Arbeitspsychologie
Ausbildung ohne Risiko?
Im Zusammenhang mit Arbeitsunfällen von Jugendlichen wird oft beklagt, diese hätten kein Risikobewusstsein und gingen völlig sorglos an die Arbeit. Doch was bedeutet es eigentlich, risikobewusst zu handeln – und ist eine Ausbildung von Jugendlichen ohne Risiko überhaupt möglich?
Viele Entwicklungsaufgaben können Jugendliche nur unter Risiko bewältigen. Dazu zählt zum Beispiel auch, Freundschaften und Partnerschaften aufzubauen oder den Umgang mit Konflikten zu lernen. Außerdem wollen Jugendliche neue, herausfordernde Situationen ihres Lebens meistern lernen. Sie schießen dabei zuweilen über das Ziel hinaus und geraten so in riskante Situationen. Jugendliche können oft die Konsequenzen ihres Verhaltens noch nicht richtig einschätzen. Denn entwicklungsbedingt kommt es während der Adoleszenz zu natürlichen Umbauprozessen im Gehirn. Dabei entwickelt sich das limbische System, unser Belohnungszentrum, das auch für Hochgefühle zuständig ist, schneller als der präfrontale Kortex, der die Kontrollfunktion innehat. Durch diese Dominanz des Belohnungszentrums ist das Urteilsvermögen in dieser Phase der Reorganisation eingeschränkt.
Außerdem haben Jugendliche in vielen Bereichen wenig Erfahrung und kennen ihre eigenen Grenzen nicht. Ihr Drang zum Experimentieren und Ausprobieren führt, verbunden mit dem Glauben, dass sie sich schon noch retten könnten, wenn etwas passiert, zu einer gewissen Sorglosigkeit bei der Arbeit. Bewältigte Gefahrensituationen können in weiterer Folge auch als Erfolgserlebnisse interpretiert werden, die das wahrgenommene Selbstwertgefühl steigern und daher auch in Zukunft gesucht werden. Genauso können diese riskanten Gelegenheiten gesucht werden, um sich bei den Kollegen:Kolleginnen Anerkennung zu holen, vor allem von Gleichaltrigen – verbunden mit einer größeren Angst vor möglicher Zurückweisung.
Diese Faktoren zeigen, dass Jugendliche zu riskanten Verhaltensweisen neigen. Jedoch muss auch klar hervorgehoben werden, dass Jugendliche in der Pubertät nicht fremdgesteuert sind. Sie können sich auch in dieser Phase ihres Lebens an Regeln und Vorschriften halten.
Jugendliche Risikokompetenz im Alltag
Risikokompetenz setzt sich aus Gefahrenbewusstsein und der Fähigkeit zur Selbststeuerung zusammen. Gefahrenbewusstsein bedeutet, potenzielle Gefahren wahrnehmen und als solche beurteilen zu können. Selbststeuerungsfähigkeit bedeutet, eine Entscheidung treffen zu können, wie mit dem Risiko umzugehen ist, und die Handlung ausführen zu können.
Wenn man sich in bestimmten Situationen nicht bewusst ist, dass eine Gefahr droht, wird man auch keine Vorsichtsmaßnahmen treffen, selbst wenn man die Lösungsstrategien kennt. Risikokompetenz beinhaltet daher die Fähigkeit, Risiken als solche zu erkennen, also Situationen, bei denen man etwas verlieren kann, das man nicht verlieren möchte. Wer Gefahren und Risiken im eigenen Handlungsfeld kennt, lebt sicherer und gesünder.
Die Wahrnehmung einer aktuellen Situation erfolgt auf Basis von Sinneseindrücken und vorangegangenen Erfahrungen. Dabei kann jedoch die Erfahrung mit Gefahren auch zu einer Zunahme von riskanten Handlungen führen. Denn wer immer wieder die Erfahrung macht, dass in riskanten Situationen nichts Schlimmes passiert, kann sich daran gewöhnen, dass man sich zum Beispiel nicht an Regeln halten muss oder dass Schutzmaßnahmen ohne negative Folgen umgangen werden können.
Einschätzung von Gefahren
Auch die Aufmerksamkeit spielt eine wichtige Rolle beim Erkennen von Gefahren. So scheint es besonders schwierig zu sein, Gefahren bei ganz gewöhnlichen Tätigkeiten oder Routineaufgaben wahrzunehmen, und es kommt gerade bei alltäglichen Tätigkeiten, wie zum Beispiel dem Gehen, zu vielen Unfällen. Das hängt damit zusammen, dass wir uns bei diesen Handlungen relativ sicher fühlen und uns daher auch nicht auf die Ausführung konzentrieren. Hingegen erfordern unsichere Handlungen unsere volle Aufmerksamkeit, sodass bei offensichtlich gefährlichen Situationen verhältnismäßig weniger Unfälle passieren.
Bei der Beurteilung geht es um die subjektive Einschätzung: Worin besteht die Gefahr – was genau kann passieren? Wie häufig tritt innerhalb einer bestimmten Gruppe dieses oder jenes Ereignis ein? Es ist dabei leicht nachzuvollziehen, dass die wenigsten Jugendlichen die Häufigkeit bestimmter Unfälle, wie zum Beispiel Schnittverletzungen, bei der Arbeit kennen.
Daher greifen Menschen in Situationen, in denen sie zu wenige Informationen haben, auf Entscheidungshilfen zurück, sogenannte Urteilsheuristiken. Durch diesen „Trick“ können wir Häufigkeiten von Ereignissen abschätzen: Ereignisse, an die wir uns leichter erinnern können, schätzen wir als wahrscheinlicher ein als andere Ereignisse. Dies ist in vielen Fällen eine praktische Bewertungshilfe, die allerdings auch dazu führen kann, dass Situationen mit negativen Konsequenzen, über die in Medien sehr häufig und dramatisch berichtet wird, leichter erinnert werden und daher auch in ihrer Häufigkeit überschätzt werden.
Aufgrund von Informationen oder eben Heuristiken können wir Vor- und Nachteile verschiedener Handlungsoptionen gegeneinander abwägen: Überwiegen die Chancen oder die möglichen Verluste? Bei der Abwägung spielen die bereits genannten Faktoren der Anerkennung und Dominanz des Belohnungszentrums eine Rolle. Ist eine Entscheidung gefallen, dann muss auch an der Entscheidung festgehalten und danach gehandelt werden – notfalls auch gegen den Gruppendruck.
Risikokompetenz im Lehrbetrieb fördern
Die Sicherheit der Lehrlinge wird in Betrieben und in gesetzlichen Vorschriften zu Recht als hohes Gut angesehen. Doch zunehmend wird erkannt, dass ein risikofreier Zustand nicht erreicht werden kann. Alle Risiken auf null zu reduzieren ist angesichts der Vielzahl von Möglichkeiten eines Schadens nicht zu realisieren. Jeder Tag, jeder Moment in unserem Leben ist mit einem gewissen Grundrisiko verbunden. Daher müssen Lehrlinge und Jugendliche den Umgang mit den Risiken am Arbeitsplatz lernen. Die Hinführung zur Gefahreneinschätzung ist die beste Schadensprävention.
In den letzten Jahren ist jedoch eine Entwicklung in Richtung „Over-Protection“ zu erkennen, verbunden mit dem Versuch, Jugendliche von jeder Situation fernzuhalten, in denen ihnen etwas passieren kann. Diese Überbehütung und auch Ängstlichkeit seitens der Eltern und Lehrer:innen bremst oft die Entwicklung (vgl. Einwanger 2007).
Im Gegensatz dazu wird in der pädagogischen Diskussion auf die Notwendigkeit von Risiko als Erfahrungsfaktor und des Erlernens eines adäquaten Umgangs mit riskanten Situationen hingewiesen. Der Pädagoge Gerald Koller stellt in diesem Zusammenhang die Frage, „ob es in unserer Welt möglich ist, Kinder vor etwas zu bewahren – oder ob es nicht wesentlich wirksamer ist, sie dabei zu begleiten, sich zu bewähren“ (Koller, S. 21).
Es ist wichtig, junge Menschen rechtzeitig und ohne Zeitdruck an neue Aufgaben heranzuführen. Ihnen sollte die Möglichkeit gegeben werden, sich im Arbeitsumfeld sicher zu bewegen, Gefahren zu erkennen und entsprechend einzuschätzen. In der Ausbildung kann dabei auch die Selbstreflexion und die Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen angestoßen werden, um Handlungsoptionen für das eigene Leben zu entwickeln. Risikokompetenz befähigt uns somit, die Chancen der Risiken zu nutzen und die Verluste zu minimieren.
Diese Herangehensweise des Bewährens bedeutet nun nicht, alle Sicherheitsrichtlinien über Bord zu werfen. Im Sinne der Prävention ist es weiterhin erforderlich, Risiken durch technische, organisatorische und personenbezogene Maßnahmen zu minimieren, wobei eben oft ein Restrisiko bleibt.
Definition von „Gefahr“ und „Risiko“
Unter Gefahr versteht man die Möglichkeit, dass ein Schaden eintreten kann. Sie ist unabhängig von den handelnden Personen und negativ bewertet. Risiko ergibt sich andererseits aus der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses multipliziert mit dem Schadensausmaß, das beim Ereignis entstehen kann.
Der Schaden bezieht sich nicht nur auf die körperliche Unversehrtheit und Gesundheit, sondern auf alles, was man ungerne verlieren möchte, wie zum Beispiel materieller Besitz, oder auch Immaterielles wie die eigene Ehre, Anerkennung seitens der anderen, die Zeit, die uns selbst zur Verfügung steht, oder die Zeit, die uns andere gönnen.
Risiken sind durch das Eingehen von Gefahren subjektbezogen. Das heißt, Risiken sind nicht als schicksalhaft zu betrachten und der:die Betroffene steht ihnen nicht passiv gegenüber. Vielmehr kann eigenes Handeln vorab abgeschätzt, bewertet und verändert werden. Risiken eröffnen damit aktive Handlungsräume, die auch Chancen beinhalten, die einen Gewinn, wie zum Beispiel neue Erfahrungen, bringen können.
Förderung der Risikokompetenz
In der Ausbildung von Jugendlichen ist Folgendes zu beachten:
- auf Gefahren hinweisen und die Wahrnehmung dieser Gefahren schärfen
- einen sinnvollen Umgang mit Risiken aufzeigen und besprechen
- Jugendliche in einem verantwortbaren Rahmen und mit entsprechender Vorbereitung Erfahrungen machen lassen
- Unfallprävention als selbstverständlichen Teil in der Planung und Vorbereitung aller Tätigkeiten berücksichtigen, wie zum Beispiel bei der Wahl der Arbeitsmittel und bei Verhaltensregeln
- Aufgaben mit den Jugendlichen vorbesprechen, Regeln abmachen und konsequent einfordern
- Jugendliche während der Arbeitsschritte immer im Auge behalten und bei Bedarf auf Gefahren hinweisen
- Aktivitäten notfalls abbrechen
- als Ausbildner:in risikokompetentes Verhalten vorleben
Zusammenfassung
Die berufliche Ausbildung von Jugendlichen ist oft auch mit Risiken verbunden. Der Aufbau der Risikokompetenz unterstützt Jugendliche dabei, die Gefahren zu erkennen, Vor- und Nachteile von Handlungsalternativen abzuwägen, darauf basierend eine Handlung auszuwählen und diese umzusetzen.