Arbeitspsychologie
Evaluierung psychischer Belastungen am Puls der Zeit?
Seit der Novellierung des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes (ASchG) 2013 ist die Evaluierung psychischer Belastungen explizit als Teil der Arbeitsplatzevaluierung verankert. Wie unter anderem der Arbeitsklimaindex der AK OÖ zeigt, arbeiten wir jedoch gerade heute unter Bedingungen, die die psychische Gesundheit potenziell gefährden. Zudem fehlt in vielen Betrieben ein Maßnahmenplan, um arbeitsbedingten Stress zu vermeiden. Das zeigt: Eine Anpassung der Arbeitsplatzevaluierung an neue Herausforderungen ist notwendig.
Die Verantwortung der Arbeitgeber:innen für die psychische Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer:innen rückte durch die Evaluierung psychischer Belastungen stärker in den Fokus – und damit auch der präventive Leitgedanke, der dem ASchG zugrunde liegt. Es gilt für Arbeitgeber:innen – verkürzt gesagt –, arbeitsbedingte psychische Risiken zu beurteilen, abzuschätzen und Gefahren durch quellenwirksame, kollektive Maßnahmen auszuschalten oder zumindest zu reduzieren. Etwa ein Drittel der österreichischen Arbeitnehmer:innen gibt an, von Zeitdruck (stark) belastet zu sein, ein Viertel klagt über ständigen Arbeitsdruck ohne Zeit, um verschnaufen zu können. Über Belastung durch technische oder organisatorische Veränderungen berichtet fast ein Fünftel. Etwas mehr als ein Fünftel gibt an, am Arbeitsplatz mit Mobbing, Psychoterror, Drohungen und Erpressungen konfrontiert zu sein. (Arbeitsklima Index/AK OÖ, 2023). Laut der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) geben 62 % der befragten Betriebe in Österreich an, über keinen Maßnahmenplan zur Vermeidung von arbeitsbedingtem Stress zu verfügen (2022).
All dies weist auf den erforderlichen Aufholbedarf im Feld „Psyche und Arbeitsplatz“ hin. Hierbei müssen einerseits Themen, die bis dato erfahrungsgemäß bei der Arbeitsplatzevaluierung zu wenig Berücksichtigung finden, deutlicher ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Andererseits gilt es weiterführende und zeitgemäße Perspektiven rund um die Evaluierung arbeitsbedingter psychischer Belastungen zu entwickeln und umzusetzen.
Blinde Flecken bei der Evaluierung
Um Herausforderungen in Zusammenhang mit arbeitsbedingten Risiken bzw. Gefahren zu meistern, ist es unerlässlich, dass die Evaluierung psychischer Belastungen am Puls der Zeit bleibt. So greifen etwa die gemäß ASchG zu bewertenden Arbeitsgestaltungsdimensionen zu kurz. Für eine Konkretisierung der Themenfelder seien hier exemplarisch Digitalisierung und Gewalt am Arbeitsplatz angeführt, die zukünftig eine verstärkte Berücksichtigung finden müssen.
Digitalisierung, KI und Arbeitsgestaltung
Die Digitalisierung und die Fortschritte im Bereich der Robotik und künstlichen Intelligenz (KI) führen zu starken Veränderungen unserer Arbeits- und Lebenswelt. Diese Entwicklung wurde durch die Pandemie beschleunigt und ist mit neuen psychischen Chancen, aber auch Risiken verbunden. So ist Homeoffice mittlerweile ein Teil der Arbeitsrealität vieler Beschäftigter. Die Arbeit von zuhause aus (oder von einem anderen Ort abseits der Arbeitsstätte) bringt nicht nur selbst vielfältige Herausforderungen, sondern verdeutlicht auch unterschiedliche Aspekte der Digitalisierung wie etwa ständige Erreichbarkeit, die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben, Vereinsamung, Arbeitsverdichtung und Beschleunigung oder auch die zunehmende Komplexität von Führung. Chancen ergeben sich etwa durch den Wegfall von Wegzeiten oder mehr zeitliche Flexibilität (Hartner-Tiefenthaler & Feuchtl, 2022).
Auch Informationsüberflutung, der ständige Anpassungsbedarf an sich rasant entwickelnde Technologien und technologisches Wissen, Leistungskontrolle bzw. Überwachung, ein geringerer Handlungsspielraum durch unflexible IT-Workflows oder die digitale Verkomplizierung von Prozessen stellen neue Themenfelder bezogen auf die Evaluierung psychischer Belastungen dar.
Gewalt am Arbeitsplatz
Gewalt am Arbeitsplatz ist nach wie vor ein zu wenig beleuchtetes Thema: Ungünstig gestaltete Arbeitsbedingungen wie etwa ein übermäßiger Wettbewerbs- und Zeitdruck, knappe Personalressourcen, schlechte Arbeitsorganisation und unzureichende Schutzmaßnahmen fördern das Gewaltrisiko für Arbeitnehmer:innen. Eine Vielzahl an Krisen, soziale Ungleichheit und wirtschaftliche Instabilität erhöhen das Konfliktpotenzial in der Gesellschaft und damit auch das Risiko für Gewalt am Arbeitsplatz.
Laut EU-OSHA (2022) haben 55 % der befragten Betriebe in Österreich kein Verfahren für den Umgang mit möglichen Fällen von Bedrohung, Beleidigung oder Angriffen durch Kunden:Kundinnen, Patienten:Patientinnen oder andere externe Personen. Verfahren für den Umgang mit Mobbing oder Belästigung am Arbeitsplatz sind sogar in 67 % der Betriebe nicht vorhanden. Oft fehlt es hier an der erforderlichen Sensibilisierung und an Wissen bezogen auf das Thema selbst, aber auch im Hinblick auf die notwendigen Schutzmaßnahmen. Dieses mangelnde Bewusstsein wird nicht zuletzt auch durch die fehlende Ratifikation des Übereinkommens Nr. 190 der International Labour Organization zu Gewalt und Belästigung durch Österreich deutlich, mit welchem bereits 2019 auf der Internationalen Arbeitskonferenz ein international verankertes Recht auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung beschlossen wurde.
Zukunftsperspektive: Anpassung der inhaltlichen Dimensionen
Damit die Evaluierung arbeitsbedingter psychischer Belastungen zukünftig flächendeckend und mit einer höheren Schlagkraft umgesetzt werden kann, sind Konkretisierungen und strukturelle Verbesserungen im ASchG bzw. im Rahmen einer Durchführungsverordnung erforderlich. Das ASchG stellt für einige Arbeitsbedingungen wie z. B. Arbeitsaufgaben und Art der Tätigkeiten, Arbeitsumgebung und Arbeitsraum, Arbeitsabläufe und Organisationskultur einen Bezug zu psychischer Belastung her (§ 4 ASchG Abs. 1). Die im AschG angeführten Aspekte umreißen jedoch nur einen Teil der Bedingungen, die mit arbeitsbedingter psychischer Belastung in Zusammenhang stehen, und müssen entsprechend an die Bedingungen der Arbeitswelt angepasst werden. Insbesondere muss hier auf die oben beschriebenen Aspekte der Digitalisierung und KI sowie Gewalt konkret Bezug genommen werden, aber auch Themen wie etwa Führung, Arbeitszeit und Vereinbarkeit müssen zukünftig im ASchG – explizit formuliert – Niederschlag finden.
Konkretisierung mittels Durchführungsverordnung
Bei der Durchführung der Evaluierung arbeitsbedingter psychischer Belastungen ergeben sich in der Praxis – aufgrund legistischer Unklarheiten – nach wie vor Missverständnisse. Die Folge sind fehlerhafte bzw. unvollständig durchgeführte Evaluierungen.
Die konkrete Anwendung der gesetzlichen Bestimmungen wäre daher unterstützend mittels Durchführungsverordnung zu präzisieren. Aspekte, die in diesem Zusammenhang erläutert werden sollten, sind z. B. Prozessstandards, Anforderungen an durchführende Personen, Kriterien für Evaluierungsverfahren, Arbeitnehmer:inneninformation, Regelungen zur Maßnahmenumsetzung, Wirksamkeitsüberprüfung oder Nachevaluierung. In dem Zusammenhang stellt v. a. die Wirksamkeitsüberprüfung der Maßnahmen einen „blinden Fleck“ der Evaluierung dar.
Um zu überprüfen, ob die festgelegten Maßnahmen auch tatsächlich wirken, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, die sich hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Ergebnisse stark unterscheiden. Der Leitfaden der Arbeitsinspektion „Eine Handlungsanleitung zur Wirksamkeitskontrolle von Maßnahmen“ nennt fünf: Eine aufwendige, allerdings genaue Möglichkeit, die Wirksamkeit zu überprüfen, stellt die Wiederholung des Messverfahrens mit Zusatzbeurteilung je Maßnahme dar. Dabei geht es nicht um eine unreflektierte Wiederholung, sondern um eine konkrete Überprüfung der Belastungsreaktion. Eine weitere Möglichkeit ist es, Kennzahlen zu vergleichen, und zwar spezifisch je nach Maßnahme, was ebenfalls objektive Ergebnisse bezüglich der Wirksamkeit liefert. Extern moderierte Maßnahmenworkshops, Begehung und Gespräche sowie interne Besprechungen im Team werden ebenfalls als Möglichkeiten genannt. Wie gut sich mittels dieser Möglichkeiten die Wirksamkeit überprüfen lässt, hängt sehr von der Ausgestaltung ab. Daher sind die objektiveren Möglichkeiten zu bevorzugen. Für alle Wirksamkeitsüberprüfungen ist es wesentlich, sich bereits bei der Maßnahmenableitung zu überlegen, an welcher Ebene gemäß dem STOP-Prinzip des Arbeitnehmer:innenschutzes die Maßnahme ansetzt, um dementsprechend dort auch die Wirksamkeitsüberprüfung anzusetzen.
Dies kann sich an Leitfragen wie den folgenden orientieren: Wurde die definierte Maßnahme umgesetzt? Wenn ja, wie umfassend? Zeigen sich kollektiv wirksame positive Effekte auf die adressierten Belastungsfaktoren? Ist die Maßnahme nachweisbar „wirksam“? Wenn ja, für welche Arbeitsplätze bzw. Zielgruppen? Zeigen sich nicht intendierte Nebeneffekte positiver oder negativer Art? Wie beurteilen Fachleute und interne Experten:Expertinnen die Maßnahmenumsetzung? Wie beurteilen Führungskräfte und Beschäftigte die Maßnahmenumsetzung? Wo liegen ggf. Unterschiede in der Wahrnehmung? Welche Hindernisse gab es bei der Maßnahmenumsetzung? (Beidernikl / Müller, 2019)
AOP als dritte Präventivfachkraft?
Trotz des dringenden Bedarfes an arbeitspsychologisch-fachlicher Kompetenz in der betrieblichen Prävention zur Gestaltung psychisch sicherer und gesunder Arbeit sind Arbeits- und Organisationpsychologen:-psychologinnen (AOP) nicht als Präventivfachkräfte, neben Sicherheitsfachkräften (SFK) und Arbeitsmedizinern:-medizinerinnen (AM), im ASchG verankert. Um den psychischen Gefahren der Arbeitswelt wirkungsvoll entgegenzutreten bzw. psychisch menschengerechte Arbeitswelten zu schaffen, benötigen AOP die gleichen Rechte und Pflichten wie AM und SFK. Die Arbeiterkammer fordert daher, AOP (bei Erhöhung der Präventionszeiten für alle Präventivfachkräfte) als dritte, gleichwertige Gruppe der Präventivfachkräfte im ASchG zu verankern.
Alles in allem gibt es noch viel Potenzial zur Verbesserung der Evaluierung psychischer Belastungen. Betriebe müssen ihre gesetzlichen Verpflichtungen ernst nehmen und gezielte Maßnahmen setzen, um die psychische Gesundheit der Beschäftigten zu erhalten und zu fördern. Gleichzeitig ist es auch erforderlich die gesetzlichen Rahmenbedingungen gezielt weiterzuentwickeln, AOP zu einem fixen Bestandteil der betrieblichen Prävention zu machen und nicht zuletzt auch die Wirksamkeitsüberprüfung von Schutzmaßnahmen verstärkt in den Fokus zu nehmen.
Zusammenfassung
Seit 2013 ist die Evaluierung psychischer Belastungen im ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (AschG) explizit verankert. Für deren flächendeckende Umsetzung und erhöhte Schlagkraft sind eine legistische Konkretisierung im Sinne einer Durchführungsverordnung sowie eine Anpassung der inhaltlichen Dimensionen des ASchG an die Bedingungen der Arbeitswelt erforderlich. Bezogen auf die erforderliche Expertise sind nach Ansicht der Autoren:Autorinnen Arbeits- und Organisationspsychologen:-psychologinnen als gleichberechtigte Präventivfachkräfte zu etablieren.