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AUVA Packen wir's an!

27. Innsbrucker Ergonomieforum: Neue Technologien und MSE im Fokus

Neue Technologien zur Verhinderung von Muskel-Skelett-Erkrankungen standen im Fokus des Forums. Ein Schwerpunkt lag auf den Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Exoskeletten.

Ein Arbeiter trägt ein Solarpaneel zu seinem Kollegen
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Wie können technische Lösungen dazu beitragen, Schäden des Bewegungs- und Stützapparats zu verhindern? Auf dem von der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Ergonomie (ÖAE) in Kooperation mit der AUVA hybrid abgehaltenen 27. Innsbrucker Ergonomieforum am 10. November 2021 versuchte man, eine Antwort auf diese Frage zu finden. „Im Fokus der Veranstaltung, die im Rahmen des AUVA-Präventionsschwerpunkts ‚Packen wir’s an!‘ stattfindet, liegen Muskel-Skelett-Erkrankungen und neue Technologien“, stellte DI Michael Wichtl von der Abteilung für Unfallverhütung und Berufskrankheitenbekämpfung der AUVA, Geschäftsführer der ÖAE, fest.  

Physische und psychische Belastungen

Was unter dem Begriff Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) genau zu verstehen ist und wie diese nicht nur durch physische, sondern auch durch psychische Faktoren verursacht bzw. verstärkt werden, erklärte die Arbeits- und Organisationspsychologin Mag. Ulrike Amon-Glassl: „MSE sind entzündliche und degenerative Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparats, z. B. von Wirbelsäule, Gelenken, Muskeln, Sehnen und Bändern.“ In der EU leiden drei von fünf Beschäftigten an MSE, bei den Betroffenen überwiegen ältere Personen.

Eine über einen längeren Zeitraum bestehende psychische Anspannung führt laut Amon-Glassl zu dauerhaften physischen Verspannungen. Sie zitierte eine Studie zum Zusammenhang von Schulter-Nacken-Schmerz mit beruflicher Tätigkeit und sozialer Unterstützung. Die Studie zeigt, dass der Schmerz bei einer monotonen Tätigkeit wie Datenerfassung mehr als doppelt so häufig auftritt wie beim geistig anspruchsvolleren Programmieren. Bei geringer sozialer Unterstützung ist die Wahrscheinlichkeit für Schulter-Nacken-Beschwerden ebenfalls deutlich erhöht.

In einer weiteren Studie wurde untersucht, wie sich Arbeitsbedingungen auf die Lendenwirbelsäule auswirken. „Bei negativem Sozialklima und mangelnden Rückmeldungen ist die Wahrscheinlichkeit für Lumbalschmerz um mehr als das Doppelte erhöht, bei wenig inhaltlichem Spielraum, wenig Information und Mitsprache, geringer Abwechslung und geringem Haltungswechsel um fast das Doppelte“, so Amon-Glassl. Unklare Entscheidungen, zu wenig Information und starke emotionale Anforderungen haben ein 1,5-faches Risiko zur Folge.

Digitale Technologien

Wie neue digitale Technologien zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen beitragen können, beschrieb Wichtl in seinem Referat, das er in Vertretung von Mag. Norbert Lechner, fachkundiges Organ Ergonomie in der AUVA-Hauptstelle, hielt. Alle vorgestellten Technologien werden von der AUVA derzeit erprobt bzw. bereits angewendet. Zum Einsatz kommen sie bei der Analyse zur Unterstützung der Gefährdungsbeurteilung bei körperlicher Belastung, in der Beratung, im Training und in Schulungen.

Bei Captiv Motion handelt es sich um ein sensorbasiertes Bewegungsanalysesystem, bei dem am Körper angebrachte Sensoren Winkel, Beschleunigung, Bewegungswege und weitere Belastungsparameter erfassen, um Bewegungsabläufe zu visualisieren. Eine automatisierte Auswertung weist für jede Sequenz einer Tätigkeit die Belastung der einzelnen Körperbereiche aus. Dieses System kann auch mit Eyetracking, der Erfassung von Pupillenbewegungen durch eine Brille mit integrierten Kameras, kombiniert werden. Human Dynamics, eine kamerabasierte Bewegungsanalyse, bei der die Person nicht mit Sensoren ausgestattet werden muss, befindet sich bei der AUVA derzeit in der Testphase.

Mit Hilfe von Virtual Reality (VR) lassen sich Arbeitssituationen simulieren, etwa die Manipulation von Lasten in einem Lagerraum, das sichere Bewegen auf einem Gerüst oder der Umgang mit einer Bohrmaschine. VR-Brillen helfen z. B. beim Training der richtigen Lastenhandhabung, bei der Prävention von Sturz und Fall oder beim Lernen von Arbeitsabläufen. Im Unterschied zur Virtual Reality wird bei Augmented Reality (AR) die normale optische Sicht durch eingespielte Informationen ergänzt.

Exoskelette – ein Überblick

„Exoskelette sind am Körper getragene mechanische Assistenzsysteme, deren Zweck darin besteht, dem Menschen bestimmte Bewegungen, z. B. Hebe- und Tragtätigkeiten zu erleichtern und damit Gesundheitsgefährdungen zu vermeiden“, so Wichtl. Die Frage sei, ob sie diese Aufgabe in der betrieblichen Praxis auch erfüllen können. Darüber hinaus müsse man klären, wie sich Exoskelette auf Arbeitsabläufe, z. B. durch einen größeren Platzbedarf, auswirken. Dafür und für weitere Fragen kann das vorab erwähnte Analysesystem Captiv eingesetzt werden. Unternehmen, die den Einsatz von Exoskeletten erwägen, sollten diesen Service in Anspruch nehmen.

Hinsichtlich des Einsatzbereichs kann man zwischen haltungsunterstützenden Exoskeletten wie etwa dem „Chairless Chair“, der eine Sitzhilfe ersetzt, und kraftunterstützenden unterscheiden. Letztere werden z. B. zum kraftsparenden Schrauben verwendet. Eine andere Einteilungsmöglichkeit bezieht sich auf den Unterstützungsort am Körper, etwa Arme, Beine, Rumpf oder Ganzkörper. Passive Exoskelette benötigen keine Energieversorgung, aktive verfügen über einen Motor und fallen daher unter die Maschinensicherheitsverordnung. Beide Arten erfordern eine spezielle Gefährdungsbeurteilung. Die AUVA arbeitet derzeit daran, spezielle Analyseinstrumente für die Gefährdungsbeurteilung von Exoskeletten zu erstellen.

Zwei Techniker führen Tests an einem Exoskelett aus
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Aktive und passive Systeme

Damit sich die Teilnehmer:innen des Forums ein besseres Bild von passiven bzw. aktiven Exoskeletten machen konnten, hatte Dr.-Ing. Robert Weidner, Professor für Fertigungstechnik an der Universität Innsbruck, Modelle beider Arten mitgebracht. Dazu gehörte ein aktives Exoskelett zur Unterstützung von Schultern und Armen. „Das aktive System ist besser anpassbar als ein passives. Es unterstützt beim Heben der Arme, beim Senken nicht. Die Stärke der Unterstützungsleistung lässt sich einstellen“, beschrieb Weidner das aktive System. Der Nachteil des höheren Gewichts, das der Motor mit sich bringt, könne durch eine gute Passform zum Teil kompensiert werden.

Auch das präsentierte passive Exoskelett ist für den Schulter-Arm-Bereich konzipiert. Bei Arbeiten über Kopf wird ein Kraftpfad aufgebaut, der vom Oberarm bis zum Becken reicht. Die Unterstützungsleistung lasse sich über die Veränderung von Dämpferelementen oder des Hebelarms regeln und damit an die jeweilige Tätigkeit anpassen, so Weidner: „Man braucht eine andere Unterstützung, ob man einen Schraubenzieher, ein Fünf-Kilo-Werkzeug oder ein 20-Kilo-Bauteil hält.“

Exoskelette beim Räderwechsel

Dr.-Ing. Karsten Kluth, Professor an der Universität Siegen, der online zugeschaltet war, berichtete von der Erprobung eines aktiven Exoskeletts in einer großen Autowerkstatt. Das Exoskelett sollte den Rücken beim Aufrichten während des Räderwechsels unterstützen, bei dem die bis zu 45 kg schweren Räder innerhalb kürzester Zeit getauscht werden müssen. Die Erwartungshaltung der Belegschaft hinsichtlich einer Entlastung war groß, die Analyse ergab jedoch keine messbare Verbesserung durch das Exoskelett.

„Das ist keine Kritik an dem Exoskelett selbst, sondern an dem Zusammenspiel des Exoskeletts mit der Arbeitsaufgabe, das in diesem Fall nicht optimal passt“, begründete Kluth seine Entscheidung gegen eine Kaufempfehlung für das 30.000 Euro teure Exoskelett. Zu den Nachteilen zählten geringer Tragekomfort, mangelnde Atmungsaktivität und eine Bewegungsveränderung, da man mit dem Exoskelett nicht ergonomisch richtig mit gebeugten Knien und geradem Rücken heben kann, sondern mit gestreckten Beinen und gebeugtem Rücken. Ob sich längerfristig ein höheres Risiko für Rückenbeschwerden ergebe, könne man nicht feststellen, so Kluth.

Exoskelette in Labor und Produktion

Beispiele für den erfolgreichen Einsatz von Exoskeletten präsentierten Sicherheitsfachkraft Nicole Göschl, BSc, MSc, und Arbeitspsychologin Mag. Martina Pöltl vom biopharmazeutischen Unternehmen Takeda Pharma Ges.m.b.H. in ihrem Online-Beitrag. Stellt man bei Takeda im Zuge der Analyse mit den Leitmerkmalmethoden fest, dass ein Arbeitsprozess im Labor oder in der Produktion zu Problemen mit dem Bewegungs- und Stützapparat führt, werden Maßnahmen nach dem STOP-Prinzip gesetzt. Den Einsatz von Exoskeletten als personenbezogene Maßnahme zieht Takeda erst dann in Erwägung, wenn Substitution, technische und organisatorische Maßnahmen nicht ausreichen.

„Die Exoskelette werden vier Wochen lang getestet. Anhand eines Fragebogens dokumentieren die Mitarbeiter:innen regelmäßig, wie z. B. das allgemeine Wohlbefinden ist, wie leicht sich das Exoskelett anziehen lässt und ob man dabei Hilfe benötigt“, erklärte Göschl. Auch Tragedauer, etwaige Probleme und Empfehlungen werden bei der Befragung erfasst. Anschließend bewerten die Abteilung Environment, Health & Safety und der arbeitsmedizinische Dienst die gesammelten Erfahrungen und schaffen damit eine Entscheidungsgrundlage für bzw. gegen den Kauf von Exoskeletten.

Exoskelette in der Logistik

Bei der Morandell International GmbH, die Gastronomie und Fachhandel mit Qualitätsweinen beliefert, sah man im Einsatz von Exoskeletten eine mögliche Lösung, um dem Mangel an Arbeitskräften in der Logistik entgegenzuwirken. Warum es in gewissen Bereichen besonders schwer sei, Mitarbeiter:innen zu finden bzw. zu halten, begründete Markus Knabl, Logistikleiter bei Morandell, folgendermaßen: „Wenn man diese Arbeitsplätze analysiert, stellt man fest, dass sie oft mit sehr hohen physischen Belastungen einhergehen und schlechte ergonomische Bedingungen herrschen.“

In seiner Masterarbeit „Vorgehensmodell zur ROI-Berechnung von Exoskeletten in der Intralogistik“ an der Donau Universität Krems bereitete er die Erkenntnisse, die im Zuge der Einführung von Exoskeletten bei Morandell gewonnen wurden, wissenschaftlich auf. Bei der Auswahl geeigneter Exoskelette und der Analyse ihrer Wirksamkeit wurde er vom AUVA-Ergonomieexperten Lechner unterstützt. Messungen unter den untersuchten Bedingungen ergaben, dass die Verwendung eines Exoskeletts die Belastung des Rückens um durchschnittlich 14,89 Prozent reduzierte. Zusätzlich zu dieser Entlastung kam es zu einer Leistungssteigerung, die pro Monat und Person zu einer Arbeitszeitersparnis von 4,61 Stunden führte.

Augmented Reality

Auch bei einem Projekt des Austrian Institute of Technology (AIT) zur Analyse von Augmented-Reality-Systemen im industriellen Kontext wirkte Lechner mit. „Wir haben im Labor die wesentlichen Arbeitsplatzelemente – eine einstellbare Werkbank, eine geeignete Arbeitsplatzbeleuchtung und einige Werkzeuge – aufgebaut und die Arbeitsabläufe nachgestellt“, erklärte Mag. Stefan Suette vom AIT. Untersucht wurden Auswirkungen zweier Modelle von AR-Brillen im ergonomischen und im psychologischen Bereich sowie Aspekte der Unfallprävention, wobei das Analysesystem Captiv Motion zum Einsatz kam.

In Bezug auf die Ergonomie schnitten beide AR-Brillenmodelle, abgesehen von Druckstellen aufgrund des Gewichts der AR-Brille und einer Belastung der Augen, gut ab. Die Probanden berichteten weder von signifikanten Verspannungen noch von Bewegungseinschränkungen. Als psychologischer Effekt zeigte sich eine als höher empfundene quantitative und qualitative Arbeitsbelastung. In Bezug auf die Unfallwahrscheinlichkeit spielte das Sichtfeld, das nur nach oben beschränkt ist, keine Rolle, ein Einfluss der Fokussierung bis hin zum Tunnelblick ist möglich.

Ergonomische Produkte

Die Probst GmbH aus Erdmannshausen bei Stuttgart erhielt 2021 den Preis des Ergonomie-Kompetenznetzwerks in der Kategorie „Innovative Ergonomie“. Das Unternehmen, das Werkzeuge und Maschinen für Baustellen erzeugt, wurde für seinen Verlegewagen „Multimobil MM“ ausgezeichnet. Dieser besitzt eine Vakuumhubeinheit für Bauelemente. „Das Multimobil ist so schmal, dass es durch jede Tür kommt“, so Manuel Kalinowski, Gebietsverkäufer bei Probst. Vor allem bei dicht aneinander gebauten Reihenhäusern erspare man sich damit, das Baumaterial händisch von der Straße in den Vorgarten zu transportieren.

Dr. Susanne Frohriep, Senior Manager Global Ergonomics der Grammer AG, Hersteller von Komponenten für die Innenausstattung von Fahrzeugen mit Sitz im deutschen Ursensollen, stellte Entwicklungen ihres Unternehmens für ergonomische Sitzverhältnisse vor. Dazu zählen neben der Form von Sitz, Lordosenstütze und Armlehnen auch ein bequemer Gurt und eine angenehme Temperatur, die sich durch Sitzheizung und Klimatisierung erzielen lässt. Eine besondere Bedeutung kommt der Federung zu, die vertikale, horizontale und seitliche Schwingungen dämpft.

Ein rückengerechter Sitz diene zur Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen und Unfällen, die oft auf Ermüdung oder mangelnde Konzentration aufgrund einer belastenden Arbeitshaltung zurückzuführen seien, stellt Frohriep fest. Sie wies auch auf den ökonomischen Nutzen hin: „Die Investition in höherwertige Sitze kann Krankenstände und die damit verbundenen Kosten reduzieren“.

Zusammenfassung

 Am 10. November 2021 fand das von der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Ergonomie in Kooperation mit der AUVA veranstaltete 27. Innsbrucker Ergonomieforum statt. Im Fokus standen neue Technologien zur Verhinderung von Muskel-Skelett-Erkrankungen, insbesondere die Möglich-keiten und Grenzen des Einsatzes von Exoskeletten. 


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