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Arbeitspsychologie

Psychische Belastungsfaktoren in internationaler Diskussion

Für diesen vierten* Teil der Artikelserie zu 10 Jahren Eva­luierung psychischer Belastung fasst AUVA-Arbeits­psychologin Mag.ª Barbara Huber für SICHERE ARBEIT Interviews zusammen, die sie mit Experten:Expertinnen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Nieder­landen und Polen über aktuelle Themen der Prävention psychischer Belastungen am Arbeitsplatz geführt hat.

Eine Frau hält sich den Kopf
© Adobe Stock / Halfpoint

„Stress ist Teil des Jobs“, „Psychosoziale Risiken sind nicht so schlimm“, oder: „Stress ist im Kopf!“ – Aussagen, wie sie das Nationale Institut für Forschung und Sicherheit zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten in Frankreich (INRS) Aufmerksamkeit erzeugend – mit einem provokanten Unterton – auf seiner Internetseite wiedergibt, sind wahrscheinlich bekannt. Alle haben gemeinsam, dass sie die Qualität von Arbeitsbedingungen als rein individuelle Angelegenheit darstellen, im Gegensatz zum generellen Ansatz des Arbeitnehmer:innenschutzes, der kollektive Schutzmaßnahmen und die Verhältnisprävention vor die Verhaltensprävention stellt. In den folgenden Absätzen dienen weitere solcher Aussagen als Einleitung für die fachliche Auseinandersetzung, die in „der Präventionsarbeit“ – das heißt, in Schulungen, Beratungen, bei Veranstaltungen und Kongressen zur „Evaluierung psychischer Belastung“ – immer wieder thematisiert und diskutiert werden.

„Ein bisschen Stress motiviert!“

Apropos Motivation: Die beiden Psychologen Edward Deci und Richard Ryan forschen bereits jahrzehntelang im Bereich der intrinsischen und extrinsischen Motivation. Drei menschliche Grundbedürfnisse müssen befriedigt sein, sodass sich intrinsische Motivation bilden kann: die Bedürfnisse nach Kompetenzerleben, sozialer Eingebundenheit und Autonomie. In der alltäglichen Arbeit ist dies wahrscheinlich nicht stets umsetzbar, als Themenbereiche für Gestaltungsempfehlungen sind sie jedoch sinnvoll. Häufig hört man analog zu der Aussage „Ein bisschen Stress motiviert“ auch die Bezeichnung „gesunder Stress“. In vielen Fällen werden damit eigentlich optimale Herausforderungen oder ehrgeizig gesteckte Ziele umschrieben, die mit Anstrengung zu erreichen sind. Doch Stress als „gesund“ zu bezeichnen ist paradox, denn nach Richard Lazarus2 entsteht Stress, wenn die verfügbaren Strategien und Ressourcen nicht ausreichen, um Situationen erfolgreich zu bewältigen. Im Sinne einer „Humanisierung der Arbeit“ ist es angezeigt, Begrifflichkeiten so zu verwenden, dass sie in ihrer Bedeutung nicht verfremdet werden – das heißt beispielsweise, dass Stressoren auch dementsprechend bezeichnet werden, daher als solche erkennbar bleiben und in Folge Prävention ihren Beitrag leisten kann, ihnen vorzubeugen.

„Psychosoziale Risiken betreffen das Unternehmen nicht“

Hier gilt es, zu unterscheiden, welche Aspekte im Rahmen der „Evaluierung psychischer Belastung“ zu ermitteln (und zu beurteilen) sind, und welche Themen nicht Teil dieser Evaluierung sind: Kurzfristige psychische Beanspruchungen (wie Stress, aber auch im positiven Sinne „Aktivierung“) werden – als individuelle Folgen – ebenso nicht erhoben wie langfristige Beanspruchungsfolgen (Beeinträchtigungen, Erkrankungen, aber auch im positiven Sinne „Entwicklung und Lernerfolge“).

Durch die Auseinandersetzung mit „psychischer Belastung“ wird hingegen deutlich, dass (auch im internationalen Vergleich) Themen aufgegriffen werden, die (in unterschiedlichem Ausmaß und entsprechender Kombination) arbeitsalltagsrelevant sind. Vincent Grosjean erklärt dazu, dass in Frankreich sechs Risikofaktoren definiert werden. Dafür wurde das bekannte Modell des Soziologen Robert Karasek herangezogen – insbesondere wird auf die schädliche Auswirkung dieser Faktoren und deren Kombination auf die Gesundheit hingewiesen. Im Sinne Karaseks wird auf die Problematik von hohen Anforderungen und mangelnder Autonomie verwiesen:

  1. Intensität und Arbeitszeit
  2. emotionale Anforderungen
  3. mangelnde Autonomie
  4. beeinträchtigte soziale Beziehungen am Arbeitsplatz
  5. Wertekonflikte
  6. Arbeitsplatzunsicherheit (inkl. unkontrollierter Veränderung der Aufgabe und der Arbeitsbedingungen)

Parallelen und Unterschiede in der Evaluierung

In Österreich sind vier Themenbereiche innerhalb der Evaluierung psychischer Belastung abzudecken: die Arbeitstätigkeit, das Organisationsklima, die Arbeitsumgebung sowie Arbeitsabläufe und -organisation. In den Interviews zeigten sich bei der Frage nach länderspezifischen Themenbereichen Parallelen, aber auch internationale Unterschiede:

Marlen Cosmar aus Deutschland berichtet von einer neuen Auflage der Publikation „Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung – Empfehlungen zur Umsetzung in der betrieblichen Praxis“1, die sechs Gestaltungsbereiche und -ziele zeigt. Dabei stellen zum Beispiel die Arbeitsinhalte und -organisation, Arbeitsmittel und soziale Beziehungen eigenständige Bereiche dar, wobei jeweils angeführt ist, bei welchen Gestaltungsmerkmalen „von einer Gefährdung durch psychische Belastung auszugehen ist“, beispielsweise im Fall der Arbeitszeit:

  • erweiterte berufsbezogene Erreichbarkeit (z. B. Rufbereitschaft, mobile Arbeit / Homeoffice)
  • hohe Interaktionsdichte
  • mangelnde Vorhersehbarkeit und Planbarkeit von Arbeitszeit (z. B. Termindruck)

David Fishwick aus Großbritannien berichtet von Hauptbereichen, die zu arbeitsbezogenem Stress führen können: Anforderungen (z. B. Arbeitsmenge), Kontrollmöglichkeiten (z. B. Handlungsspielraum), Unterstützung (z. B. Ressourcen durch Kollegen:Kolleginnen), soziale Beziehungen (z. B. Umgang mit inakzeptablem Verhalten), die soziale Rolle (z. B. Vermeidung von Rollenkonflikten) und Management von Wandel (z. B. wie organisatorische Veränderungen gehandhabt und kommuniziert werden). Noortje Wiezer weist darauf hin, dass in den Niederlanden aktuell Themen wie Gewalt, unerwünschtes Verhalten sowie Diskriminierung eine große Rolle spielen.

Digitalisierung und psychische Belastung

Inwiefern bringen die Interviewpartner:innen das Thema „Digitalisierung“ mit „psychischer Belastung“ in Verbindung? Einzelne Gesprächspartner:innen hatten zum Zeitpunkt der Interviews (im Jänner 2023) noch keine konkreten Pläne, wie die kommende Kampagne „Sicher und gesund arbeiten im Zeitalter der Digitalisierung“ der europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA)3 in Bezug auf den Themenbereich der psychischen Belastung umgesetzt bzw. angesetzt werden würde.

Zofia Mockałło und Dorota Żołnierczyk-Zreda berichteten, dass in Polen die Themen „neue Formen der Arbeit“ (Plattformarbeit und Freelancing) sowie Remote Work aufgegriffen werden und dass sie der Ansicht sind, dass in einigen weiteren Forschungsbereichen psychologische Aspekte eine Rolle spielen: Wearables, Technostress und Verwendung von persönlichen Daten.

eine Gruppe von jungen Menschen sitzen um ein Notebook herum und besprechen sich angeregt.
Die Bezeichnung „gesunder Stress“ ist paradox: Stress entsteht, wenn verfügbare Ressourcen nicht ausreichen, um Situationen erfolgreich zu bewältigen. Stressoren müssen also auch als solche bezeichnet werden, um ihnen vorbeugen zu können. © Adobe Stock / Yuliia

In den Niederlanden kann bei der Umsetzung der EU-OSHA-Kampagne von einem starken „Focal Point“ profitiert werden, berichtet Noortje Wiezer. Die Nationalen Focal Points fungieren als Schnittstellen und werden von den Regierungen als offizielle Vertreter der EU-OSHA in den einzelnen EU-Ländern benannt; in der Regel sind es die zuständigen nationalen Behörden für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit. TNO6 arbeitet an der Entwicklung von Tools, die im Bereich der Digitalisierung unterstützen, so Wiezer. Zudem beschäftigen sich Forschungsinitiativen des niederländischen Instituts mit den Risiken von Digitalisierung – im Sinne der Prävention beispielsweise mit der Entwicklung von Moralmodellen für Systeme künstlicher Intelligenz (KI-Systeme). 

David Fishwick betont die Bedeutung von Fragestellungen hinsichtlich der Nutzung von Daten: Welche Daten benötigen wir? Digitalisierung kann negative Auswirkungen haben, aber sie kann auch dafür genützt werden, für den Bereich der Prävention evidenzbasierte Daten zu generieren. Vincent Grosjean hebt wichtige aktuelle Themen hervor: neue Arbeitsformen und -bedingungen, „Remote Work“ und Führen auf Distanz sowie Autonomie in Hinblick auf die Verwendung von Algorithmen. Neben diesen Einschätzungen von Experten:Expertinnen für „Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz“ kann mit der Veröffentlichung des Eurobarometer 20224 aufgrund der Angabe der verwendeten digitalen Technologien am Arbeitsplatz ebenso grundsätzlicher Bedarf an Forschung und Prävention abgeleitet werden:

  • 73 % der Befragten verwenden Laptops, Tablets, Smartphones oder andere tragbare Computergeräte
  • 60 % nützen Desktop-Computer
  • 11 % verwenden Wearables und Smartwatches, Smartglasses und Activity Tracker
  • 5 % verwenden Maschinen oder Roboter, die denken und Entscheidungen treffen können (KI)
  • 3 % interagieren mit Robotern
  • 12 % arbeiten mit keinem der aufgezählten Arbeitsmittel

Psychosoziale Risiken von digitalen Technologien

Die dritte europäische Unternehmensbefragung zu neuen und neu auftretenden Risiken (ESENER 35, 2019) zeigt die am häufigsten mit digitalen Technologien in Verbindung gebrachten psychosozialen Risken:

  • Zeitdruck
  • lange oder unregelmäßige Arbeitszeiten
  • mangelhafte Kommunikation und Zusammenarbeit
  • Arbeitsplatzunsicherheit

Diese Befragung basiert auf Daten aus 45.420 Betrieben mit mindestens fünf Beschäftigten aus allen Wirtschaftszweigen und in 33 Ländern. Auch damit zeigt sich, dass psychosoziale Risiken Unternehmen betreffen und die präventive Beschäftigung mit diesen Themen unterstützt, Arbeitsbedingungen sicher und gesund zu gestalten. Auch in ersten Publikationen der EU-OSHA zur kommenden Kampagne werden fünf Themenbereiche dargestellt, die für den Arbeitnehmer:innenschutz hinsichtlich der Digitalisierung eine Rolle spielen:

  • Arbeit auf digitalen Plattformen
  • Telearbeit und hybrides Arbeiten
  • Automatisierung von Aufgaben
  • Personalmanagement mithilfe von KI
  • intelligente digitale Systeme

In diesem Sinne können die Erfahrungen im Bereich der Arbeitspsychologie mit der „Evaluierung psychischer Belastung“ aus den letzten 10 Jahren auch für aktuelle und kommende Belastungsfaktoren hilfreich sein und eingesetzt werden.

Quellen:

[1] Beck, D. et al.: Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung – Empfehlungen zur Umsetzung in der betrieblichen Praxis. Herausgeber: GDA-Arbeitsprogramm Psyche c/o Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 4. Auflage, 2022.

[2] www.aerzteblatt.de/archiv/226479/Richard-Lazarus-(1922-2002)-Theorie-zur-Stressbewaeltigung (letzter Zugriff am 11.8.23)

[3] https://healthy-workplaces.osha.europa.eu/de (letzter Zugriff am 11.8.23)

[4] https://osha.europa.eu/sites/default/files/Eurobarometer-OSH-in-post-pandemic-workplaces_en.pdf (letzter Zugriff am 11.8.2023)

[5] https://osha.europa.eu/de/publications/third-european-survey-enterprises-new-and-emerging-risks-esener-3/view

[6] www.tno.nl/en/digital/artificial-intelligence/safe-autonomous-systems/developing-moral-models-ai-systems (letzter Zugriff am 11.8.23) (letzter Zugriff am 11.8.23)

Zusammenfassung

Der vierte Teil der Artikelserie zu 10 Jahren Evaluierung psychischer Belastung fasst Gesprächsinhalte aus Interviews mit Experten:Expertinnen aus europäischen Institutionen zusammen und stellt Verbindungen zu aktuellen Entwicklungen und Präventionsthemen, die auch nach einem Jahrzehnt nicht an Bedeutung verloren haben, her. 


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