigt werden oder ein krankes Kind während der Bearbeitung von E-Mails gepflegt wird. Dies erfordert jedoch eine ständige Ausbalancierung zwischen den Tätigkeitsbereichen und Verantwortlichkeiten und kann auch zur Festigung traditioneller Geschlechterverhältnisse beitragen. Um ihre Arbeit auf der einen Seite und die Betreuung ihrer Kinder auf der anderen zu gewährleisten und auch ihren Ansprüchen an sie selbst als Mutter gerecht zu werden, arbeiten gerade Mütter von kleinen Kindern auch abends oder am Wochenende. In einer dritten von uns identifizierten Herangehensweise ist den Beschäftigten eine klarere Grenzziehung zu ihrer Erwerbsarbeit eher möglich. Dazu gehört etwa die strikte Ablehnung der Nutzung arbeitsrelevanter digitaler Anwendungen außerhalb der vereinbarten Arbeitszeiten.
„Ich habe absichtlich Teams und meinen Mail-Account auf meinem privaten Handy nicht aktiviert. Also absichtlich nicht.“ (Mario, technischer Support)
Auch dient die Priorisierung nicht arbeitsrelevanter Tätigkeiten (z. B. Freizeitaktivitäten) und Verantwortlichkeiten (z. B. Fokus auf Erziehung oder Pflege) als Argument, klarere Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit zu ziehen. Die Möglichkeit zu dieser Grenzziehung scheint aber vor allem für Beschäftigte mit längerer Berufserfahrung oder für Beschäftigte mit administrativen Tätigkeiten relevant zu sein.
Anmerkungen
1 Studienteilnehmer:innen sind pseudonymisiert
2 „Shaping technology: biometric data, collective empowerment and humanization of work” (ShapeTech) (2021–2024); gefördert vom Wiener Wissenschafts- Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) im Call „Digitaler Humanismus“; Projektnummer: 10.47379/ICT20034.
3 Zum Einsatz kommen die Smartwatch Empatica E4 und das Stirnband BrainLink Pro
Literatur
[1] Barber, L. K., & Santuzzi, A. M. (2015). Please respond ASAP: Workplace telepressure and employee recovery. Journal of Occupational Health Psychology, 20(2), 172–189. https://doi.org/10.1037/a0038278
[2] Chung, H. (2022). The Flexibility Paradox: Why Flexible Working Leads to (Self-)Exploitation. In The Flexibility Paradox. Policy Press. https://doi.org/10.56687/9781447354796
[3] Marsh, E., Vallejos, E. P., & Spence, A. (2022). The digital workplace and its dark side: An integrative review. Computers in Human Behavior, 128, 107118. https://doi.org/10.1016/j.chb.2021.107118
[4] Rose, E. (2013). Access denied: employee control of personal communications at work. Work, employment and society, 27(4), 694–710.
[5] Institut DGB-Index Gute Arbeit (Hg.) (2017): DGB-Index Gute Arbeit. Digitalisierung der Arbeitswelt. Was bedeutet die Digitalisierung der Arbeitswelt für Frauen. Berlin
Zusammenfassung
In dem Artikel werden die vielfältigen Belastungslagen von zehn Beschäftigten einer Betriebsfallstudie diskutiert. Der Einsatz digitaler Anwendungen und mobiler Endgeräte ermöglicht eine räumlich und zeitlich flexible und intensivierte Arbeitsorganisation. Den Herausforderungen, die sich aus dieser Arbeitsorganisation ergeben, stellen sich die Beschäftigten meist individuell und unter dem Einsatz ihrer ganzen Person. Dieser Einsatz umfasst die Bereitschaft, hohe Arbeitsbelastungen eigenständig auszugleichen, und einen Parallelisierungsakt zwischen Arbeit und Familie. Nur manche schaffen es, sich abgegrenzte arbeitsfreie Zeiten zu nehmen, in denen sie arbeitsrelevante digitale Kommunikation insgesamt vermeiden.