Forschung
Ziehen und Schieben unter der Lupe
Im Rahmen ihrer gesetzlichen Verpflichtung muss die AUVA auch „nach den wirksamsten Methoden und Mitteln zur Erfüllung ihrer Aufgaben“ forschen. Dies gilt auch für die Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen.
Wissenschaft, Forschung und Industrie zu verbinden ist ein wichtiger Aspekt der Zusammenarbeit der AUVA, Fachgruppe Ergonomie, und der FH Technikum. Dabei werden Masterprojekte ausgeschrieben, die von Studierenden gemeinsam mit einem:einer Ergonomieexperten:-expertin der AUVA umgesetzt werden.
Im Rahmen des Projekts „Entwicklung eines Prüfstandes für die Messung von Zug- und Druckkräften mit gleichzeitiger EMG-Messung zur Bestimmung der aktiven Muskeln“ entwickelte der Student Stefan Fasching einen Prüfstand, um Druck- und Zugkräfte bei den manuellen Lastenhandhabungsvorgängen Ziehen und Schieben zu erfassen sowie ihre Auswirkung auf das Muskel-Skelett-System und die Beanspruchung auf den Körper ableiten zu können.
Welche Aufgabe beansprucht welche Körper-Areale?
Ziehen, Schieben, Heben und Tragen von Objekten gehören zu den täglichen Aufgaben. Dafür muss eine bestimmte Kraft aufgebracht werden. Dabei wird beim Ziehen und Schieben eine horizontale Kraft entwickelt, die durch Neigungen des Oberkörpers und Ausnutzen des Körperschwungs verstärkt werden kann. Die entwickelte Kraft wirkt sich auf den Körper aus und beansprucht den Muskel-Skelett-Apparat. Je nach Aufwendung betrifft dies den Hand-Arm-Schulterbereich sowie Hüfte, Knie und Lendenwirbelsäule. Muskel-Skelett-Beschwerden entstehen bei alltäglichen Tätigkeiten.
Deshalb wurde im Verlauf der Studie versucht, eine Verbindung zwischen Aufgaben des alltäglichen Lebens und dabei beanspruchten Muskeln oder Arealen zu finden. Mit den Informationen kann die Durchführung so verändert werden, dass die Bereiche weniger beansprucht werden. Dies kann durch das Ändern der Zug- oder Druckposition, der Höhe der Griffe oder der Beinposition geschehen.
Es wurde ein Prototyp entwickelt, der es ermöglicht, auftretende Zug- und Druckkräfte in verschiedenen Positionen zu messen. Dabei sind Positionen und Übungen an Aufgaben des täglichen Lebens angelehnt. Weiters sollte festgestellt werden, welche Muskeln bei den Aufgaben aktiv sind und welche Areale anfällig sind. Der Fokus in dieser Arbeit wurde auf die obere Extremität gelegt. Sieben Muskeln wurden für die Untersuchung ausgewählt.
Drei Forschungsfragen wurden definiert:
- Ist es möglich einen Prototyp zu bauen, der in der Lage ist, die auftretenden Kräfte in verschiedenen Zug- und Druckpositionen zu messen?
- Welche der Oberarm-, Brust-, Schulter- und Rückenmuskeln sind beim Ziehen und Schieben am meisten aktiv?
- Welche Areale sind beim Ziehen und Drücken anfällig für Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE)?
Um die genannten Forschungsfragen beantworten zu können, musste zuerst ein geeigneter Prototyp samt Kraftmesssystem entwickelt werden. Das batteriebetriebene System ist in den Prototyp eingebaut und besteht aus einer 100-kg-Wägezelle, einem Verstärker, einem Mikrocontroller und einem Bluetooth-Modul, welches die gemessenen Kraftdaten drahtlos an eine auf einem Computer befindliche App, das User Interface, weiterleitet. Dabei werden die Daten in Echtzeit dargestellt und können im Anschluss für die Datenauswertung gespeichert werden. Für die Übungsdurchführung wurden drei Übungen konzeptioniert. Diese teilten sich auf in das Ziehen und Schieben eines Einkaufswagens, eines Hubwagens und eines Fleischhängewagens.
Biomechanische Grundlagen
Die Kraft zum Bewegen eines Objekts kann im Falle des Ziehens und Schiebens in die Anfangskraft, anhaltende Kraft, maximale Kraft, Rückhaltekraft und die Manövrierkraft eingeteilt werden. Dabei hängt die eigentliche Kraftentwicklung vom Reibungswiderstand, dem Gewicht der Last, der Griffhöhe, der Körperhaltung, der Griffweite und Griffform ab. Sind der Reibungswiderstand und das Gewicht einer Last sehr groß oder vergrößern sie sich, so muss sich die aufgebrachte Kraft ebenfalls vergrößern. Die Körperhaltung und die Griffhöhe sind eng miteinander verbunden, denn je niedriger die Griffe platziert sind, desto weiter muss sich die schiebende oder ziehende Person vorneigen. Dies wirkt sich sowohl auf die Kraftentwicklung als auch auf die Belastungen in den Gelenken aus.
Die beim Ziehen und Schieben entstehenden Kräfte beanspruchen das Muskel-Skelett-System. Beschwerden an den Muskeln, Sehnen und Gelenken können unter anderem durch drei Phänomene erklärt werden. Im ersten Fall führt eine Überbeanspruchung durch eine langanhaltende statische Belastung zur Muskelermüdung. Zusätzlich wird der Druck auf die Gefäße der Muskeln erhöht und die Durchblutung der Muskeln gestört. Durch die Muskelermüdung kommt es zu asymmetrischen Aktivitätsmustern der einzelnen Muskeln und zu einem Ungleichgewicht der Muskelkräfte. Durch dieses entsteht ein unnatürliches Spannungsverhältnis und Muskel-Skelett-Beschwerden werden begünstigt.
Abbildung 1: Vorderansicht und Seitenansicht des Prototyps.
Im Bereich der Sehnen entstehen Beschwerden, wenn die von den Muskeln übermittelten Zugkräfte überschritten werden. Die Durchblutung und Ernährung der Sehnen wird negativ beeinflusst und degenerative Prozesse werden begünstig. Die Durchblutung der Sehnen ist abhängig von der Muskelspannung und sinkt mit steigender Spannung. Beim dritten Fall treten im Bereich der Gelenke Beschwerden durch eine zu große Druckbelastung auf, was dazu führt, dass die Synovialmembran gereizt wird. Die Produktion der Gelenkflüssigkeit wird beeinträchtigt, was zu einer Minderversorgung der Gelenkknorpel führen kann. Dadurch können weitere degenerative Prozesse ausgelöst werden.
Prototyp aus Buchenholz
Um die genannten Forschungsfragen beantworten zu können, musste ein aus Holz gefertigter Prototyp (siehe Abbildung 1) entwickelt werden. Aufgrund der guten mechanischen Eigenschaften, Biegefestigkeit und Elastizität fiel die Wahl der Holzart auf Buchenholz. Das Gestell setzt sich aus vertikal und horizontal verlaufenden Rahmen, Querstreben und einer Ablage mit Gewichtssteinen zusammen. Am oberen Ende des Prototyps befindet sich ein Seilzugsystem. Dieses ermöglicht ein einfacheres Verschieben der Messvorrichtung in der vertikalen Richtung. Die Messvorrichtung besteht aus einer inneren und einer äußeren Box, zwischen denen die Wägezelle eingespannt ist. Jeweils am rechten und linken Ende der Boxen befinden sich eine Schubladenführung und Rollen. An der inneren Box ist die Vorderplatte befestigt. Die eigens entworfenen hölzernen Griffe können in beliebiger Position in der Vorderplatte befestigt werden.
Messschaltung und Gehäuse
Um die auf den Sensor ausgeübte Zug- und Druckkraft in der Messvorrichtung auslesen zu können, musste eine Messschaltung konzeptioniert werden. Diese beinhaltete einen Mikrokontroller, einen Verstärker und ein Bluetooth-Modul, welches die ermittelten Kraftdaten an ein selbst entwickeltes User Interface schickt.
Mit Ausnahme des Sensors wurde für die Bauteile ein Gehäuse entwickelt und im 3-D-Druckverfahren hergestellt. Dabei werden die verwendeten Bauteile mithilfe von Stifthalterungen, Klipps und Klemmführungen in Position gehalten. Das gesamte Gehäuse wurde über Schrauben an der Seitenstrebe des Prototyps angebracht (siehe Abbildung 2).
User Interface
Da die Kräfte beim Ziehen und Drücken nicht konstant sind, wurde für die Darstellung der Zug- und Druckkräfte ein User Interface (Abbildung 3) entwickelt. Dieses erlaubt, die gemessenen Zug- und Druckkräfte in Echtzeit nachzuverfolgen. In einem Kraftverlauf werden die aufgebrachten Kräfte dargestellt.
Übungsdurchführung
Um einen Bezug zur Realität herzustellen zu können, wurden die Übungen angelehnt an das Ziehen und Drücken eines Hubwagens, eines Einkaufswagens und eines Fleischhängewagens. Die untersuchten Muskeln waren M. biceps brachii, M. triceps brachii, M. pectoralis major, M. latissimus dorsi, M. trapezius pars descendens, M. trapezius pars transversa und M. trapezius pars ascendens. Für die Übungsdurchführung wurden fünf männliche Probanden ausgewählt, wobei die Probanden die Übungen jeweils drei Mal durchführen sollten.
Abbildung 2: Gehäuse angebracht an der rechten Seitenstrebe.
Die Probanden sollten auf vorbestimmten Griffhöhen und -breiten (siehe Tabelle 1) eine Druckkraft von rund 300 bis 400 N und eine Zugkraft von rund 300 bis 350 N aufbringen. Das Ziehen des Hubwagens wurde nur mit einer Hand ausgeführt. Deshalb wird keine Griffbreite angegeben. Als Beispiel für eine erfolgreiche Signalaufnahme kann in Abbildung 4 ein Kraftverlauf und die Aufnahme des M. biceps brachii gesehen werden.
Datenauswertung
Die Elektromyogramme der sieben Muskeln pro Proband und pro Versuch wurden gefiltert. Mithilfe der Sensordaten wurden die Zug- und Druckzyklen der EMG-Signale der einzelnen Muskeln ermittelt und von den einzelnen Zug- und Druckzyklen jeweils der Mean Absolute Value (MAV) und die Medianfrequenz (MED) berechnet. Mit dem MAV kann eine Aussage über das Kontraktionslevel und über die MED eine Aussage über die Muskelermüdung getroffen werden. Dazu wurde die Ermüdungswahrscheinlichkeit berechnet. Am Schluss lag für jede Übung jeweils eine zusammengefasste Zug- und Drucktabelle vor. In diesen Tabellen sind die Muskeln nach deren Ermüdungswahrscheinlichkeit abfallend sortiert.
Über die Tabelle des MAV kann nun festgestellt werden, welche Muskeln beim Ziehen und Drücken am meisten aktiv und möglichweise anfällig für Muskel-Skelett-Beschwerden sind.
Durch die Tabellen der MED kann festgestellt werden, welche Muskeln oder Übungen die größte Ermüdungswahrscheinlichkeit aufweisen. Durch eine Kombination des MAV oder MED kann eine deutlichere Bestätigung gefunden werden, welche Muskeln oder Areale anfällig für Muskel-Skelett-Beschwerden sind. Beispiele der Muskelaktivität, der Ermüdungswahrscheinlichkeit und der Auftrittswahrscheinlichkeit bezogen auf das Drücken des Einkaufswagens können aus Tabelle 2, Tabelle 3 und Abbildung 5 entnommen werden.
Ergebnisse und Schlussfolgerung
Im Bereich des Kraftverlaufs wurde festgestellt, dass annähernd alle Probanden die vordefinierte Kraft erreichen und halten konnten. Zusätzlich wurde gezeigt, dass es den Probanden bei einer geringeren Griffbreite beim Drücken des Einkaufswagens schwer fiel, eine große Kraft zu entwickeln. Dies ist zurückzuführen auf die anatomisch ungünstige Position der Übungsdurchführung. Die Daten zu den Muskelaktivitäten zeigten, dass sich diese bei den einzelnen Probanden unterscheiden, auch wenn diese mit derselben Kraft drücken oder ziehen. Dies trifft ebenso für die einzelnen Zug- und Druckzyklen zu. Die Ergebnisse der Medianfrequenz zeigten, dass das Ziehen im Vergleich zum Drücken eine größere Ermüdungswahrscheinlichkeit aufweist. Dies ist ein Indiz dafür, dass beim Ziehen die Muskeln stärker beansprucht werden. Aus diesem Grund sollte das Drücken dem Ziehen vorgezogen werden.
Weiters wurde festgestellt, dass beim Drücken mit einer geringeren Griffbreite eine größere Anzahl an Muskeln eine größere Ermüdungswahrscheinlichkeit aufweisen. Aufgrund der Übungsaufgabe konnte beim Drücken keine Aussage über die Ermüdungswahrscheinlichkeit bei unterschiedlichen Griffhöhen getroffen werden. Dies betrifft ebenfalls die Griffhöhe und Griffbreite im Bereich des Ziehens.
Die Ergebnisse des Kontraktionslevels zeigten, dass die M. trapezius pars descendens und pars transversa sowie der M. triceps brachii bei allen Druckübungen zu den aktivsten Muskeln gehören, gefolgt vom M. pectoralis major, dessen Aktivität von der Übungsaufgabe abhängt. Im Bereich des Ziehens konnte festgestellt werden, dass der M. triceps brachii, M. biceps brachii, M. trapezius pars ascendens und pars transversa und der M. latissimus dorsi sich jeweils zwei Mal unter den aktivsten Muskeln befinden. Dabei ist die Aktivität des M. latissimus dorsi, wie beim M. pectoralis major beim Drücken, von der Übungsaufgabe abhängig. Aufgrund dieser Ergebnisse kann die zweite Forschungsfrage damit beantwortet werden, dass die genannten Muskeln beim Ziehen und Drücken am meisten aktiv sind.
Durch den Vergleich der Muskelermüdung und des Kontraktionslevels wurde gezeigt, welche Muskeln oder Areale anfällig für Muskel-Skelett-Beschwerden sind. Dabei zeigte sich, dass der M. triceps brachii und M. trapezius pars descendens beim Drücken besonders anfällig sind. Beim Ziehen sind es der M. trapezius pars ascendens und pars transversa, M. latis-simus dorsi, M. triceps brachii und der M. biceps brachii. Zur Beantwortung der dritten Forschungsfrage kann gesagt werden, dass die genannten Muskeln und deren Sehnen anfällig für Muskel-Skelett-Beschwerden sind. Da einige Sehnen der Muskeln im Bereich der Gelenke anschließen, ist es nicht ungewöhnlich, dass Sehnen betreffende Beschwerden als Schmerzen in den Gelenken der oberen Extremität wahrgenommen werden. Des Weiteren kann davon ausgegangen werden, dass die Gelenke durch die auftretenden Zug- und Druckkräfte ebenfalls stärker belastet werden und somit Beschwerden in diesen begünstigt werden.
Durch die Untersuchung der Ergebnisse dieser Arbeit konnte festgestellt werden, welche Muskeln beim Ziehen und Drücken von realitätsnahen Übungen am meisten aktiv sind, und es konnten mögliche für Beschwerden anfällige Areale identifiziert werden.
Zusammenfassung
Im Rahmen eines Masterprojekts von FH Technikum und AUVA wurde mithilfe eines Prüfstandes untersucht, welche Druck- und Zugkräfte bei verschiedenen manuellen Lastenhandhabungsvorgängen auftreten und wie sich diese auf das Muskel-Skelett-System und die Beanspruchung des Körpers auswirken können.