10 Jahre Evaluierung
10 Jahre Evaluierung psychischer Belastung und die Zukunft der Arbeitsplatzevaluierung
Seit der im Jahr 2013 erfolgten Novellierung des ArbeitnehmerInnenschutzgesetzes (ASchG) sind psychologische Aspekte im Arbeitsschutz explizit genannt und zu berücksichtigen.
Wie Arbeitsplatzevaluierung abläuft und inwiefern die arbeitsbedingte psychische Belastung dabei Berücksichtigung finden muss, wurde bereits vielfach beschrieben. In diesem Artikel – dem 2. Teil einer Reihe zu „10 Jahren Evaluierung psychischer Belastung“ in SICHERE ARBEIT – soll es daher nicht um die Organisation des Arbeitsplatzevaluierungsprozesses an sich gehen, sondern um aktuelle Themen, darum, welche Vorteile eine professionelle und fachlich exzellente Vorgehensweise bringen kann und was in der Praxis, auch nach 10 Jahren ASchG-Novelle, oft verbesserungsfähig erscheint.
Die Vorteile einer gesunden Belegschaft sind so offensichtlich wie vielfältig. Weniger Krankenstand, weniger Unfälle, bessere Arbeitsqualität, langfristig erhöhte Produktivität, höhere Mitarbeiterbindung, besseres Sozial- und Organisationsklima, erleichterte Kommunikation, besseres Image nach außen etc. Die Liste möglicher positiver Outcomes, wenn ein Betrieb es schafft, sich in dieser Hinsicht gut aufzustellen, ist lang und vielversprechend – auch ganz ohne Philanthropie. Die Arbeitsplatzevaluierung bildet dabei, zusammen mit anderen Verfahren aus dem Arbeitnehmer:innenschutz, die gesetzlich verpflichtende Grundlage für ein betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM).
Um arbeits- und organisationspsychologische Erkenntnisse innerhalb der Organisation arbeitsschutztauglich anzuwenden, sind eine gemeinsame Sprache und verständliche Begriffe erforderlich. Eine Grundlage bildet hier das Belastungs-Beanspruchungs-Konzept nach Rohmert und Rutenfranz (1975), welches auch in der ISO-Norm 10075-1 aufgegriffen wird und dort, bzw. in auf die Norm Bezug nehmenden Artikeln, nachgelesen werden kann. Allen Lesern:Leserinnen sei an dieser Stelle empfohlen, die Begriffe Belastung, Beanspruchung und Beanspruchungsfolgen gedanklich klar voneinander abzugrenzen.
Was ist das Ziel der Arbeitsplatzevaluierung?
Das Ziel ist, die Gesundheit arbeitender Menschen zu schützen, indem arbeitsbedingte Erkrankungen, Berufskrankheiten und Unfälle verhütet werden sowie die Sicherheit und Gesundheit beeinträchtigende Faktoren identifiziert und ausgeschaltet bzw. vermindert werden. Dies beinhaltet lt. ASchG physische und psychische Faktoren sowie deren Zusammenwirken. Der Schutz des Lebens, der Gesundheit sowie der Integrität und Würde ist ebenfalls im ASchG verankert (§ 3 Abs. 1 ASchG).
Von der Theorie zur Praxis
Damit Betriebe vom Prozess der Arbeitsplatzevaluierung optimal profitieren können, sind brauchbare Daten und ein optimaler Bezug zur Arbeitspraxis vor Ort erforderlich. Werden infolge des Evaluierungsprozesses keine nachvollziehbaren und für die Arbeitnehmenden spürbaren Ergebnisse produziert, birgt selbiger Frustrationspotenzial für alle daran Beteiligten. Kommt es zur Frustration, ist bei zukünftigen Arbeitsplatzevaluierungsprojekten, sofern nicht erfolgreich gegensteuert wird, z. B. mit einer geringeren Rücklaufquote und eingeschränkter Akzeptanz zu rechnen. Das gilt es im Sinne aller Betriebe unbedingt zu vermeiden. Auch 10 Jahre nach der ASchG-Novelle zeigen sich Probleme in der Praxis: Herausforderungen durch komplexe betriebliche Zusammenhänge, Unsicherheit bei der Methodenwahl, fehlendes Vertrauen in die Sinnhaftigkeit des Prozesses, Befragungsmüdigkeit bei den Arbeitnehmenden, unzureichende Unterstützung durch die Geschäftsleitung und herausfordernde gesellschaftliche Rahmenbedingungen (Pandemie, Krieg, Klimanotstand etc.). Gerade in schwierigen Zeiten birgt die Arbeitsplatzevaluierung jedoch enormes Potenzial – einerseits für die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer:innen im Sinne des ASchG, andererseits für Motivation, Mitarbeiter:innenbindung und vollständige psychische und physische Gesundheit im Sinne der World Health Organization (WHO). Ergebnisse der gesetzlich erforderlichen Arbeitsplatzevaluierung liefern nicht nur Ansatzpunkte für ASchG-geeignete Maßnahmensetzung, sondern in vielen Fällen auch gute Ansatzpunkte für die betriebliche Gesundheitsförderung oder Wiedereingliederung nach Langzeitkrankenstand. Für eine erfolgreiche Umsetzung von Aktivitäten sind alle Akteure:Akteurinnen zur Gesundheit im Betrieb gefragt, wobei die im ASchG verankerte Arbeitsplatzevaluierung gesetzlich verpflichtend umzusetzen ist.
Gesetzliche Grundlagen
Seit der Novelle im Jahr 2013 bietet das ASchG zusätzliche Ansatzpunkte für den Schutz der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz. Im Sinne eines erfolgreichen Arbeitnehmer:innenschutzes werden diese Paragraphen von der Arbeitsinspektion praxisorientiert vollzogen:
§ 2 Abs. 7 ASchG: Der Gefahrenbegriff umfasst auch psychische Gefahren.
§ 2 Abs. 7a ASchG: Der Gesundheitsbegriff umfasst auch psychische Gesundheit.
§ 4 Abs. 1 ASchG: Auch Arbeitsaufgaben, Arbeitsabläufe und die Arbeitsorganisation sind zu evaluieren.
§ 4 Abs. 5 ASchG: Zwischenfälle mit sogenannter erhöhter „Fehlbeanspruchung“ sind Anlass für eine Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung der Arbeitsplatzevaluierung.
§ 4 Abs. 6 ASchG: Insbesondere Arbeitspsychologen:-psychologinnen können als sonstige Fachleute mit der Arbeitsplatzevaluierung psychischer Belastung beauftragt werden.
§ 7 Z 4 ASchG: Der „Faktor Mensch“ ist bei der Arbeit zu berücksichtigen, insbesondere in Bezug auf zu eintönige Arbeit und maschinenbestimmten Arbeitsrhythmus sowie die Abschwächung diesbezüglicher gesundheitsschädigender Auswirkungen.
§ 7 Z 4a ASchG: Die Gestaltung der Arbeitsaufgaben und die Art der Tätigkeiten, der Arbeitsumgebung, der Arbeitsabläufe und der Arbeitsorganisation sind zu berücksichtigen.
§ 7 Z 5 ASchG: Der Stand der Technik (inkl. aktueller Erkenntnisse der Arbeitswissenschaften) ist zu beachten.
§ 7 Z 7 ASchG: Planung der Gefahrenverhütung mit dem Ziel einer kohärenten Verknüpfung von Technik, Tätigkeiten und Aufgaben, Arbeitsorganisation, Arbeitsabläufen, Arbeitsbedingungen, Arbeitsumgebung, sozialen Beziehungen und Einfluss der Umwelt auf den Arbeitsplatz
§ 60 Abs. 2 ASchG: Arbeitsvorgänge sind so zu gestalten, dass die psychische Belastung möglichst gering gehalten und ihre gesundheitsschädigenden Auswirkungen abgeschwächt werden.
Aktuelle Themen in der Praxis
Alle Einflussfaktoren, die von außen auf die Psyche der Arbeitnehmer:innen wirken, können Gegenstand der Arbeitsplatzevaluierung psychischer Belastung sein, sofern durch die Belastung bzw. die Interaktion verschiedener Belastungsfaktoren eine Gefahr für Sicherheit und Gesundheit entsteht. Doch was heißt das konkret? Um die möglichen Inhalte etwas greifbarer zu machen, im Folgenden ein paar aktuelle Themen:
Gewalt am Arbeitsplatz: Ob an Verkaufsarbeitsplätzen, in der Pflege, im Bewachungsgewerbe, in der öffentlichen Verwaltung oder bei verschiedenartigen körpernahen Tätigkeiten (z. B. Pflege, Friseurhandwerk) – Gewalt am Arbeitsplatz kann vielerorts ein Thema werden, welches auch arbeitsschutzrechtlich relevant sein kann, wenn sich daraus eine Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer:innen ergibt. Gewalt am Arbeitsplatz kann und wird in manchen Fällen eine Arbeitsbedingung sein, darf aber nicht zur Gefahr für Sicherheit und Gesundheit führen. Genauere Informationen finden sich auf der Website der Arbeitsinspektion.
Interkulturalität: Im Jahr 2021 waren laut Statistik Austria 25,4 Prozent der hiesigen Bevölkerung Personen mit Migrationshintergrund3. Daraus ergeben sich auch zielgruppenspezifische Arbeitsschutzthemen, etwa nachgewiesene Fälle erhöhten Unfallrisikos für Menschen mit bestimmten Migrationsbiografien. Weitere Information zum Thema gibt es auf der Website der Deutschen gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV).
Mobiles Arbeiten/Homeoffice: Ortsflexible Arbeitsformen bringen neben allen nicht zu verkennenden Vorteilen auch neue bzw. intensivierte Belastungsfaktoren mit sich. Die Belastungsprofile in der Belastungsdimension „Sozial- und Organisationsklima“ haben sich z. B. vielerorts stark verändert. In einzelnen Fällen kann es zu sozialer Isolation, zu Entgrenzung und damit gestörter Regeneration, zu Angst vor Überwachung oder Cybermobbing mit allen schädlichen Folgen kommen. Die Interaktionsarbeit auch innerhalb des Betriebs bedarf einer Gestaltung.
Geschlechtergerechtigkeit: Viele Arbeitssysteme sind auf den österreichischen Durchschnittsmann aus dem 20. Jahrhundert zugeschnitten. Nicht oder unzureichend berücksichtigt werden dabei vielerorts geschlechtsspezifische Unterschiede bzgl. Sicherheit und Gesundheitsschutz im Betrieb. Ein Thema sind beispielsweise geschlechtsspezifische Tätigkeitsprofile innerhalb des Betriebs mit unterschiedlichen Belastungsprofilen.
Umgang mit neuen Technologien: Ob Robotik, Videocalls, Onlinetools für Teamarbeit, ChatGPT, BARD oder DALL-E etc., Betriebe müssen einen geeigneten Umgang mit neuen oder vermehrt genutzten Technologien finden. Daraus ergeben sich Chancen und gleichzeitig neue Belastungsprofile, deren (psychische) Gefährlichkeit mittels Arbeitsplatzevaluierung ermittelt und beurteilt werden sollte.
Ausblick
Damit die gesetzlich vorgeschriebene Arbeitsplatzevaluierung psychischer Belastung ihre intendierte Wirkung optimal entfalten und dazu beitragen kann, die Gesundheit der Arbeitnehmer:innen langfristig bestmöglich zu schützen, benötigen wir partizipative, zeitgemäße, gesetzeskonforme und wirkungsorientierte Evaluierungsprozesse. Das ist leichter gesagt als getan, jedoch haben damit betraute Fachleute, insbesondere Arbeitspsychologen:-psychologinnen, mittlerweile immerhin ein Jahrzehnt Erfahrung. Vieles funktioniert und kann weiterentwickelt werden. Wichtig ist es, dass Arbeitgebende und Arbeitnehmende das Thema ernst nehmen und professionell angehen, um Frustration zu vermeiden.
Das gelingt in der Regel dann, wenn eine fachgerechte Durchführung gewährleistet und die Unternehmensführung dabei unterstützend ist. Im Folgenden einige Variablen, welche dazu beitragen können, dass der für alle Seiten gewinnbringende Evaluierungsprozess gelingt:
Vertrauen: Damit ist einerseits das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit des Prozesses und andererseits das Vertrauen darin gemeint, dass erhobene Daten nicht missbraucht und den Mitarbeitenden nachteilig ausgelegt werden können.
Spürbarkeit: Eine Evaluierung braucht spürbare, positive Konsequenzen, damit Arbeitnehmende die Wirkung ihrer Teilnahme am Evaluierungsprozess erfahren können. Hierfür ist es, neben einer professionellen Kommunikationsstrategie, wichtig, dass zwischen Ermittlung/Beurteilung und Maßnahme nicht zu viel Zeit verstreicht.
Rechtssicherheit: Noch vor der Planungsphase sollten sich die Verantwortlichen unbedingt die rechtlichen Grundlagen der Arbeitsplatzevaluierung vergegenwärtigen und den im ASchG erwähnten „Stand der Technik“ berücksichtigen.
Kosteneffizienz: Der „return on investment“ (ROI) wird im Mittel umso positiver ausfallen, je besser der Evaluierungsprozess begleitet und durchgeführt wird. Erforderlichenfalls sollten daher, auch im Sinne der Kosteneffizienz, geeignete Fachleute hinzugezogen werden.
Interdisziplinäre Fachexpertise: Die Kombination psychischer und physischer Gefahren erscheint in vielen Fällen sinnvoll, da sich eine getrennte Betrachtungsweise z. T. als reduktionistisch und praxisfern herausstellen kann. Hilfreich können z. B. Fachleute aus folgenden Bereichen sein: Chemie, Toxikologie, Ergonomie, Arbeitspsychologie oder Arbeitsmedizin. Gewisse Projektmanagement-Skills werden vorausgesetzt. Sicherheitsfachkräfte, Sicherheitsvertrauenspersonen und betroffene Arbeitnehmer:innen sollten in die Maßnahmenplanung und -umsetzung unbedingt miteingebunden werden.
Treffsicherheit: Eine partizipative Konkretisierung und Implementierung der Maßnahmen ermöglicht, dass diese ihre Wirkung tatsächlich vor Ort entfalten können. Der ganze vorangehende Prozess kann sich als mehr oder weniger sinnlos erweisen, wenn keine treffsichere Maßnahmenimplementierung gelingt. Unpassende Maßnahmen können im Extremfall sogar schädigen, wenn sie sich im Tagesgeschäft als überhaupt nicht praktikabel erweisen und berechtigterweise auf Unverständnis treffen.
Zeitökonomie: Zeit ist in den allermeisten Betrieben ein knappes Gut. Die verwendeten Messinstrumente müssen daher nicht nur statistische Gütekriterien erfüllen, sondern auch rasch abzuwickeln sein. Um sinnvolle Daten zu erhalten, sollten daher im Sinne der Ergebnisqualität bei Erhebung durch Fragebögen/Interviews/Maßnahmenworkshops für die Arbeitnehmer:innen zeitliche Freiräume während der Arbeitszeit vorhanden sein.
Einflussfaktoren, die auf die Psyche der Arbeitnehmer:innen wirken, sind Gegenstand der Arbeitsplatzevaluierung psychischer Belastung. Sie beeinträchtigen die Sicherheit und Gesundheit – sowohl physisch als auch psychisch – und sollten rasch identifiziert und ausgeschaltet werden.
Arbeitspsychologie
Die im AschG verankerte Arbeitsplatzevaluierung istgesetzlich verpflichtend umzusetzen. Voraussetzung dafür, dass Betriebe vom Prozess optimal profitierenkönnen, sind verwertbarte Daten und die Inklusionaller Akteure:Akteurinnen im Betrieb.
Äußerliche Einflüsse wie mobiles Arbeiten (z. B. Videocalls, Homeoffice) oder gesellschaftliche Themen (z. B. Interkulturalität, Geschlechtergerechtigkeit) müssen in der Arbeitsplatzevaluierung berücksichtigt werden.
Um aus dem Prozess der Arbeitsplatzevaluierung brauchbare Daten zu gewinnen, ist ein optimaler Bezug zur Arbeitspraxis vor Ort erforderlich. Werden keine nachvollziehbaren und spürbaren Ergebnisse produziert, bringt dies Frustration für alle daran Beteiligten.
Zusammenfassung
Arbeitsbedingungen können durch ihre Wirkung auf die Psyche eine Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer:innen darstellen. Eine gemeinsame Sprache, interdisziplinäre Zusammenarbeit und in vielen Fällen arbeitspsychologisches Know-how sind Voraussetzung dafür, diese zu verstehen. Der Artikel zeigt aktuelle Themen und Verbesserungspotenziale in der Evaluierung psychischer Belastungen auf und veranschaulicht die Wichtigkeit einer professionellen Herangehensweise.