AUVA Packen wir’s an!
Aus der Praxis, für die Praxis
Muskel-Skelett-Erkrankungen lassen sich vermeiden. Bei der AUVA-Informationsveranstaltung in Bad Ischl vorgestellte Good-Practice-Beispiele zeigen, wie Prävention mit AUVAfit gelingen kann.
In Zeiten von Fachkräftemangel tragen gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen dazu bei, Arbeitgeber:innen attraktiv zu machen – darauf wies Mag. Marina Pree-Candido, Direktorin der AUVA-Landesstelle Linz, bei der Eröffnung der Veranstaltung „Belastungen reduzieren, MSE vorbeugen – innovative Lösungen und AUVAfit-Praxisbeispiele“ am 26. April 2022 in Bad Ischl hin: „Ein Unternehmen, das Präventionsmaßnahmen trifft, bekommt gute Mitarbeiter:innen und kann sie auch halten.“ Das Präventionsprogramm AUVAfit unterstützt Betriebe dabei, die Qualität der Arbeitsplätze zu verbessern.
AUVAfit
AUVAfit besteht aus den Modulen Ergonomie und Arbeitspsychologie, die man kombiniert oder getrennt buchen kann. Arbeitspsychologin Mag. Eva Petershofer von der AUVA-Landesstelle Linz beschrieb in ihrem Vortrag den Ablauf eines AUVAfit-Projekts. Nach der Klärung des Auftrags, Feststellung des Handlungsbedarfs und Bildung einer Steuerungsgruppe erfolgt die Vertragsunterzeichnung. Für die Analyse werden bis zu acht Arbeitsplätze ausgewählt und Analyseinstrumente festgelegt. Sind die arbeitsbedingten Belastungen analysiert, präsentieren die AUVA-Berater:innen die Ergebnisse, auf deren Basis sie gemeinsam mit dem Unternehmen geeignete Maßnahmen erarbeiten.
Martina Lettner, BSc MPH, Ergonomin in der AUVA-Landesstelle Linz, erläuterte die Vorgangsweise bei der Analyse körperlicher Belastungen. Zuerst wird ein Grobscreening durchgeführt, z. B. der Basis-Check der Leitmerkmalmethoden (LMM) in Kombination mit einem Einstiegsscreening. „Der Betrieb lernt, Methoden wie den Basis-Check an anderen Arbeitsplätzen selbst einzusetzen“, erklärte Lettner. Anschließend kommen spezielle Screeningverfahren, z. B. die LMM, zum Einsatz. Für darüber hinausgehende Fragestellungen bietet sich ein Expertenscreening an, etwa Captiv mit Video- und Bewegungsanalyse sowie Eyetracking.
Psychische Belastungen
Neben körperlichen können auch psychische Belastungen zu Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) führen. Mag. Maria Reiter, Arbeitspsychologin in der AUVA-Landesstelle Graz, unterschied zwischen positivem kurzfristigem Stress, der körperliche Aktivierung, erhöhte Konzentration und gesteigertes Durchhaltevermögen bewirkt, und negativem Dauerstress. Letzterer hat oft körperliche Auswirkungen wie Verspannung der Muskulatur und dadurch Beschwerden im Kopf-, Nacken- und Schulterbereich. Die Wahrscheinlichkeit für Unfälle steigt. Zur Entstehung von MSE tragen organisatorische und psychosoziale Risikofaktoren bei. Zu den organisatorischen Faktoren zählen ein hohes Arbeitspensum, eine ungünstige Arbeitszeitgestaltung, keine Möglichkeit zur Veränderung der Arbeitshaltung, ein geringer Handlungsspielraum, unklare bzw. widersprüchliche Aufträge sowie monotone Tätigkeiten. Psychosoziale Faktoren sind gestörte Kommunikation, mangelnde Rückmeldung, fehlende Unterstützung durch Vorgesetzte bzw. Kollegen:Kolleginnen, Konflikte am Arbeitsplatz und geringe Entwicklungsmöglichkeiten. „Erfolgreiche Stressprävention beruht auf einer fundierten Analyse der Belastungen und Ressourcen“, so Reiter.
Kosten von MSE
Die Investition in Prävention zahle sich aus, betonte Stefanie Wunderl, MSc, fachkundiges Organ Ökonomie in der AUVA-Hauptstelle. Die Folgekosten von Arbeitsunfällen und arbeitsbedingten Erkrankungen – 20 Prozent davon sind MSE – betragen in Österreich 9,9 Milliarden Euro pro Jahr. Direkte Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen, etwa für Behandlungen, machen mit neun Prozent den geringsten Anteil aus. Zwei Drittel entfallen auf indirekte Kosten wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Mit einem Viertel schlagen die sogenannten intangiblen Kosten zu Buche, bei denen auch Schmerz und Verlust an gesunden Lebensjahren ein monetärer Wert zugeordnet wird. Wie hoch die Kosten von MSE für ein Unternehmen sind, erläuterte Wunderl anhand eines Praxisbeispiels: Eine Mitarbeiterin geht wegen einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule für 16 Tage in Krankenstand. Für den daraus entstehenden Produktivitätsverlust und die Entgeltfortzahlung müssen 2.640 Euro veranschlagt werden. Dazu kommt der Aufwand für die Suche nach einer Ersatz-Arbeitskraft in der Höhe von 180 Euro. „Wenn die Mitarbeiterin arbeitet, bevor sie genesen ist, hat man einen Produktivitätsverlust von zirka 50 Prozent“, so die Ökonomin, die für 30 Tage Präsentismus weitere Kosten von 2.500 Euro veranschlagt. Ihr Fazit: Prävention zahlt sich aus, sie reduziert Kosten und menschliches Leid.
Gelungene Präventionsprojekte
Beispiele für gelungene Präventionsprojekte in Deutschland präsentierte der online zugeschaltete Prof. Dr. Rolf Ellegast, stellvertretender Direktor des Instituts für Arbeitsschutz (IFA) der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung e. V. (DGUV). Die DGUV evaluierte den Einsatz von Vakuumhebehilfen, die für Gepäcktransferzentralen an Flughäfen angeschafft werden sollten. „Im Durchschnitt konnte die Belastung um zwei Drittel reduziert werden, aber gleichzeitig gab es einen Produktivitätsrückgang um 21 Prozent. Die Arbeitsabläufe wurden so geändert, dass es danach zu keinem Produktivitätsrückgang kam“, schilderte Ellegast. Im Rahmen einer ergonomischen Interventionsstudie evaluierte das IFA die Arbeitsplatzgestaltung in Kitas. Maßnahmen der Verhältnis- und der Verhaltensprävention sollten die gesundheitlichen Risiken für den Bewegungs- und Stützapparat der Elementarpädagogen:-pädagoginnen verringern, etwa kniebelastende Positionen oder ungünstige Rumpfhaltungen. Eine nach ergonomischen Gesichtspunkten umgebaute „Muster-Kita“ diente als Vorbild. Bei der Nach-Evaluation drei Jahre später stellte das IFA fest, dass die Maßnahmen im Alltag noch weitestgehend wirksam waren.
Ergonomie im Gastgewerbe
Stephan Huis, MSc, wissenschaftlicher Mitarbeiter der deutschen Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN), erklärte, worauf er bei Beratungen von der BGN betreuter Unternehmen Wert legt: „Der Arbeitsplatz muss an die Voraussetzungen der Personen, die dort arbeiten, angepasst werden, und nicht umgekehrt. Meist werden bestehende Arbeitsplätze durch Reparatur-Ergonomie verbessert, was mit viel Aufwand und hohen Kosten verbunden ist. Unser Ziel ist es, ergonomische Anforderungen schon bei Planung und Anschaffung zu berücksichtigen.“ Als Beispiel führte er die richtige Arbeitshöhe an. Diese sollte bei durchschnittlich schweren Tätigkeiten 10 bis 15 cm unterhalb des Ellbogens liegen, wobei neben der Höhe des Tisches auch die Höhe des Arbeitsobjekts berücksichtigt werden muss. Ein ideales Hilfsmittel ist ein schnell und leicht verstellbarer Arbeitstisch. Steht dieser nicht zur Verfügung, kann man sich mit einer Arbeitsflächenerhöhung oder einem Podest behelfen. Beim Palettieren sind im Boden versenkbare Palettierhilfen eine mögliche Alternative.
Blickle Räder und Rollen
Für die Verringerung der Belastungen durch Ziehen und Schieben wurde die Blickle Räder und Rollen GmbH mit dem Innovationspreis 2021 ausgezeichnet. Markus Spannberger, Geschäftsführer des Unternehmens, beschrieb die Herausforderungen, die sich bei der Handhabung von Transportgeräten in der Intralogistik ergeben: „Schwere Lasten müssen mit möglichst hoher Geschwindigkeit transportiert werden, oft auch über Schwellen.“ Für die Ergonomie sind dabei Anfahr-, Roll- und Schwenkwiderstand entscheidend, die von der Rolle, dem Laufbelag und der Raddimension abhängen.
Können die ergonomischen Anforderungen mit einem rein manuellen Transportgerät nicht erfüllt werden, bietet sich ein elektrisches Antriebssystem wie ErgoMove von Blickle an. Beim Anfahren des Wagens mit elektrischer Unterstützung ist für den:die Bediener:in kein bis wenig Kraftaufwand erforderlich. Speziell in engen Gassen, beim Drehen am Stand und bei mehreren hintereinander fahrenden Transportgeräten bietet ErgoMove eine große Erleichterung.
Alfred Wagner Stahl-Technik & Zuschnitt
Die Alfred Wagner Stahl-Technik & Zuschnitt GmbH erhielt für im Rahmen eines AUVAfit-Projekts erarbeitete Maßnahmen 2016 und 2018 die Goldene Securitas. „In der Kommissionierung sind Hubameisen zum Arbeiten auf richtiger Höhe angeschafft worden. Die Schleifer haben einen automatischen Wendetisch bekommen. Das Abräumen aus der Scheuertrommel wird nicht mehr händisch gemacht, sondern mit mobilen Krananlagen mit Elektromagneten“, so Christian Aufreiter, Betriebsleiter von Wagner Stahl. Nach Beendigung von AUVAfit setzte das Unternehmen mehrere Nachfolgeprojekte um. Das Arbeitszeitmodell für den Schichtbetrieb wurde überarbeitet, die Hallen erhielten eine neue LED-Beleuchtung, es gab Vorträge und Übungen zum richtigen Umgang mit Stress. Besonders stolz ist Christine Wagner, Geschäftsführerin von Wagner Stahl, auf den „Garten der Sinne“: „Die Mitarbeiter:innen haben den Garten selbst angelegt und verbringen die Pausen jetzt gerne dort.“
G4S Secure Solutions
Die Reduktion psychischer Belastungen stand im Fokus der Maßnahmen, die die G4S Secure Solutions AG in Vordernberg setzte. Im dortigen Anhaltezentrum ist das Sicherheitsunternehmen mit der Ausführung logistischer Aufgaben in Zusammenarbeit mit der Polizei betraut. Laut Monika Haidn, Betriebsleiterin im Anhaltezentrum Vordernberg, stellt der direkte Kontakt mit den Schubhäftlingen die größte psychische Herausforderung dar. Im Zuge des AUVAfit-Projekts wurden die Mitarbeiter:innen befragt, in welchen Bereichen sie sich Änderungen wünschten. Ein wesentlicher Punkt war eine bessere Work-Life-Balance, für deren Realisierung ein neuer Dienstplan entwickelt wurde. Für Führungskräfte gab es Coachings durch Arbeitspsychologen:-psychologinnen, für die Mitarbeiter:innen Schulungen zum Thema soziale Kompetenzen; darüber hinaus wurden Maßnahmen zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls gesetzt.
Standing Ovation
Das Erfinderduo Peter Lammer und Bernhard Tichy präsentierte eine innovative Steh- und Arbeitshilfe, die sie gemeinsam entwickelt hatten. Lammer, von Beruf Koch, konnte nach einem Motorradunfall keine Tätigkeiten im Stehen mehr ausführen. Er wollte aber wieder an seinen früheren Arbeitsplatz zurückkehren und wandte sich an seinen Freund Tichy, der einen Prototyp des Geräts konstruierte. „Das Hilfsmittel nimmt das Gewicht von den Beinen, man sitzt im Stehen“, beschrieb Tichy. Die beiden Freunde gründeten die Standing Ovation GmbH, die Steh- und Bewegungshilfen für Personen mit eingeschränkter Belastbarkeit der Beine produziert. Die Geräte ermöglichen es einerseits, dass Menschen mit Behinderung, die arbeiten wollen, es auch tun können – andererseits ergeben sich auch für Unternehmen Vorteile. „Größere Betriebe müssen für jeden 25. Arbeitsplatz einen integrativen Arbeitsplatz schaffen, sonst ist eine Ausgleichstaxe zu entrichten. Diese erspart man sich mit dem Gerät“, so Lammer.
Blumen Karin
Mag. Mario Frei, Projekt-Kooperationspartner der AUVA, ging in seinem Vortrag auf die Belastungen für den Bewegungs- und Stützapparat ein, die sich durch die Arbeit in einem Blumengeschäft ergeben. Er betreut das derzeit laufende AUVAfit-Projekt bei „Blumen Karin Floristik & Geschenke“ in Oberösterreich. Die Beschäftigten hatten über Beschwerden insbesondere in den Armen und im Rücken geklagt, woraufhin sich Inhaberin Karin Pelz an die AUVA wandte. Eine der Ursachen für Fehlbelastungen war die nicht für alle Mitarbeiterinnen passende Höhe des Tisches, der zum Binden von Gestecken verwendet wird. Frei empfahl, einen höhenverstellbaren Tisch anzuschaffen. Statt die schweren Vasen vom Kühlraum in den Schauraum bzw. wieder zurück zu tragen, wird nun ein ausrangierter Einkaufswagen für den Transport verwendet. Bei der Grabpflege, die oft in einer unergonomischen Haltung durchgeführt wird, lag der Fokus auf Bewusstseinsbildung – auf während der Arbeit aufgenommenen Fotos sehen die Mitarbeiterinnen, welche Positionen sie einnehmen.
„Wir können von dieser Veranstaltung mitnehmen, dass es oft gar nicht so viel braucht, um etwas Gutes voranzubringen“, resümierte AUVA-Kampagnenmanagerin Dr. Marie Jelenko in ihrem Schlusswort. „Alle Informationen zum aktuellen Schwerpunkt, zu vergünstigten Seminaren und Workshops, zu AUVAfit sowie alle Publikationen finden Sie unter www.auva.at/mse“, so Mag. Julia Lebersorg-Likar, fachkundiges Organ Ergonomie in der AUVA-Hauptstelle. Die Abschlussveranstaltung des Präventionsschwerpunkts 2021/22 „Packen wir’s an“ wird am 20. Oktober 2022 im Raum Wien stattfinden.
Zusammenfassung
Bei der Veranstaltung „Belastungen reduzieren, MSE vorbeugen – innovative Lösungen und AUVAfit-Praxisbeispiele“ am 26. April 2022 in Bad Ischl wurden Maßnahmen zum Schutz vor Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparats vorgestellt, die Unternehmen unterschiedlicher Branchen im Rahmen von AUVAfit-Projekten erarbeitet und anschließend umgesetzt hatten. Die Palette reichte von der Produktion über den Handel bis zum Gastgewerbe.