Arbeitsplatzevaluierung
Gendergerechter Arbeitsplatz
Wir alle sollten die gleichen Chancen auf einen sicheren und gesunden Arbeitsplatz haben. Das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (§ 4 ASchG) als rechtliche Grundlage für Arbeits- und Sicherheitsschutz am Arbeitsplatz fordert daher die Berücksichtigung von Genderaspekten in der Evaluierung von Gefahren und Belastungen und die entsprechende Festlegung von Schutz- und Präventionsmaßnahmen.
Das bedeutet: Eine geschlechtsspezifische (w / m / d) Evaluierung und Risikoanalyse, die unterschiedliche Arbeits- und Lebenssituationen sowie Interessen berücksichtigt, ist notwendig, denn ein geschlechtsneutraler Ansatz im Arbeitnehmer:innenschutz kann dazu führen, dass Risiken für Beschäftigte nicht ausreichend wahrgenommen werden.
„Sex“ und „Gender“
Unter dem Begriff „Sex“ verstehen wir das biologische Geschlecht, es ist durch unsere genetische Anlage, im Wesentlichen durch unsere Geschlechtschromosomen und Sexualhormone definiert. Diese bestimmen unser äußeres Erscheinungsbild. „Gender“ meint das soziale Geschlecht, die gesellschaftlich geprägte und individuell erlernte Geschlechterrolle. Diese wird durch die soziokulturelle und wirtschaftliche Organisation einer Gesellschaft und durch die in ihr geltenden rechtlichen und ethisch-religiösen Normen sowie Werte bestimmt. Im Gegensatz zum biologischen Geschlecht sind Geschlechterrollen wandelbar. Soziales und biologisches Geschlecht beeinflussen sich wechselseitig.
Entstehung von Stereotypen
Frauen und Männer haben über Jahrhunderte hinweg eine sozial erlernte „Geschlechterrolle“ verinnerlicht. Die Rolle kann so stark verankert sein, dass sie unsere Wahrnehmung, unser Kommunikationsverhalten und unsere Handlungsoptionen bestimmt. Dabei werden den Geschlechtern bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Frauen gelten z. B. als „sozial und emotional kompetent“ während Männern „Durchsetzungskraft“ oder „strategisches Denken“ zugeschrieben wird. Werden Menschen ausschließlich anhand eines Merkmals unterschieden, z. B. Mann bzw. Frau oder Herkunft (Nationalität) und daran weitere Vermutungen und Bewertungen geknüpft, entstehen Stereotypen.
Untersuchungen belegen, dass stereotype Charaktereigenschaften und Fähigkeiten, die geschlechtsspezifisch Frauen oder Männern zugeschrieben werden, nicht existieren. Die Bandbreite innerhalb eines Geschlechts ist viel größer als die zwischen den Geschlechtern.
Frauen sollen sich am besten als Männer verkleiden, bevor sie zu Ärzten:Ärztinnen gehen, um als Herzpatientin optimal versorgt zu werden.
Daher sollen geschlechterspezifische Rollenzuschreibungen am Arbeitsplatz hinterfragt werden und biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern nach wissenschaftlichen Erkenntnissen berücksichtigt werden. Da Genderthemen und die damit verbundenen Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster sich auf direktem Wege oft schwer erschließen lassen, kann der Zugang über die Analyse der betrieblichen Organisationskultur eine erste Bestandsaufnahme sein (z. B.: Wie sind Frauen, Männer, Menschen in der Organisation repräsentiert? Wie sind Belastungen und Ressourcen verteilt? usw.).
Nach Geschlecht segregierter Arbeitsmarkt
In Österreich besteht eine starke Geschlechtersegregation am Arbeitsmarkt, d. h., viele Beschäftigte arbeiten in sogenannten „Frauen-“ bzw. „Männerberufen“ und sind somit überproportional in bestimmten Branchen und Tätigkeitsfeldern vertreten. So arbeiten Frauen häufiger als Männer in Dienstleistungsberufen, im Gesundheits- und Sozialwesen sowie im Niedriglohnsektor. Die Teilzeitquote von Frauen ist mit 49,6 % wesentlich höher als bei Männern (11,6 %). Das ist der Tatsache geschuldet, dass unbezahlte „Care-Arbeit“ wie Kinderbetreuung, Versorgung von zu pflegenden Angehörigen und Hausarbeit vorrangig von Frauen verrichtet wird. Damit sind diese auch häufiger einer Doppelbelastung ausgesetzt. Selbst bei gleichem Bildungsniveau schaffen Frauen seltener als Männer den Aufstieg in Führungspositionen und in vielen Branchen kann bei gleichwertiger Tätigkeit eine Lohndifferenz („Gender Pay Gap“) festgestellt werden.
Das hat zur Folge, dass Frauen tätigkeitsbezogenen Belastungen wie z. B. ungünstigen Körperhaltungen (Zwangshaltung), Emotionsarbeit und einem Risiko der Belästigung und Gewalt ausgesetzt sind. Auch tätigkeitsunabhängige Belastungen wie Unsicherheit des Arbeitsplatzes und Fürsorgepflicht in der Familie sind Risiken, die sich auf die körperliche und psychische Gesundheit negativ auswirken können.
Gender Health Gap
Frauen leben in Österreich im Durchschnitt 5 Jahre länger als Männer, verbringen aber mehr Lebensjahre in schlechter Gesundheit als Männer. Die Gründe dafür sind vielfältig, neben den biologischen Unterschieden bedingt durch genetische und hormonelle Faktoren beeinflusst die psychosoziale Situation die Gesundheit geschlechtsabhängig. Das bedeutet, „Frauen werden anders krank als Männer“ – aber die meisten medizinischen Studien basieren auf Männerdaten. Das medizinische Wissen hinsichtlich Krankheitsbildern, Prävention und Therapie orientierte sich lange am männlichen Prototyp. Dadurch werden Krankheiten bei Frauen bis heute schlechter erkannt.
Aus dem Bestreben, den Menschen differenzierter zu betrachten, entwickelte sich die Gendermedizin. Diese untersucht wissenschaftliche Erkenntnisse daraufhin, ob sie für Frauen, Männer und alle Diversity-Gruppen in gleicher Weise zutreffen.
Geschlechtsspezifische Aspekte in der Medizin
Schon 1991 wurde das „Yentl-Syndrom“ von Dr. Bernadine Healy beschrieben. Sie spielte damit auf den Film „Yentl“ an, in dem sich die Hauptdarstellerin als Mann verkleiden muss, um studieren zu dürfen. Healy zog eine Parallele zur Behandlungsqualität von Herzinfarkten: Frauen sollten sich am besten als Männer verkleiden, um als Herzpatientin optimal versorgt zu werden, da weibliche Symptome weniger dringlich eingestuft würden als die der Männer.
Bis in die 1990er-Jahre wurden Herzmedikamente nur für und an Männern getestet mit der Konsequenz, dass die Wirksamkeit bei Frauen nicht gegeben war. Kardiologische Erkrankungen weisen geschlechtsabhängig unterschiedliche Entwicklungen und Symptome auf. Den Umstand, dass Frauen mit Schmerzen weniger ernst genommen werden als Männer, bezeichnet man als „sozialisierte Schmerzen“. Daten belegen, dass Frauen bei Schmerzerkrankungen häufiger Beruhigungsmittel als Schmerzmittel verordnet bekommen und später als Männer eine adäquate Behandlung erfahren („Schmerzlücke“). Umgekehrt gibt es auch Krankheiten, die bei Männern schlechter erkannt werden, wie z. B. Osteoporose und Depression.
Geschlechtsspezifische Evaluierung des Arbeitsplatzes
Hinsichtlich ergonomischer Unterschiede kann festgestellt werden, dass bei allen Arbeitsmitteln darauf geachtet werden muss, diese nach ergonomischen Grundsätzen geeignet für alle Anwender:innen zur Verfügung zu stellen. Ergonomische Arbeitsplätze sind menschengerecht gestaltet, d. h., sie berücksichtigen ein großes Spektrum an körperlichen Merkmalen wie z. B. Größe und Kraft. Um die Arbeitsplätze an die Bedürfnisse des Menschen anzupassen, werden anthropometrische Daten genutzt. Anhand dieser Daten können Arbeitsplätze körpermaßgerecht dimensioniert werden und sinnvolle Einstellbereiche von Arbeitsmitteln oder Sicherheitsabstände abgeleitet werden.
Bei der Ermittlung und Beurteilung von Risiken, welche sich durch unterschiedliche Körperkräfte ergeben, sind dementsprechende Analyseverfahren anzuwenden. So sind z. B. in vier der sechs neuen Leitmerkmalmethoden (Heben & Tragen, Ziehen & Schieben, Ganzkörperkräfte, Körperfortbewegung) Faktoren hinterlegt, um die unterschiedlichen physiologischen Leistungsgrenzen von Frauen und Männern abzubilden. Das betrifft zwar vordergründig Frau und Mann, ist aber ausdrücklich nicht nur für Unterschiede aufgrund des Geschlechts anwendbar, auch Körperkraft oder Körpermaße können z. B. zwischen Männern stark variieren (s. Grafik unten).
Bei der Persönlichen Schutzausrüstung (PSA) gibt es speziell für Frauen konzipierte Auffanggurte (PSA gegen Absturz), welche speziell die weibliche Anatomie berücksichtigen. Auch durch eine Schwangerschaft und die Zeit danach ergeben sich zusätzliche Risiken für Frauen aufgrund der körperlichen Veränderungen. Als Beispiel einer besonderen Persönlichen Schutzausrüstung wird auf Sicherheitsgurte für die Verwendung in Fahrzeugen hingewiesen, welche den „Babybauch“ von werdenden Müttern bei einem Autounfall besser schützen als konventionelle Sicherheitsgurte.
Die gesetzlich verpflichtende Arbeitsplatzevaluierung bezieht sich nicht nur auf die Verwendung von Arbeitsstoffen, auf Arbeitsverfahren und Arbeitsvorgänge, Einsatz der Arbeitsmittel, Gestaltung und Einrichtung der Arbeitsstätte selbst usw. Die Ermittlung und Beurteilung der Gefahren beinhaltet auch die Eignung der Arbeitnehmer:innen im Hinblick auf Körperkräfte, Alter und Qualifikation. Zudem wird im Arbeitnehmer:innenschutzgesetz darauf hingewiesen, insbesondere spezifische Gefahren für Frauen zu beachten.
Risikoanalyse nach dem Modell der EU-OSHA
Ein Beispiel für eine Risikoanalyse (nach dem Modell der EU-OSHA), welche den Geschlechteraspekt berücksichtigt:
Schritt 1: Identifizierung der Gefahren
Gesundheits- und Sicherheitsgefahren sind zu identifizieren. Die gesamte Arbeitnehmer:innenschaft, d. h. inkl. Teilzeit- und externen Arbeitskräften sowie Personen, die sich zum Zeitpunkt der Analyse im Krankenstand befinden, sind bei der Risikoanalyse zu berücksichtigen. Es sollen alle Arbeitnehmer:innen auf strukturierte Weise darüber befragt werden, welche Probleme sie bei ihrer Arbeit haben.
Zu beachten: Durch Vorannahmen über Tätigkeiten können Belastungen übersehen werden: Haben Frauen und Männer die gleiche „job description“, kann es dennoch vorkommen, dass Tätigkeiten nach Geschlecht aufgeteilt werden und daher unterschiedliche Belastungen einwirken. Männliches Reinigungspersonal ist z. B. häufiger mit dem Fahren von Aufsitz-Scheuersaugmaschinen befasst (mögl. Belastung durch Vibrationen) als weibliches Personal. Das Reinigen von Toiletten hingegen wird häufiger von Frauen durchgeführt (mögl. Belastung durch Körperzwangshaltung).
Schritt 2: Risikobewertung
Bewertet werden die tatsächlich ausgeführten Tätigkeiten und das Arbeitsumfeld der einzelnen Arbeitnehmer:innen.
Schritt 3: Umsetzung von Lösungen
Die identifizierten und bewerteten Risiken werden mit Maßnahmen hinterlegt. In Bezug auf den Genderaspekt sind dabei Unterschiede zu berücksichtigen und entsprechende Präventionsmaßnahmen anzupassen, beispielsweise bei der Auswahl der persönlichen Schutzausrüstung und Arbeitskleidung.
Schritt 4 und 5: Überwachung und Überprüfung
Es gilt festzustellen, ob die Wirksamkeit der gesetzten Maßnahmen gegeben ist, ob sich identifizierte Risiken geändert haben bzw. neue hinzugekommen sind. Unfallmeldungen gelten als wichtiger Indikator für die Überwachung von Risiken. In Bezug auf die Genderthematik sollen Arbeitnehmer:innen dazu ermutigt werden, neben Arbeitsunfällen auch andere Aspekte im Kontext der Arbeit zu melden – demnach Vorfälle im Zusammenhang mit Genderaspekten, beispielsweise sexuelle Diskriminierung, Gewalt am Arbeitsplatz, sexuelle Belästigungen usw.
Die bei der „Überwachung und Überprüfung“ gewonnenen Erkenntnisse werden wiederum zur Identifizierung der Risiken genutzt und damit beginnt der Risikoanalyseprozess von Neuem, wodurch die iterative Eigenschaft der Risikoanalyse verwirklicht wird.
Die Gleichstellung der Geschlechter soll auf allen Ebenen in der betrieblichen Sicherheits- und Gesundheitsschutzpolitik verankert sein.
Zusammenfassung
Ein gendergerechter Arbeitsplatz, der mit dem Setzen von gendersensiblen Präventionsmaßnahmen gleichermaßen das soziale wie auch das biologische Geschlecht berücksichtigt, führt zu einer Verbesserung des Sicherheits- und Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz für alle und unterstützt die Chancengleichheit bei gesunden und sicheren Arbeitsbedingungen.