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Muskel-Skelett-Erkrankungen aus Public-Health-Perspektive

Wie wirken sich Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) auf die österreichische Bevölkerung aus? Welche Kosten verursachen sie? Ein Blick auf zahlreich vorliegende nationale und internationale Studien gibt Antworten auf diese Fragen.

Frau stützt sich auf Arbeitstisch auf und hält sich den Rücken, davor steht ein Notebook und Kopfhörer liegen auf dem Schreibtisch.
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Muskel-Skelett-Erkrankungen sind sehr häufige Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparates. In Österreich führen chronische Kreuzschmerzen in Gesundheitsbefragungen die Liste der Beschwerden an. Zählt man chronische Nackenschmerzen dazu, so führen die Erkrankungen des Bewegungsapparates mit Abstand die 12-Monats-Prävalenz [1]. Man schätzt, dass sich fast die Hälfte aller Muskel-Skelett-Erkrankungen auf die Arbeit zurückführen lassen [2]. Die Analyse von Befragungsdaten über 40 Jahre durch Mitarbeiter:innen des Instituts für Sozialmedizin Graz [3] zeigte, dass die Beschwerden über die Jahre zugenommen haben. Das könnte verwundern, weil sich die Arbeitsbedingungen insgesamt wesentlich gebessert haben. Andererseits sind aber die Bewegung und die manuelle Arbeit auf Kosten von ortsgebundener Arbeit und Sitzen zurückgegangen und der allgemeine Druck innerhalb der Arbeit (Stress) ist gestiegen.

MSE in Österreich im internationalen Vergleich

Im Rahmen des Schwerpunkts „Arbeitsbedingte Muskel-Skelett-Erkrankungen: Prävalenz, Kosten und Demografie in der EU“ erschien 2019 der Länderbericht Österreich, der von Lukas Grabowski (ABIF – Analyse, Beratung, interdisziplinäre Forschung, Österreich) und Iñigo Isusi (IKEI, Spanien) für die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit (OSHA) verfasst wurde (EU-OSHA (2019): Work-related musculoskeletal disorders: prevalence, costs and demographics in the EU, National Report: Austria).

Sie verwendeten unterschiedliche Quellen wie z. B. Ergebnisse des European Working Conditions Survey (EWCS), einer Befragung, die von der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in regelmäßigen Abständen durchgeführt wird. Eine weitere wesentliche Quelle waren die Fehlzeitenreporte, die jährlich vom Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) herausgegeben werden, sowie Zahlen der Statistik Austria und der österreichischen Sozialversicherungen. Die Ergebnisse des Länderberichts ergeben ein sehr differenziertes Bild der Belastungen. So liegt der Prozentsatz der österreichischen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die angeben, dass ihre Arbeit allgemein ihre Gesundheit beeinträchtigt, etwas niedriger (38 % bzw. 33 %) als die Durchschnittswerte der Mitgliedstaaten (EU-28) (39 % bzw. 35 %). Ein genaueres Hinsehen auf die Details lohnt sich. Der Prozentsatz der österreichischen Arbeitnehmer:innen, die von Rückenschmerzen und Muskelschmerzen in den Schultern, im Nacken und/oder in den oberen Gliedmaßen betroffen sind, ist höher als im EU-28-Durchschnitt. Die Prävalenz von Muskelschmerzen in den unteren Gliedmaßen ist jedoch niedriger als im EU-28-Durchschnitt. 

Rückenprobleme dominieren

Die häufigsten arbeitsbedingten Gesundheitsprobleme der österreichischen Arbeitnehmer:innen sind Rückenprobleme (mit 32 % fast ein Drittel der Befragten), gefolgt von Nacken-, Schulter- und Armproblemen (19 % der Befragten) und Hüft-, Bein- oder Fußproblemen (16 % der Arbeitnehmer:innen). Männer klagten häufiger über Rückenprobleme (33 %, verglichen mit 30 % der Frauen) und Hüft-, Bein- und Fußprobleme (18 % im Vergleich zu 14 % der Frauen), Frauen hingegen häufiger über Probleme mit Nacken, Schultern, Armen oder Händen (23 % im Vergleich zu 15 % der Männer) [4]. Die Probleme kommen im Allgemeinen viel häufiger bei älteren Arbeitnehmern:Arbeitnehmerinnen und bei Facharbeitern:Facharbeiterinnen vor. Außerdem treten MSE-bedingte Probleme in bestimmten Sektoren besonders häufig auf, insbesondere im verarbeitenden Gewerbe, im Gesundheits- und Sozialwesen, im Baugewerbe und in der Landwirtschaft/Forstwirtschaft/Fischerei, aber auch im Handel, der öffentlichen Verwaltung sowie im Verkehr und in der Logistik. Daraus ergeben sich die häufigsten Berufsgruppen: Handwerksberufe und verwandte Berufe, Dienstleistungsberufe, Techniker:innen, Anlagen- und Maschinenbediener:innen sowie ungelernte Berufe.

MSE sind der zweithäufigste Grund für die Gewährung von Invaliditätspensionen (16 % der I-Pensionen, Männer zu Frauen 3 : 1). Der häufigste Grund waren 2020 psychiatrische Erkrankungen mit 42 % und einer gleichmäßigen Aufteilung zwischen Männern und Frauen. [5]

Und die Berufskrankheiten? 

Jährlich gibt es nur wenige anerkannte MSE zuordenbare Berufskrankheiten (ca. 40 Fälle pro Jahr). Damit wird in Österreich pro 100.000 Versicherten durchschnittlich 1 Fall anerkannt. Die Berufskrankheitenstatistik bildet die Problematik nicht ab, weil die meisten Muskel-Skelett-Erkrankungen aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Liste der Berufskrankheiten im Anhang des ASVG gelistet sind.

Die Belastungen schlagen sich sehr wohl in den Zahlen der Krankenstandstage nieder. Die Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes führen die Statistik an und so sind alle Beteiligten gefordert, sich für eine Verringerung der Belastungen und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einzusetzen. Der Arbeitnehmer:innenschutz verlangt von den Betrieben, die Arbeit unter ergonomischen, arbeitsorganisatorischen und -psychologischen Gesichtspunkten gut zu gestalten. Es reicht aber nicht aus, Arbeitsplätze ergonomisch zu optimieren. 

Auch die Arbeitnehmer:innen müssen dafür gewonnen werden, ergonomisch zu arbeiten. Es ist wichtig, sie für das Thema zu sensibilisieren, Wissen über ergonomisches Arbeiten zu vermitteln und die Entwicklung von gesunden Arbeitsroutinen zu unterstützen. Beispielhaft kann das bei schwerer körperlicher Arbeit (etwa im Paketdienst oder am Bau) das richtige Heben und Tragen betreffen oder bei der Bildschirmarbeit Haltungswechsel und regelmäßige Pausen mit Bewegung, Stichwort „bewegte Pause“. Im Homeoffice sind die Abgrenzung zwischen Erwerbsarbeit und arbeitsfreier Zeit besonders wichtig, etc. Und nicht zu vergessen: Das Leben geht nach der Arbeit weiter. [6]

Was kosten Muskel-Skelett-Erkrankungen? Wie werden die Kosten berechnet?

Die Public-Health-Literatur bietet unterschiedliche Ansätze, um die gesamtheitlichen Auswirkungen von Erkrankungen und Unfällen aus gesellschaftlicher, betrieblicher und volks-wirtschaftlicher Sicht abzubilden. Eine einheitlich umfassende Schätzung der Kostenlast von gesundheitlichen Einschränkungen wie beispielsweise den Muskel-Skelett-Erkrankungen wurde erstmals in einem länderübergreifenden Forschungsprojekt der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (EU-OSHA) durchgeführt und 2019 publiziert. Für Österreich war die EU-OSHA-Studie Ausgangspunkt für eine Berechnung der Kosten von arbeitsbedingten Erkrankungen und Unfällen auf nationaler Ebene. [7] Die Kosten von arbeitsbedingten Erkrankungen und Unfällen werden aus zwei Blickwinkeln beleuchtet. Der Blick aus der Vogelperspektive („Top down“) fokussiert auf die durch Krankheit oder Unfall behinderungsbereinigten Lebensjahre, die sogenannten DALYs (Disability-adjusted Life Years). Der „Bottom up“-Blick summiert die direkten und indirekten Kosten, die aufgrund von arbeitsbedingten Erkrankungen und Unfällen bei verschiedenen Stakeholdern entstehen.

Grafik zeigt: Kostenaufteilung arbeitsbedingter Erkrankungen und Arbeitsunfälle

Der Top-down-Ansatz

Beim Top-down-Ansatz werden physische Einheiten in Form von behinderungsbereinigten Lebensjahren (DALYs: Disability-adjusted Life Years), aufgrund von frühzeitigem Tod (YLLs: Years of Life Lost) oder gesundheitlicher Einschränkung (YLDs: Years Lived with Disability) herangezogen. Im zweiten Schritt werden die arbeitsbedingten DALYs mittels Attributivrisiken aufgeschlüsselt, um den Verlust von Lebensjahren und Lebensqualität herauszurechnen, die auf Erwerbsarbeit zurückzuführen sind. Ergebnisse aus der aktuellen WIFO-Studie „Kosten von arbeitsbedingten Unfällen und Erkrankungen in Österreich“ zeigen, dass im Berechnungsjahr 2015 13,5 % an arbeitsbedingten DALYs auf Muskel-Skelett-Erkrankungen zurückzuführen waren. Dies sind absolut 14.543 Lebensjahre, die betroffene Beschäftigte mit schmerzhaften Problemen des Bewegungs- und Stützapparats als Folge der Erkrankung ertragen müssen. Die Gesamtlast von Erkrankungen und Unfällen in Österreich beträgt 107.880 DALYs. Ein Viertel der DALYs gehen auf Krebserkrankungen zurück. Stark ins Gewicht fallen hier die verloren gegangenen Lebensjahre (YLLs) aufgrund von frühzeitigem Tod. An zweiter und dritter Stelle der Krankheitslast stehen mit 17 % die Verletzungen (Arbeitsunfälle) und mit 16,4 % die psychischen Erkrankungen. Der Top-down-Ansatz hat den Vorteil, dass physische Einheiten wie Lebensjahre eine gute Basis für einen länderübergreifenden Vergleich bieten. Tödliche Folgen sowie Verluste an Lebensqualität werden quantitativ berücksichtigt. DALYs zeigen den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung eines Landes sehr gut auf. Die Monetarisierung der DALYs in Geldeinheiten hat jedoch Grenzen. Hier stehen ethische und ökonomische Ziele in Konflikt. Selbst wenn mittels „Willingness to pay“-Ansatz durch Befragungen und Analysen Werte ermittelt werden, welche die Zahlungsbereitschaft für gewonnene gesunde Lebensjahre abbilden, ist es unmöglich einen universellen Wert zu finden, der die Diversität der Bevölkerung abbildet und noch dazu länderübergreifend Gültigkeit hat. Nichtsdestotrotz ist die Bewertung von gesunden Lebensjahren ein wichtiges Instrument für die Abwägung von Kosten und Nutzen bei medizinischen sowie präventiven Leistungen. Weitere Literatur zu diesem Thema: Schlander, M., R. Schaefer, Schwarz, O. “Empirical Studies On The Economic Value Of A Statistical Life Year (VSLY) In Europe: What Do They Tell US?”, Value in Health, 2017, 20(9), A666, doi.org/10.1016/j.jval.2017.08.1618

Grafik zeigt: Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen: 8.1 Mrd. Euro

Der Bottom-up-Ansatz

Eine detailliertere Ermittlung der Kosten von arbeitsbedingten Unfällen und Erkrankungen bietet der Bottom-up-Ansatz. Hier werden alle Kostenkomponenten auf Patientenebene gesammelt und summiert, die mit arbeitsbedingten Unfällen und Erkrankungen zusammenhängen. Drei unterschiedliche Kostenarten werden dabei herangezogen: Direkte Kosten beinhalten alle Kosten, die dazu dienen, den gesundheitlichen Zustand der erkrankten oder verunfallten Person wiederherzstellen, wie z. B.: Behandlungskosten, Eigenbeteiligung der Betroffenen an den Behandlungskosten, informelle Pflegeleistungen in der Familie, Verwaltungskosten der Versicherung u. Ä. 

Indirekte Kosten beinhalten die Produktivitätsverluste am Arbeitsplatz in den Betrieben, in den Haushalten der Betroffenen sowie in der gesamten Volkswirtschaft, die aufgrund von Erkrankungen und Unfällen entstehen, wie z. B.: Fehlzeiten in den Betrieben (Entgeltfortzahlung), Anpassungskosten für den Betrieb (z. B. Ersatzsuche), Einkommensverluste und ent-gangene Haushaltsproduktion in den Haushalten (funktionale Einschränkung bei alltäglichen Haushaltstätigkeiten). 

Tabelle zeigt Daten zu arbeitsbedingten Unfälle und Erkrankungen

Muskel-Skelett-Erkrankungen verursachen jährlich ca. 1,6 Mrd. Euro an Kosten, die von der gesamten Gesellschaft getragen werden.

Kurt Leodolter, Stefanie Wunderl

Ein nicht zu vernachlässigender Produktivitätsverlust in den Betrieben geht auf das Phänomen des „Präsentismus“ zurück. Präsentismus in den Betrieben zeigt sich, wenn kranke Be-schäftigte zur Arbeit gehen, statt im Krankenstand zu genesen. Das dadurch erhöhte Fehlerrisiko und die durch Krankheit eingeschränkte Leistung vermindern die Produktivität im Betrieb. In der langen Frist kann Präsentismus durch das Hinauszögern der vollkommenen Genesung des:der Erkrankten im Endeffekt zu längeren Fehlzeiten führen. [8] Intangible Kosten sind Folgekosten von Erkrankungen, die nicht direkt monetär messbar sind, da für deren Auswirkungen keine Bewertungspreise vorliegen, wie z. B. für Schmerz, Angst, Stress, etc. Die Auswirkungen von Unfällen und Erkrankungen beeinflussen die Lebenszeit und die gesundheitsbezogene Lebensqualität der betroffenen Personen. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität wird ähnlich wie bei den DALYs mithilfe der qualitätskorri-gierten Lebensjahre (QALYs: Quality-adjusted Life Years) berechnet. Wo DALYs die Krankheitslast einer gesamten Gesellschaft abbilden, werden in gesundheitsökonomischen Kosten-Nutzen-Analysen QALYs mittels Ergebnissen medizinischer Leistungen in Hinblick auf gewonnene Lebenszeit und Lebensqualität gemessen und verglichen. Als genereller Schwel-lenwert für die ökonomische Effizienz von Medikamenten und Therapien wird in der WIFO-Studie der Nutzwertfaktor des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE) von 41.000 Euro je QALY herangezogen. Für die Berechnung der intangiblen Kosten wurden mit diesem Wert die verloren gegangenen gesunden Lebensjahre bewertet. Die Bottom-up-Berechnung der Kostenlast arbeitsbedingter Unfälle und Erkrankungen des WIFO ergibt eine Summe von 9,9 Mrd. Euro. Die Gesamtkosten für Arbeitsunfälle betragen 1,8 Mrd. Euro und die Hauptlast verursachen die arbeitsbedingten Erkrankungen mit 8,1 Mrd. Euro. Der Kostenanteil von Muskel-Skelett-Erkrankungen wurde anhand der Fehlzeitendaten auf 20 % geschätzt. Muskel-Skelett-Erkrankungen verursachen somit jährlich ca. 1,6 Mrd. Euro an Kosten, die von der gesamten Gesellschaft getragen werden. 

QUELLEN

  • [1] Statistik Austria (2020): Arbeitsunfälle und arbeitsbezogene Gesundheitsprobleme - Modul der Arbeitskräfteerhebung 2020.
  • [2] Bödeker et al.: Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen. Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Fb 946, 2002.
  • [3] Großschädl F., Stolz E., Mayerl H. et al. (2016): Rising prevalence of back pain in Austria: considering regional disparities. Wien Klin Wochenschr 128(1–2):6–13.
  • [4] Statistik Austria: Arbeitsunfälle und arbeitsbezogene Gesundheitsprobleme 2013. http://www.statistik.at/web_de/services/publikationen/4/index.html?includePage=detailedView&sectionName=Gesundheit&pubId=694
  • [5] Statistik Austria: Neuzugänge von Pensionen der geminderten Arbeitsfähigkeit/der dauernden Erwerbsunfähigkeit. 2020.
  • [6] Dorotka, R.: Volksleiden Rückenleiden. Dachverband der Sozialversicherungsträger. 2021.
  • [7] WIFO (2020): Die Kosten arbeitsbedingter Unfälle und Erkrankungen in Österreich.
  • [8] WIFO (2021): Fehlzeitenreport 2021.
  • [9] Steinke, M., Badura, B.: Präsentismus. Ein Review zum Stand der Forschung. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2011.

Zusammenfassung

Der Autor und die Autorin zeigen die Auswirkungen von Muskel-Skelett-Erkrankungen auf Public Health anhand zahlreicher nationaler und internationaler Studien auf. Daraus leitet sich die Notwendigkeit der Prävention von arbeitsbedingten MSE ab.


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