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AUVA Packen wir’s an!

Der Mensch bleibt im Mittelpunkt

Exoskelette, virtuelles Training und spezielle Messmethoden standen im Fokus des 6. Wiener Ergonomie-Forums.

Ein Mann steht mit offenen Armen, im Hintergrund sind gezeichnete Roboter-Arme dazukopiert.
Adobe Stock

Technische Lösungen haben bereits in vielen Bereichen dazu beigetragen, körperliche Belastungen am Arbeitsplatz zu reduzieren. Heute richten sich die Hoffnungen auf neue Entwicklungen, die sich unter dem Begriff „Industrie 4.0“ zusammenfassen lassen. Sie bildeten den Schwerpunkt des 6. Wiener Ergonomie-Forums, das am 21. Juni 2022 in den Räumlichkeiten der Firma Blaha Sitz- und Büromöbel in Korneuburg bei Wien stattfand.

„Diese Veranstaltung beschäftigt sich mit Spezialaspekten der Ergonomie, vom Einsatz von Exoskeletten und virtuellen Planungsmethoden bis zu speziellen Messmethoden“, gab DI Michael Wichtl, Geschäftsführer der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Ergonomie (ÖAE), einen Überblick über die am Forum präsentierten Themen. Er betonte, dass man immer den Menschen im Mittelpunkt behalten müsse – etwa, wenn es um den Kontakt zwischen Mensch und Roboter gehe.

Industrie 4.0

„Mein Bereich sind Industrieroboter, die haben keine Probleme mit Muskel-Skelett-Erkrankungen“, stellte DI Viktorijo Malisa, fachkundiges Organ Industrie 4.0 in der AUVA-Hauptstelle, einleitend fest. Die Automatisierung hat dazu geführt, dass viele Tätigkeiten, die den Bewegungs- und Stützapparat stark belasten, von Maschinen übernommen worden sind. Andererseits ergeben sich durch den Einsatz neuer Technologien auch neue Risiken, die sowohl die IT-Security als auch die IT-Safety betreffen und damit Verletzungen und andere Gesundheitsschäden zur Folge haben können.

Die Technologien der Industrie 4.0 lassen sich in fünf Gruppen einteilen, die sich im Hinblick auf die von ihnen ausgehenden Gefährdungen unterscheiden: smarter Mensch, digitale Konnektivität, künstliche Intelligenz, digitale Fabrik und Roboter. Sicherheitsfachkräfte können je nach gruppenspezifischer Gefährdung geeignete Präventivmaßnahmen ergreifen.

Um etwa Unfälle mit kollaborierenden Robotern zu vermeiden, sind biomechanische Grenzwerte festgelegt worden. Bei einem quasi-statischen Kontakt, der zum Einklemmen von Körperteilen – z. B. zwischen Roboterarm und Werktisch – führen kann, darf der Grenzwert für die Kraft nicht überschritten werden, der Roboterarm muss zurückweichen. Bei einem transienten Kontakt, also bei der freien Berührung eines Körperteils, muss die Kollision rechtzeitig erkannt und damit ein Nachdrücken verhindert werden.

Als weiteres Beispiel nannte Malisa den Einsatz von Exoskeletten. Diese sollen zur Arbeitserleichterung dienen und dürfen keinesfalls dazu verwendet werden, die Maximalwerte bei der Lastenhandhabung zu überschreiten. „Es ist nicht erlaubt, mit einem Exoskelett 150 kg zu tragen. Wenn man stürzt, kann man sich schwer verletzen“, so Malisa.

Unterstützung durch Exoskelette

Über die Möglichkeit einer individuellen Unterstützung am Arbeitsplatz durch Exoskelette referierte Oliver Ott, MSc, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mechatronik der Universität Innsbruck. Er gehört dem Team um Univ.-Prof. Dr.-Ing. Robert Weidner, Professor für Fertigungstechnik an der Universität Innsbruck, an, das mit „Lucy“ ein Exoskelett speziell für Arbeiten über Kopf entwickelt hat.

Exoskelette können zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) dienen, erklärte Ott: „Um die Belastungen zu reduzieren, muss das System an die Rahmenbedingungen angepasst werden. Das Ziel ist nicht, die gesamte Belastung wegzunehmen, sondern zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle die Belastungsspitzen zu beseitigen.“ Der Großteil der Systeme unterstützt in den Bereichen Schultern und Rücken, die auch am stärksten von MSE betroffen sind.

Bei „Lucy“ handelt es sich um ein aktives Exoskelett, das pneumatisch betrieben wird. Es unterstützt das Heben der Arme in Kopfhöhe und darüber, wobei sich sowohl die Höhe als auch die Stärke der Unterstützung einstellen lassen. „Das System soll leicht, individuell anpassbar und gegen Cyberattacken geschützt sein“, nannte Ott die Anforderungen, die die Entwickler:innen an „Lucy“ gestellt hatten.

Exoskelette können die muskuläre Belastung in unterstützten Bewegungsphasen reduzieren, was sich positiv auf die kognitive Leistungsfähigkeit und somit auf Arbeitsqualität und Produktivität auswirken kann, erklärte Ott. Er warnte aber auch davor, das Potenzial zu überschätzen: „Es gibt keine universellen Unterstützungssysteme. Exoskelette sind kein Allheilmittel, die Anforderungen sind oft zu hoch.“

Analyse des Exoskelett-Einsatzes

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Karsten Kluth von der Universität Siegen brachte online zugeschaltet das Beispiel eines Unternehmens, das sich von Exoskeletten eine Arbeitserleichterung erwartete, die dann in der Praxis jedoch nicht festzustellen war. Der Auto- und Motorradhersteller BMW ersuchte den Wissenschafter um eine Analyse des Einsatzes von Exoskeletten in einer BMW-Werkstatt in Darmstadt.

„Der:Die Mitarbeiter:in hat 17 Minuten Zeit, die Reifen zu wechseln. Bei einem BMW X5 wiegt ein Rad mit aufgezogenem Reifen bis zu 45 kg“, beschrieb Kluth die Ausgangssituation. BMW wollte herausfinden, ob ein aktives Exoskelett, das das Aufrichten des Oberkörpers motorisch unterstützt, eine Entlastung bewirkt. Die Analyse ergab, dass die Unterschiede bei der Beanspruchung mit und ohne Exoskelett gering waren, nur das Aufnehmen und Absetzen der Räder, das einen kurzen Abschnitt des Reifenwechselns darstellt, wurde messbar und spürbar unterstützt. Eine Wirkung konnte nur festgestellt werden, wenn der:die Mitarbeiter:in eine nicht ergonomische Körperhaltung mit gebeugtem Rücken und gestreckten Beinen einnahm.

Foto von DI Michael Wichtl, Geschäftsführer der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Ergonomie (ÖAE)
DI Michael Wichtl, Geschäftsführer der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Ergonomie (ÖAE) R. Pexa
Foto von Oliver Ott, MSc, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mechatronik der Universität Innsbruck
Oliver Ott, MSc, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mechatronik der Universität Innsbruck R. Pexa
Foto von Lucas Schöffer, BSc, Junior Researcher am Institut für Creative Media Technologies, FH St. Pölten
Lucas Schöffer, BSc, Junior Researcher am Institut für Creative Media Technologies, FH St. Pölten R. Pexa

Darüber hinaus zeigten sich weitere Probleme, so Kluth: „Man braucht zum An- und Ausziehen des Exoskeletts eine zweite Person, es ist nicht bequem zu tragen und lässt sich zwar an verschiedene Körpergrößen, aber nicht an unterschiedliche Staturen anpassen. Bei sehr schlanken Personen hält es nicht“. Auf Leitern und Treppen erhöht sich die Sturzgefahr, außerdem kann man mit einer einzigen Fehlbedienung einen Totalschaden verursachen. Diese Argumente führten dazu, dass sich BMW gegen eine Anschaffung der teuren Exoskelette entschied.

Virtual Reality und Augmented Reality

DI Lucas Schöffer, BSc, Junior Researcher am Institut für Creative Media Technologies der FH St. Pölten, widmete sich in seinem Vortrag dem Nutzen von Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) im Bereich der Ergonomie. Während man bei Virtual Reality mit Hilfe einer VR-Brille komplett in eine virtuelle Welt eintaucht und die reale Umgebung nicht mehr wahrnimmt, werden bei Augmented Reality Informationen in die nach wie vor sichtbare „echte“ Umgebung eingeblendet.

Die AUVA setzt Virtual Reality zum Training von Arbeitsabläufen ein. Derzeit stehen drei virtuelle „Trainingsräume“ zur Verfügung: In einer Fabrik kann man mit einer Bohrmaschine Arbeitshöhe und Greifräume optimieren. „Die ideale Bahn, in der man die Hand bewegen soll, wird halb transparent eingeblendet“, erläuterte Schöffer. Der Prävention von Sturz und Fall dient ein Baugerüst mit Hindernissen, das sich in Höhe und Breite variieren lässt. Richtiges Heben und Tragen kann man in einer virtuellen Lagerhalle üben, in der Kisten auf Rollwagen abgestellt werden sollen.

In dem virtuellen Trainingsraum sieht der:die Übende die Kisten zwar, der haptische Reiz fehlt allerdings komplett. Dieses Manko könnte durch den Einsatz von Augmented Reality beseitigt werden. „Man hebt reale Kisten. Gleichzeitig zeigt ein eingeblendeter Avatar vor, wie man sie richtig heben soll“, skizzierte Schöffer ein mögliches Übungsszenario. Der hohe technische Aufwand ist seiner Ansicht nach das größte Hindernis für eine Verwendung in der Praxis.

AUVAfit Ergonomie

Für die Praxis moderner industrieller Arbeit braucht es Verständnis, um erfolgreiche MSE-Prävention zu betreiben – das war der Leitsatz des Beitrags von Mag. Roland Grabmüller, MA, von der AUVA-Landesstelle Graz. Bei den von ihm durchgeführten AUVAfit-Projekten müsse man oft bei grundlegenden Dingen ansetzen: „Viele Betriebe arbeiten noch an den Basics wie der richtigen Arbeitshöhe, einer ausreichenden Beleuchtung oder guten klimatischen Bedingungen.“

Bei der Evonik Peroxid GmbH, einem Unternehmen der Spezialchemie in Kärnten, stellten die zahlreichen Umbauten, Anlagenerweiterungen und Umstrukturierungen des 1910 gegründeten Werks eine besondere Herausforderung dar. Im Rahmen von AUVAfit Ergonomie wurden zahlreiche Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen erarbeitet und umgesetzt. Dazu zählte die Anschaffung einer Hebehilfe, eines elektrischen Hubwagens und mehrerer Scherenhubtische, um die Arbeitshöhe an die unterschiedliche Körpergröße der Mitarbeiter:innen anpassen zu können.

Außerdem stattete man Lagerhallen und Büros mit einer neuen Beleuchtung aus und sorgte für eine ergonomische Gestaltung der Computerarbeitsplätze. Schlaglöcher im Asphalt wurden aufgefüllt, um die Stoßbelastung der Wirbelsäule beim Staplerfahren zu verringern. „Seither müssen die Stapler nicht so oft gewartet werden“, nannte Grabmüller einen positiven Nebeneffekt. Der größte Vorteil sei jedoch, dass man mit ergonomischen Maßnahmen die Krankenstände der Mitarbeiter:innen reduzieren könne.

Belastungen messen

Eine Arbeitsplatzanalyse samt Planung ergonomischer Verbesserungsmaßnahmen bietet auch ViveLab Ergo Plc. aus Budapest an. Das ungarische Unternehmen hat eine Software entwickelt, die die ergonomische Beurteilung von Arbeitsplätzen anhand virtueller 3-D-Simulationen ermöglicht. Damit können rechtzeitig Maßnahmen getroffen werden, bevor Gesundheitsschäden auftreten. „35 Prozent der Ausfallzeiten werden durch MSE verursacht, das ist ein riesiger Verlust“, so Laszlo Ördogh, CTO von ViveLab Ergo. Speziell für die Messung von Aktionskräften der Finger konzipiert wurde das Ergovia-Messsystem der Innov8 GmbH aus Trnava. Herzstück ist ein mit Sensoren ausgestatteter Handschuh, der die Kraft aufnimmt. „Wenn die Belastung 7 kg übersteigt, gibt es automatisch einen Alarm“, erklärte Ing. Marek Knazik, PhD von Innov8. Das System findet vor allem in der Montage Verwendung.

Ergonomische Fahrzeugsitze

Dr. Susanne Frohriep, Senior Manager Global Ergonomics der Grammer AG, Hersteller von Komponenten für die Innenausstattung von Fahrzeugen mit Sitz im deutschen Ursensollen, stellte online Entwicklungen ihres Unternehmens für ergonomische Sitzverhältnisse vor. Dazu gehören neben der Form von Sitz, Lordosenstütze und Armlehnen auch ein bequemer Gurt und eine angenehme Temperatur, die sich durch Sitzheizung und Klimatisierung erzielen lässt. Eine besondere Bedeutung kommt der Federung zu, die vertikale, horizontale und seitliche Schwingungen dämpft.

Foto von Laszlo Ördogh, CTO von ViveLab Ergo
Laszlo Ördogh, CTO von ViveLab Ergo R. Pexa
Foto von Ing. Marek Knazik, PhD, Innov8 GmbH
Ing. Marek Knazik, PhD, Innov8 GmbH R. Pexa
Foto von Mag. Roland Grabmüller, MA, AUVA-Landesstelle Graz
Mag. Roland Grabmüller, MA, AUVA-Landesstelle Graz R. Pexa

Bei der Konstruktion der Sitze baut Grammer auf dem Grundsatz auf, dass Bewegung wichtig für die Wirbelsäule ist und der Mensch daher auch in sitzender Haltung in Bewegung bleiben sollte. Die Grammer-Sitze werden daher so gestaltet, dass sie eine Vielzahl von Wirbelsäulenpositionen im Kontakt mit dem Sitz ermöglichen. Als Beispiel führte Frohriep Gabelstapler an, in denen der:die Fahrer:in oft eine nach hinten orientierte Position einnimmt.

MSE und Psyche

Neben den verschiedenen technischen Aspekten widmete sich die Veranstaltung auch der Wechselwirkung zwischen physischen und psychischen Belastungen. Die Arbeits- und Organisationspsychologin Mag. Ulrike Amon-Glassl zitierte Studien, die einen Zusammenhang von Stress mit Muskel-Skelett-Erkrankungen nachweisen. So tritt Schulter-Nacken-Schmerz bei einer monotonen Tätigkeit wie Datenerfassung mehr als doppelt so häufig auf wie beim geistig anspruchsvolleren Programmieren. Bei geringer sozialer Unterstützung ist die Wahrscheinlichkeit für Schulter-Nacken-Beschwerden ebenfalls deutlich erhöht.

Foto von Mag. Ulrike Amon-Glassl, Arbeits- und Organisationspsychologin
Mag. Ulrike Amon-Glassl, Arbeits- und Organisationspsychologin R. Pexa
Foto von DI Viktorijo Malisa, fachkundiges Organ Industrie 4.0 in der AUVA-Hauptstelle
DI Viktorijo Malisa, fachkundiges Organ Industrie 4.0 in der AUVA-Hauptstelle R. Pexa

In einer weiteren Studie wurde untersucht, wie sich die Arbeitsbedingungen auf die Lendenwirbelsäule auswirken. Bei negativem Sozialklima und mangelnden Rückmeldungen ist das Risiko für Lumbalschmerz um mehr als das Doppelte erhöht, bei wenig inhaltlichem Spielraum, wenig Information und Mitsprache, geringer Abwechslung und geringem Haltungswechsel um fast das Doppelte.

Entgegenwirken können Arbeitgeber:innen, indem sie ein vertrauensvolles Arbeitsklima und eine positive Fehlerkultur schaffen, die Mitarbeiter:innen in Entscheidungsprozesse einbinden und ihnen regelmäßig wertschätzend Feedback geben. In Zeiten der Pandemie stellte für viele nicht nur Überforderung und Mangel an Sozialkontakten im Homeoffice eine Herausforderung dar, sondern insbesondere für introvertierte Personen auch die Rückkehr in die Firma. 

Manche Unternehmen haben auch dafür eine Lösung gefunden, so Amon-Glassl – indem sie ihre „neuen“ alten Mitarbeiter:innen bei Onboarding-Projekten wieder willkommen geheißen haben.

Zusammenfassung

Im Juni 2022 fand in Korneuburg das 6. Wiener Ergonomie-Forum statt. Auf dem Programm standen die Themen Industrie 4.0 und insbesondere Exoskelette, virtuelles Training sowie spezielle Messmethoden. Der Zusammenhang zwischen physischen und psychischen Belastungen war ebenfalls ein Thema.


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