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Arbeitspsychologie - Buchtipp

Lesen lohnt sich!

Das Lehrbuch „Allgemeine Arbeitspsychologie – Psychische Regulation von Arbeits­tätigkeiten“ von Pierre Sachse und Winfried Hacker ist ein einzigartiges Standardwerk für alle, die an einer menschengerechten Gestaltung unserer Arbeitswelt mitwirken. Erschienen ist das Buch im Februar 2023 in der vierten, überarbeiteten und aktualisierten Auflage.

Mehrere Hände übereinander
© Adobe Stock / amorn

Digitalisierung erleichtert das Leben, meinen die einen – sie macht uns „denkfaul“ und zu „Erfüllungsgehilfen“ von Automaten, die anderen. Damit ein technisches System ein Werkzeug des Menschen bleibt, bedarf es schon bei der Entwicklung gesicherten Wissens darüber, wie der Mensch denkt und handelt oder Wissen und Erfahrung speichert. In sieben übersichtlich gestalteten Abschnitten stellt dieses Buch u. a. das dafür erforderliche psychologische Wissen auch für die Natur- und Ingenieurwissenschaften, Medizin und Betriebswirtschaft zur Verfügung.

Im Kapitel 1 werden die Bestandteile von Arbeitsprozessen – die Arbeitstätigkeiten – beschrieben und klassifiziert. Die Arbeitspsychologie bedient sich der psychologischen Tätigkeitstheorie mit ihren vielfältigen Wurzeln, die ihre Anwendung in diversen Disziplinen der Psychologie findet. Hervorzuheben ist die Ingenieurpsychologie, die „Möglichkeiten und Wirkungen der hard- und softwarebezogenen Automatisierung menschlicher Leistungen und die Bedingungen einer optimalen Mensch-Maschine-Kooperation“ bearbeitet (Seite 20). Besondere Beachtung finden in dieser Auflage die Zeitnormung und die Arbeitsbemessung – das Ermitteln von zumutbaren Zeitvorgaben für mentale (geistige) Arbeit, um dem mit der Digitalisierung einhergehenden Zeit- und Leistungsdruck zu begegnen. Es ist gesichertes Wissen, wie die beim Menschen verbleibenden Erwerbsarbeitstätigkeiten beschaffen sein müssen, um psychologisch vertretbar gestaltet zu sein. In den von den Autoren genannten Standards und Normen wurden psychologische Bewertungsmerkmale und -ebenen für die Gestaltung der Arbeit übernommen, die als hierarchisches System dargestellt werden. Fortschreitende Entwicklung und aktuelle Veränderungen in den verbleibenden Erwerbstätigkeiten werden in ihrer Auswirkung auf den Menschen präzise und detailreich beschrieben. 

Was ist an den Arbeits­tätigkeiten psychisch?

Dieser Frage gehen die Autoren im Kapitel 2 nach. Es geht um die psychologischen Besonderheiten von Erwerbstätigkeiten im Gegensatz und in Abgrenzung zu anderen Tätigkeiten in Bezug auf Motivation, Kognition oder Ziele. In weiterer Folge wird der hierarchische Aufbau einer Tätigkeit mit den Elementen Handlungen, Operationen und Bewegungen vorgestellt. Diese Konzeption ist von enormer praktischer Bedeutung: Eine Handlung kann nicht durch die in ihr enthaltenen Bewegungen angemessen analysiert werden. Diese Erkenntnis, „dass bildlich gesprochen, das Psychische die übergeordnete Kommandostelle ist“, ist für alle Berufsgruppen, die mit Automatisierung und Digitalisierung von Tätigkeiten zu tun haben, relevant. „Ohne Berücksichtigung ihrer ‚Befehle‘ bleiben die Tätigkeiten unverständlich und gar chaotische Vorgangsbündel“ (Seite 42). Weiter geht es mit der Theorie, Fachbegriffe werden vorgestellt. Die Kenntnis des Fachvokabulars ist wichtig, weil Berufsgruppen unterschiedlicher Branchen, z. B. aus IT, Technik, Informatik und Psychologie die gleichen Begriffe für völlig unterschiedliche Sachverhalte verwenden. Eine für die Praxis wesentliche Entwicklung war die Abwendung von der Bewusstseinspsychologie und die Hinwendung zu den psychischen Aspekten der Tätigkeit, die den Arbeitsprozess regulieren. „Bewegungen, Handlungen und Taten sind in den Gegenstand der Psychologie einbezogen, ohne dass sie dabei fälschlich zu psychischen Gebilden gemacht werden“ (Seite 37). 

Im Kapitel 3 wird dargestellt, wie sich Arbeitsbedingungen auswirken und welche Konsequenzen sie haben können. Ein in der Praxis eingeführtes Rangordnungsprinzip für arbeitspsychologische Gestaltungsmaßnahmen bzw. für Maßnahmen der Gefahrenverhütung gewährleistet, dass die wirkungsvollsten Maßnahmen an erster Stelle stehen. Ein weiteres Thema sind die Besonderheiten der psychischen Regulation bei Erwerbstätigkeiten an oder mit Menschen (im Gegensatz zu objektbezogenen Erwerbstätigkeiten).

Im Kapitel 4 gehen die Autoren der Frage nach, welche aktuellen sozioökonomischen und technologischen Rahmenbedingungen die Struktur der Tätigkeit beeinflussen. Sie müssen deshalb bei jeder Analyse beachtet werden, weil sie sich positiv, als Angebote, oder negativ, als Einschränkungen und Hindernisse, auswirken können. Welche Aufgaben bzw. Tätigkeiten dem Menschen übertragen werden, ist beispielsweise vom Organisationskonzept abhängig, was im Kapitel 5 anhand zahlreicher Forschungsergebnisse und Beispiele aus der Praxis beschrieben wird. Ein weiteres Beispiel ist die Abhängigkeit vom Technologiekonzept oder der verwendeten Technik. Gelegenheit zur Zusammenarbeit für Techniker:innen mit der Ingenieurpsychologie ergibt sich u. a. beim Projektieren künftiger Arbeitstätigkeiten, bei der Technologiewahl, bei der Gestaltung der Mensch-Technik-Funktionsteilung und bei der Schnittstellengestaltung. Die technozentrierte Automatisierungsstrategie führt dazu, dass in immer mehr technologische Prozesse solche technischen Systeme übernommen werden, in die nicht in beliebiger Weise und zu beliebigen Zeitpunkten eingegriffen werden kann. Ist ein Eingreifen erforderlich, so wird dies als Eingriffspunkt bezeichnet. Das psychologische Interesse an den Eingriffspunkten konzentriert sich auf die Merkmale von Eingriffsmöglichkeiten, die eine optimale menschengerechte Nutzung von Technik umsetzbar machen (vgl. Kapitel 6). Ein umfangreiches Unterkapitel befasst sich mit dem Tätigkeitsspielraum, der den Menschen eingeräumt wird, als Rahmenbedingung. 

Hände tippen auf einer Tastatur
Damit ein technisches System ein Werkzeug des Menschen bleibt, bedarf es schon bei der Entwicklung Wissens darüber, wie wir denken und handeln. Dieses Buch stellt das dafür erforderliche psychologische Wissen zur Verfügung. © Adobe Stock / tippapatt

Folgen der Verbreitung digitaler Arbeitsmittel

Kapitel 5 befasst sich mit den mit der Verbreitung vernetzter digitaler Arbeitsmittel einhergehenden, sich verändernden Bedingungen für die Arbeitsorganisation. Das schließt orts- und zeitunabhängige Arbeitsplätze und orts- und zeitunabhängige Geschäftsbeziehungen durch digitale Geschäftsmodelle und Plattformen mit ein. Zu unserem modernen Arbeitsleben gehören u. a. Informationsflut, Störungen und Unterbrechungen, Multitasking. Um dem konkret durch Organisationsgestaltung entgegenzuwirken, gibt es zahlreiche Methoden: durch Berücksichtigung in der Aufbau- und Ablauforganisation, durch Art der Arbeitsteilung, durch Gruppengröße etc. Wie man Gruppengewinne erzielen und Gruppenverluste vermeiden kann und welchen Einfluss die Kooperationsstruktur auf die Kommunikation hat, ist ebenfalls Thema. Das Kapitel 6 ist der Funktionsteilung Mensch – Technik und der Schnittstellengestaltung in ihrem Einfluss auf die psychische Regulation von Arbeitstätigkeiten gewidmet. „Die Funktionsteilung zwischen Mensch und Technik bestimmt die psychischen Anforderungen in wesentlich umfassenderem Maße als das durch die Beschaffenheit der sogenannten Schnittstellen (= Interfaces) zwischen Mensch und Technik geschieht“ (Seite 105; vgl. Kapitel 4). Die Wirkung der Funktionsteilung wird anhand der Eingriffspunkte dargestellt. Welche Funktionen warum beim Menschen verbleiben und welche warum der Technik übertragen werden sollen, wird diskutiert. Die unbeabsichtigten Nachteile technozentrischer Automatisierungslösungen, die sogenannten „Ironien der Automatisierung“ (Bainbridge, 1983), leiten über zur Klassifikation der Strategien der Automatisierung und deren Vor- und Nachteilen. Wie eine funktionierende Zusammenarbeit von Psychologie und Technik erfolgreich gelingen kann, wird im letzten Unterkapitel beschrieben: Der „duale“ Entwurfsprozess technischer Systeme sieht vor, dass neben den wirtschaftlichen und technischen Zielen psychische Tätigkeitsanforderungen ein eigenes Gestaltungsziel sein müssen.

In den Kapiteln 7 bis 11 des Buches beschreiben die Autoren die Komponenten, die Oberflächen- und Tiefenstruktur und die Wirkungsweise der psychischen Regulation von Arbeitstätigkeiten. Kognitive Prozesse werden in ihrer Komplexität dargestellt, beispielsweise das VVR-Modell (Vergleichs-Veränderungs-Rückkoppelungs-Einheit). Es ist das für die Psychologie adaptierte, aus der Kybernetik stammende TOTE-Modell (Test-Operate-Test-Exit). In diesen Kapiteln geht es um das für die Arbeitspsychologie unverzichtbare Grundlagenwissen. Mitdenken und „Deep Learning“ sind gefragt, aber zahlreiche praktische Beispiele erleichtern das Verstehen.

zwei Frauen sitzen vor einem Computer, eine der beiden zeigt auf den Monitor des Notebooks
Aktuelle Rahmen­bedingungen beeinflussen die Struktur unserer Tätigkeiten positiv oder negativ und müssen daher bei jeder Analyse berücksichtigt werden. © Adobe Stock / C. Coetzee

Im Kapitel 12 führen die Autoren in das Thema Antriebsregulation und in den Kapiteln 13 bis 15 in die Ausführungsregulation (wissens-basierte, intellektuelle und sensomotorische Regulation von Arbeitstätigkeiten) ein. „Die psychische Regulation der Arbeitstätigkeit ist eine funktionelle Einheit motivationaler, emotionaler, volitiver, kognitiver (perzeptiver, mnestischer, intellektueller) und motorischer Vorgänge. Sie kann unter dem motivationalen (‚Antriebsregulation‘; Teil 4) und unter dem operationalen Aspekt (‚Ausführungsregulation‘; Teil 5) betrachtet werden“ (Seite 38).

Arbeitsmotivation und Leistungsstörung

Hervorzuheben ist das Kapitel 12, in dem zahlreiche Aspekte von Arbeitsmotivation und deren Nutzung zur Leistungssteigerung diskutiert werden. Es wird auf die Besonderheiten der Arbeitsmotivation eingegangen und diese von Leistungsmotivation abgegrenzt. Unterschiedliche Theorien und Modelle werden auf ihre Brauchbarkeit zur Übertragung auf Arbeitsprozesse betrachtet. Im Kapitel 16 werden Entstehung und Ursachen von Fehlhandlungen und Handlungsfehler unter dem Gesichtspunkt von Defiziten der psychischen Handlungsregulation behandelt. Auf die Relevanz möglicher Folgen von Fehlhandlungen für die Wirtschaft wird immer wieder hingewiesen, beispielsweise auf den enormen Schaden, den der Einsatz fehlerhafter Software verursachen kann. Die organisatorische und technische Arbeitsgestaltung ist ebenfalls eine wirtschaftlich relevante Schwerpunktaufgabe. 

Lernen und Entwickeln von Arbeitsweisen und Handlungsstilen

Im Kapitel 17 werden die Bedeutung des beständigen Lernens und bleibende Lernerfordernisse im Arbeitsprozess für die Veränderung / Verbesserung der psychischen Regulation betont. Das gilt besonders für mental anspruchsvolle Tätigkeiten und für das Hinzu-, Erhaltens- und Verlernen gleichermaßen. Explizit erwähnt werden die Vorteile digital unterstützter Lehr- und Lernangebote. Auch psychische Anspannungszustände können die Tätigkeitsregulation verändern (vgl. Tabelle 17.1., Seite 469). Der Forschungsstand zum umgekehrt u-förmigen Zusammenhang zwischen Anspannung und Leistung wird unter dem Aspekt eines gesundheitsförderlichen Vorgehens ausführlich behandelt. Auf den Stellenwert von Berufserfahrung in ihrer Auswirkung auf die Leistungsvoraussetzungen der Person wird ebenfalls eingegangen. Nur im Ausführen der zu erlernenden Tätigkeit können Erfahrungen erworben werden. Erfahrungsgewinn kann durch Sensibilisierung von Sinnessystemen, psychische Automatisierung, Verbalisierung und durch intellektuelle Analyse erzielt werden. Des Weiteren werden Methoden zur Stärkung der Selbstwirksamkeitserwartung und psychoregulative Trainingsmethoden vorgestellt.

Im Kapitel 18 geht es um die Wechselbeziehung zwischen Arbeits- und Personmerkmalen. (Anm. der Red.: Die Buchautoren definieren „Person“ als ein handelndes Subjekt.) Deren Einfluss und Wirkung werden thematisiert, beispielsweise im Entwickeln stabiler Arbeitsweisen und Handlungsstile, wie im Zielsetzungs- und Planungsverhalten. Auch beeinträchtigende Effekte aufgrund vielfältiger aktueller Entwicklungen in den Arbeitsprozessen und am Arbeitsmarkt werden genannt. Im letzten Kapitel 19 werden die Vorteile der psychologischen Arbeitsgestaltung zusammengefasst. Effizienz, Schutz und Förderung ist die Zielsetzung der psychologischen präventiven und projektierenden Arbeitsgestaltung. Arbeitspsychologen:-psychologinnen finden die Beschreibung zahlreicher Methoden, Hilfsmittel, Instrumente und Vorgehensweisen für alle Aufgaben- und Anwendungsfelder.

Buchcover Allgemeine Arbeitspsychologie

Allgemeine Arbeits­psycho­logie. Psychische Regulation von Arbeitstätigkeiten (4., vollständig überarbeitete Auflage)

Winfried Hacker, Pierre Sachse
Zürich: Vdf Hochschulverlag AG

Februar 2023, 608 Seiten,
ISBN: 978-3-7281-4142-2

Online zu finden unter vdf.ch/allgemeine-arbeitspsychologie-e-book.html

Zusammenfassung

Unser Arbeitshandeln funktioniert, weil es durch komplexe Systeme innerer Modelle der Umwelt und des eigenen Handelns gesteuert wird. Das Wissen darum ist bei der Auslegung technischer Prozesse ein Erfolgsfaktor. Wer sich dazu entscheidet, dieses Buch „durchzuackern“, hat eine Expertise, die nur wenige haben, und ist für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bestens vorbereitet.


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