Interview
Interview zu Arbeit und Gesundheit in der Spätmoderne
Dr.in Marie Jelenko arbeitet und forscht im Bereich der Prävention arbeitsbezogener Gesundheitsrisiken. Sie ist seit 2008 in der AUVA als Soziologin tätig. Mit ihrem Buch begibt sie sich auf Spurensuche nach einer gesundheitsgerechten Sozialpolitik der Arbeit. SICHERE ARBEIT hat sie dazu interviewt.
Sie haben kürzlich Ihre Dissertation über die Prävention von arbeitsassoziierten Erkrankungen in Zeiten der Individualisierung in Buchform veröffentlicht. Warum problematisieren Sie genau dieses Thema?
Fragen der Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit sind traditionell auf das Kollektiv der Arbeitnehmer:innen, auf Hierarchien, Unfälle und technische Lösungen ausgerichtet. Trotz des erheblichen Wandels der Arbeitswelt, der Verschiebung von Produktions- zur Dienstleistungsarbeit und der deutlichen Zunahme von psychosozialen Risiken hat sich an dieser Grundhaltung im Arbeitnehmer:innenschutz nur wenig geändert. Dabei sind die aktuellen Herausforderungen nicht zuletzt durch die Digitalisierung enorm und die langfristige Erhaltung von Gesundheit gilt unter dem Stichwort der „Arbeitsfähigkeit“ als ein wichtiges politisches Ziel.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang Individualisierung und was hat sie mit Arbeit zu tun?
Menschen können und müssen ihre Biografien in einer zunehmend unübersichtlichen Welt verstärkt selbst gestalten, egal ob es um den beruflichen Werdegang, die Partner:innenwahl oder den Kinderwunsch geht, um nur einige Beispiele zu nennen. Das Selbst und die Selbstbezogenheit gewinnen an Bedeutung. In der Arbeitswelt spiegelt sich der Individualisierungsprozess in steigenden Ansprüchen von Arbeitnehmern:Arbeitnehmerinnen an ihre Arbeit wider. Arbeitgeber:innen hingegen greifen stärker auf die subjektiven Potenziale von Beschäftigten zu. Sie sollen durch Selbstkontrolle sowie durch Rationalisierung von Arbeit und Leben verstärkt unternehmerisch agieren.
Inwieweit wirkt sich das auf die Gesundheit aus?
Arbeitnehmer:innen müssen sich in der Arbeit zunehmend selbst strukturieren, Grenzen ziehen und unterschiedliche Lebensbereiche koordinieren. Sie sollen Fragen der Gesundheit ebenso wie Fragen der Produktivität eigenverantwortlich lösen. Wichtig ist dabei vor allem, dass das Ergebnis stimmt, weniger, wie es erzielt wurde. Dieses Postulat trifft im Grunde genommen alle arbeitenden Menschen, obwohl Handlungs- und Gestaltungsspielräume sehr unterschiedlich sind. „Egal wo dein Platz ist, du bist dafür verantwortlich, du musst dich kontinuierlich verbessern und optimieren“, so der Anspruch an Individuen. Dieser Druck zur ständigen Selbstoptimierung ist ein wesentlicher Faktor für Erschöpfungsphänomene und stressbedingte Erkrankungen.
Was bedeutet das für die Präventionsarbeit?
Eingeschliffene Denkweisen und Handlungsroutinen der betrieblichen Prävention liefern hier kaum adäquate Antworten, denn erstens gehen psychosoziale Risiken über das nach wie vor technisch dominierte Selbstverständnis der betrieblichen Prävention hinaus, zweitens wird in der Prävention im Wesentlichen ein als „gleich“ gedachtes – also entindividualisiertes – Kollektiv der Arbeitnehmer:innen adressiert. Drittens basieren die gesetzlichen Grundlagen auf klaren Unterscheidungen zwischen Erwerbsarbeit und Nicht-Erwerbsarbeit, Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit. In der Arbeitsrealität vieler Menschen verschwimmen diese Grenzen zunehmend. Das gilt auch für Trennlinien zwischen Verausgabung und Erholung bis hin zur Verantwortung der Arbeitgeber:innen und Eigenverantwortung von Beschäftigen.
Das klingt nicht sehr optimistisch. Wie können betriebliche Prävention und Politik darauf reagieren?
Sie können und haben bereits in einigen Bereichen reagiert. Dazu zwei Beispiele: Erstens wurde auf gesetzlicher Ebene vor 10 Jahren unmissverständlich klargestellt, dass im Arbeitnehmer:innenschutz auch psychosoziale Risiken zu evaluieren sind. Die dafür eingesetzten Fragebögen vernachlässigen allerdings weitgehend Phänomene wie Entgrenzung, Selbstausbeutung oder prekäre Arbeit, die durch digitale und KI-gestützte Arbeit an Bedeutung gewinnen. Zweitens wurde auf gesundheitspolitischer Ebene neben dem verpflichtenden Arbeitnehmer:innenschutz die Betriebliche Gesundheitsförderung etabliert. Allerdings kommen nur Beschäftigte von willigen Unternehmen in den Genuss dieser freiwilligen Leistungen, die zudem häufig am individuellen Gesundheitsverhalten ansetzen und den Druck zur Selbstoptimierung verstärken können.
Abschließend, was braucht es, damit betriebliche Prävention auch in der heutigen Arbeitswelt wirkungsvoll ist?
Zuallererst möchte ich festhalten, dass betriebliche Prävention wirkungsvoll ist, insbesondere dort, wo manuell gearbeitet wird und klassische Unfallgefahren auftreten. Die Europäische Union forciert die Einbindung neuerer Gesundheitsthemen in die betriebliche Prävention durch strategische Vorgaben und europäische Kampagnen. Auf nationaler Ebene steckt viel Potenzial in der Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure:Akteurinnen, etwa in der österreichischen Arbeitnehmer:innenschutzstrategie. Zudem haben Gesundheitsthemen dann erhöhte Chancen in die betriebliche Präventionsarbeit integriert zu werden, wenn es eine gut abgesicherte statistische Datengrundlage für Erkrankungsrisiken durch die Arbeit gibt, das Arbeitnehmer:innenschutzrecht und das Berufskrankheiten-System „up to date“ sind und eindeutige Kriterien zur Überprüfung von Arbeitsbedingungen vorliegen. Hier ist Luft nach oben. Ein Aushandlungsprozess aller gesellschaftlichen Akteure:Akteurinnen zur Frage, wie eine gesundheitsgerechte, sinnstiftende und produktive Arbeit der Zukunft aussehen soll und wie wir uns diesem Ziel annähern, wäre dringend notwendig.
„Arbeit und Gesundheit in der Spätmoderne“ –
Betriebliche Prävention im Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Top-Down-Struktur
transcript Verlag
28. März 2023, 280 Seiten
ISBN: 978-3-8376-6494-2
Online zu finden bei transcript-verlag.de
Zusammenfassung
Dr.in Marie Jelenko spricht im Interview mit SICHERE ARBEIT über ihr Buch und die Forderung spätmoderner Dienstleistungsgesellschaften nach mehr Flexibilität und Einsatzbereitschaft und stellt die Auswirkungen auf arbeitsbezogene Gesundheitsgefahren und damit auf die betriebliche Prävention dar.