Safety II
Safety II im Gesundheitswesen
Im Gesundheitswesen werden Erhalt und Förderung der Sicherheit von Patienten: Patientinnen aufgrund der zunehmenden Komplexität zur Herausforderung. Vor diesem Hintergrund werden Ansätze und Methoden zum Umgang mit komplexen Arbeitssystemen benötigt. Eine Möglichkeit ist die funktionale Resonanzanalyse, die im Rahmen des Projekts GALA erstmalig im deutsch- sprachigen Raum praktisch eingesetzt wird.
Geht es um Sicherheit, ist in der Versorgung von Patienten:Patientinnen neben Arbeitnehmer:innenschutz und Arbeitssicherheit selbstverständlich vor allem die Sicherheit von Patienten:Patientinnen zentral. Stand und Entwicklung der Sicherheit von Patienten:Patientinnen stehen jedoch in der Kritik. Neben unbefriedigenden Kennzahlen (Schrappe, 2018) wird ein methodischer Stillstand in Forschung und Praxis beklagt (St. Pierre et al., 2022). Ein Grund dafür ist, dass die Komplexität des Gesundheitswesens eine wesentliche Herausforderung darstellt (Mühlbradt, Speer & Schröder, 2023). Der Ansatz Safety II will diesen Mangel überwinden sowie Methoden bereitstellen und erproben, die ausdrücklich für komplexe Systeme geeignet sind.
Die funktionale Resonanzanalyse
Eine der wesentlichen Methoden in diesem Zusammenhang ist jene der funktionalen Resonanzanalyse (Original: „functional resonance analysis method”, kurz: FRAM). Die FRAM wurde von Erik Hollnagel entwickelt (Hollnagel, 2012). Sie kann in die lange Tradition der Theorien und Methoden der Sicherheitsforschung eingeordnet werden und zielt vor allem auf die Beschreibung (Modellierung) und das Verstehen komplexer Arbeitssysteme ab. Die FRAM verwendet eine grafische Modellierung, die an Prozessmodelle aus der Betriebswirtschaft und der Wirtschaftsinformatik erinnert. Sie ist in ihrem Kern jedoch ein qualitatives Verfahren. Die Methode ist international in Wissenschaft und Praxis bedeutend verbreitet und kommt auch im Gesundheitswesen zur Anwendung (Speer et al., 2022).
In der FRAM werden Arbeitssysteme als Prozesse verstanden, die sich aus Funktionen zusammensetzen. Funktionen sind notwendige und hinreichende Schritte zur Erzeugung des Prozessergebnisses. Jede Funktion besitzt eine definierte Zahl an Merkmalen, die sie beschreiben. Dies sind: Eingabe, Ausgabe, Zeit, Kontrolle, Voraussetzung und Mittel.
Die Merkmale von Funktionen werden in der FRAM durch leitfadengestützte Interviews mit Funktionsträgern:-trägerinnen erfasst. Dies sind Personen, welche eine Funktion routinemäßig ausführen und über entsprechende Erfahrung verfügen. Nach Möglichkeit werden zu jeder Funktion stets mindestens zwei Funktionsträger:innen befragt. Ein Leitfaden leitet durch das Interview. Er enthält auf Funktionen bezogene Fragen, die deren Merkmale aus verschiedenen Perspektiven beleuchten.
Ein Grundsatz der FRAM ist die Einsicht, dass in solchen Systemen die gedachte und geplante Sicht auf Prozesse („work as imagined“, kurz: WAI) von der alltäglichen Praxis („work as done“, kurz: WAD) abweicht. Die Interviews zielen daher auf das Sichtbarmachen von Variabilität in Funktionen ab. So wird in Bezug auf das Merkmal Ausgabe unter anderem nach Schwankungen bei Präzision und Timing gefragt. Die Anzahl der Funktionen eines Prozesses ist abhängig von der Zielsetzung und den verfügbaren Ressourcen. Zumeist wird sie zwischen 10 und 15 Funktionen liegen, aber auch Modelle mit deutlich mehr oder weniger Funktionen können sinnvoll sein.
Ein Modell entsteht, wenn die Funktionen eines Prozesses miteinander in Beziehung gesetzt werden. Alle aktiven Merkmale einer Funktion sind, den Regeln der FRAM zufolge, mit anderen Funktionen zu verbinden. Um eine unendliche Kette solcher Verbindungen zu vermeiden, bilden sogenannte „Background-Funktionen“ dabei eine Systemgrenze, an der die Modellierung stoppt. Da die manuelle Modellierung aufgrund der Vernetzung der Funktionen mühsam werden kann, wird die grafische Darstellung mit Hilfe der Software FRAM Model Visualiser (FMV) vorgenommen (siehe Abbildung 2).
Da die Funktionen untereinander vielfältig verbunden sind, kann die Variabilität einer Funktion mit anderen Funktionen wechselwirken. Dies kann eine dämpfende, aber auch eine verstärkende Wirkung auf die Variabilität im System haben. Die durch das Modell beschriebene Variabilität ist jedoch zunächst eine potenzielle Variabilität. Erst dann, wenn der Prozess konkret durchlaufen wird, kann daraus auch tatsächliche Variabilität werden. Summiert sich Variabilität in diesem Fall über mehrere Funktionen auf, kommt es zur sogenannten „funktionalen Resonanz“ im System. Diese Resonanz manifestiert sich dann möglicherweise als Fehler oder Zwischenfall. Damit versteht die FRAM Fehler nicht als Ausdruck des Versagens einer bestimmten Funktion, sondern in erster Linie als Phänomene, die unter bestimmten Bedingungen auf der Systemebene auftreten. Die Lösung ist daher auch nicht der Austausch der „defekten Funktion“, sondern die Verhinderung oder Dämpfung des Auftretens von funktionaler Resonanz.
Resiliente Systeme, so die Denkweise von Safety II, erreichen ihre Ziele unter erwarteten wie unerwarteten Bedingungen. Ein Anliegen der FRAM ist es daher, Systemverständnis und Handlungsmöglichkeiten im System und damit letztendlich die Resilienz des Systems zu steigern. Es ist dafür wichtig, die Beteiligten in Vorbereitung, Datenaufnahme und Ergebnisdiskussion einzubeziehen. Dafür eröffnet die FRAM verschiedene Ansatzpunkte, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen. In diesem Sinne kann die FRAM methodologisch auch als Aktionsforschung (Nerdinger, 2019; Franca, Hollnagel & Valle, 2022) eingeordnet werden.
Fallbeispiele aus dem F&E-Projekt GALA
Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Gesundheitsregion Aachen: innovativ Lernen und Arbeiten“ (GALA) ist in der Gesundheitswirtschaft in der Region Aachen im Westen des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen angesiedelt. Unter Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung entwickeln die beteiligten Hochschulen und Einrichtungen im Zeitraum 2021–2024 neue Lösungen für die Arbeitsgestaltung und Kompetenzentwicklung. Die Hochschule für Oekonomie und Management (FOM) verfolgt in diesem Konsortium in ihrem Teilprojekt den Schwerpunkt Safety II. Dabei wird erstmalig im deutschsprachigen Raum die FRAM in zwei regionalen Krankenhäusern in den Städten Düren und Mechernich in unterschiedlichen klinischen Prozessen eingesetzt.
Die Zentrale Notaufnahme (ZNA) des Krankenhaus Mechernich verfügt über Fachkräfte, Behandlungsplätze und Ausrüstung um in akuten Notsituationen eine Erstversorgung zu gewährleisten (Abbildung 3). In der ZNA ist für Patienten:Patientinnen mit dem Symptom „Brustschmerz“ innerhalb von maximal 10 Minuten ein Elektrokardiogramm (EKG) zur Diagnostik zu schreiben. Die Eckdaten des Prozesses wurden vor ca. einem Jahr in einer Standard Operating Procedure (SOP) beschrieben. Ziel der FRAM war es, den Ist-Prozess (WAD) und dessen Variabilität zu beleuchten. Im Zentrum stand der Aspekt der Sicherheit von Patienten:Patientinnen. Dazu wurde ein internes Projektteam gebildet. Interviewführung und Modellierung übernahm die FOM. Parallel zur FRAM wurde hausintern eine Stichprobe aus den Akten der Patienten:Patientinnen gezogen, um die Einhaltung der 10-Minuten-Frist statistisch zu prüfen.
In der Untersuchung zeigte sich, dass das Ziel der SOP unter hochvariablen Bedingungen fast immer erreicht wird. Das Modell macht deutlich, durch welche Anpassungen dies im Alltag gelingt. Unter bestimmten Umständen ist jedoch funktionale Kopplung möglich, sodass die Zielerreichung gefährdet wird. Die zentralen Ergebnisse wurden in einem Poster dargestellt, welches auf einer Abteilungsversammlung vorgestellt und im Pausenraum der ZNA dauerhaft zur Einsicht ausgehängt wird. Auf der Versammlung wurden die Erkenntnisse der Externen mit dem Personal der ZNA diskutiert und es wurden erste Ansätze zum Umgang mit Variabilität festgehalten.
In einem zweiten Projekt im Krankenhaus Düren stand der Prozess der morgendlichen OP-Vorbereitung im Fokus. Hierbei ist das Ziel, externe wie interne Patienten:Patientinnen für die erste OP am Morgen vorzubereiten, um die OP selbst pünktlich zum Planzeitpunkt um 08:15 Uhr beginnen zu können. Dieser Prozess durchläuft mehrere Abteilungen, benötigt die Mitwirkung mehrerer Berufsgruppen und dauert geplant etwas über 100 Minuten. Der Prozess beruht auf mehreren dokumentierten Vorgaben. Da die Auslastung der Operationssäle starken Einfluss auf die Wirtschaftlichkeit der Einrichtung hat, sind hier Effizienz und Sicherheit von Patienten:Patientinnen gleichermaßen bedeutsam. Für das Projekt wurde ein interdisziplinäres Projektteam aus Ärzten:Ärztinnen und Pflegekräften gebildet (Abbildung 4). Interviewführung und Modellierung übernahm auch hier die FOM. Nachlaufend zur FRAM wurden hausintern bestimmte Aspekte der Sicherheit von Patienten:Patientinnen vertiefend quantitativ untersucht.
Eine wesentliche Wirkung des FRAM-Modells bestand zunächst darin, den Beteiligten die außerordentliche Komplexität des Prozesses anschaulich und damit bewusst zu machen. Der scheinbar klare Prozess, der sich leicht als lineares Flussdiagramm darstellen lässt, offenbart plötzlich deutliche Unterschiede zwischen WAI und WAD. Die hohe Variabilität zahlreicher Funktionen und viele Möglichkeiten zur funktionalen Kopplung entlang des Prozesses erklären, warum der Planzeitpunkt im Alltag verfehlt wird. Ein Beispiel für die Differenz zwischen geplanter und tatsächlicher Arbeit sind die Angaben zur Streuung der Dauer bestimmter Funktionen, die weit über die erwarteten Werte hinausgehen. Die abteilungsübergreifende Prozesssicht der FRAM fördert die Zusammenarbeit. Das verbesserte Prozessverständnis und die gemeinsame Analyse im Projektteam ergab eine Fülle von Ansatzpunkten zur Prozessverbesserung, von denen drei Ansätze vom Projektteam priorisiert wurden und nachfolgend hausintern bearbeitet werden.
Zusammenfassung
Erhalt und Förderung der Sicherheit von Patienten:Patientinnen auch in komplexen Arbeitssystemen ist der Leitgedanke von Safety II. Die FRAM als eine der Hauptmethoden dieses Ansatzes ermöglicht produktive Einblicke in solche Systeme und ist ein Mittel zur graduellen Entwicklung eines gemeinsamen, tiefen Prozessverständnisses der Personen, die professionell im und am System arbeiten.