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Pflege

Kinästhetik reduziert die physische Belastung in der Pflege

Pflegepersonen sind überdurchschnittlich oft von berufsbedingten MSE betroffen. Rückengerechte Handlungskonzepte wie z. B. Kinästhetik können die physischen Belastungen für Pflegepersonen deutlich reduzieren. Diese Konzepte erleichtern die Mobilisation von Pflegebedürftigen ohne Heben und Tragen, indem vorhandene Bewegungsressourcen der Patientinnen und Patienten erkannt und gefördert werden. In den AUVA-Rehabilitationszentren wird Kinästhetik konsequent eingesetzt, wie ein Blick in das AUVA-Rehabilitationszentrum Weißer Hof in Niederösterreich zeigt.

Gebäude mit Brunnen davor, Aufschrift: AUVA Reha Weißer Hof
AUVA-Rehabilitationszentrum Weißer Hof in Niederösterreich R. Gryc

Beschäftigte in Pflegeberufen sind europaweit im Vergleich zu anderen Erwerbstätigen überdurchschnittlich häufig von arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen betroffen. Sucht man nach den Ursachen, stößt man unweigerlich auf insgesamt schlechte Arbeitsbedingungen. Diese werden vor allem bei den Belastungen durch hohe körperliche und psychische Anforderungen sowie bei der Arbeitszeitlage deutlich. Arbeitsverdichtung bedingt durch Personalmangel und Zeitdruck führen zu unzureichenden Erholungs- und Regenerationszeiten und damit zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Die zusätzlichen Anforderungen im Rahmen der Covid-19-Pandemie haben das Pflegepersonal an das körperliche und psychische Limit gebracht.

Eine Sonderauswertung des österreichischen Arbeitsklima-Index zu den Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen [1] zeigt, dass 65 % aller Befragten im Pflegesektor es für unwahrscheinlich halten, unter den bestehenden Rahmenbedingungen ihren Beruf bis zu ihrer Pensionierung auszuüben. Demnach sind folgende fünf Faktoren für einen Berufsausstieg verantwortlich (siehe auch Abbildung 1): hohe psychische Belastung, hohe körperliche Belastung, atypische Arbeitszeiten, erhöhtes Gesundheitsrisiko, kein leistungsgerechtes Einkommen und wenig Wertschätzung.

In Österreich geben 68 % der Beschäftigten in der Pflege an, nach einem Arbeitstag körperlich erschöpft zu sein [2]. Das spiegelt sich auch in der hohen Prävalenz von gesundheitlichen Beschwerden wider, insbesondere bei Muskel-Skelett-Beschwerden und psychischen Beeinträchtigungen. Die hohe Arbeitsbelastung in der Pflege zeigt sich europaweit in hohen Fehlzeiten insbesondere in der Altenpflege. Hier übersteigen die Fehlzeiten den EU28-Durchschnitt um mehr als 30 % [3]. Aufgrund der demographischen Entwicklung wird die Anzahl an pflegebedürftigen Menschen in den kommenden Jahren weiter ansteigen, gleichzeitig nimmt der Anteil der älteren Beschäftigten zu.

In Österreich sind derzeit über 30 % der Pflegekräfte 50 Jahre oder älter. Bis 2030 werden rund 76.000 Pflegekräfte zusätzlich benötigt werden. Dieser Zusatz- und Ersatzbedarf aus Pensionierungen kann durch die rund 5.000 Absolventinnen und Absolventen von Fachhochschulen, Gesundheits- und Krankenpflegeschulen nicht abgedeckt werden [4]. In Österreich sind im Durchschnitt 80 % der Pflegekräfte weiblich. Viele von ihnen arbeiten in Teilzeit. Frauen übernehmen noch immer den Hauptteil an unbezahlter häuslicher Arbeit, Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen, was zu einer Erhöhung der tatsächlichen wöchentlichen Arbeitszeit führt. Damit steigt das Risiko für körperliche Erschöpfung. Studien zeigen, dass damit einhergehend für Frauen ein signifikant höheres Unfall- und Verletzungsrisiko besteht als für Männer [2]. 

Fünf Faktoren, die für einen Berufsausstieg verantwortlich sind, Details siehe Text

Psychische Belastungsfaktoren in der Pflege 

Arbeitsbedingter Stress, Gewalt und Belästigung sowie generelle emotionale Belastung aufgrund der Interaktion mit Patientinnen und Patienten machen den Großteil der psychischen Belastungen aus. Ein professioneller Umgang mit Krankheit, Trauer, Hilfsbedürftigkeit und Sterben wird von Pflegekräften täglich erwartet. Das erfordert nicht nur entsprechende fachliche Qualifikationen, sondern auch eine entsprechende Verarbeitung dieser Belastungen. Nicht alle Beschäftigten haben Zugang zu benötigter Supervision. In Österreich gibt jede/r dritte Beschäftigte in der Pflege an, sich durch Zeitdruck, Arbeitsverdichtung und Pausenausfall durch Personalknappheit, sowie überdurchschnittlich hohe emotionale Anforderungen stark belastet zu fühlen [1] (siehe auch Abbildung 2). Angriffe und Übergriffe seitens Patientinnen und Patienten bzw. Angehörigen auf die zumeist weiblichen Pflegebeschäftigten stellen eine besondere Form der Arbeitsbelastung dar. Von der Öffentlichkeit und auch von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern wird dem noch immer zu wenig Beachtung geschenkt.

Für Österreich liegen die Zahlen erschreckend hoch: 35 % der Pflegekräfte im Langzeitbereich und 21 % im stationären Bereich geben an, mindestens einmal pro Woche körperlicher Gewalt ausgesetzt zu sein. 28 % der Pflegekräfte werden wöchentlich in ihrer Arbeit beleidigt oder beschimpft, fast 20 % der Beschäftigten im stationären Bereich sind mindestens einmal pro Monat sexuellen Übergriffen ausgesetzt [2]. Das bleibt langfristig nicht ohne gesundheitliche Auswirkungen. Muskuloskelettale und psychovegetative Beschwerden wie Depressionen, Schlafstörungen, chronische Schmerzen und Burnout können die Folgen sein. 

Die hohe körperliche Belastung in der Pflege ist und bleibt ein Problem

Arbeiten im Stehen, Heben und Tragen schwerer Lasten, Arbeiten in Zwangshaltung werden von Pflegekräften deutlich öfter ausgeübt als von anderen Erwerbstätigen. Pflegekräfte müssen sich bei vielen Pflegetätigkeiten häufig nach vorne beugen oder für längere Zeit in vorgeneigter Haltung arbeiten. Diese physischen Fehlbelastungen erhöhen nicht nur das Risiko für Muskel-Skelett-Erkrankungen, sondern verursachen auch akute Ermüdung. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für Fehlhandlungen und Arbeitsunfälle.

Obwohl technische Mobilisationshilfsmittel in den meisten Fällen zur Verfügung stehen, werden sie nicht in dem Ausmaß genutzt, wie sie hilfreich wären, weil sie oft zu unhandlich, zu schwer oder schlichtweg nicht schnell genug erreichbar sind.  Rückengerechte Handlungskonzepte wie z. B. Kinästhetik können hier eine Erleichterung für Pflegehandlungen darstellen. Sie erleichtern die Mobilisation von Pflegebedürftigen ohne Heben und Tragen, indem vorhandene Bewegungsressourcen der Patientinnen und Patienten erkannt und gefördert werden. Physische Belastungen für Pflegepersonen können dadurch deutlich reduziert werden.

Zwei Pflegepersonen stehen nebeneinander
Josef Laposa, Martin Benes Isabel Kaufmann

Alternative Bewegungskonzepte in der Pflege konsequent umgesetzt

Die AUVA-Rehabilitationszentren Weißer Hof, Meidling, Tobelbad und Bad Häring haben die Kinästhetik als rückengerechtes Bewegungskonzept in der Pflege implementiert. Um diesen qualitätsvollen Weg weiterzugehen, wird das Gütesiegel in Kinästhetik angestrebt. Die Auszeichnung erfolgt durch die European Kinaesthetics Association, die Begleitung und fachliche Unterstützung in den Einrichtungen erfolgt durch Kinaesthetics Österreich und MH Kinaesthetics. Die Projektdauer ist auf fünf Jahre angesetzt, es werden insgesamt über 1.200 Pflegepersonen in 12 Grundkursen, 47 Aufbaukursen, 9 Aufbaukursen für Führungskräfte und 5 Kursen für Peer-Tutoren geschult. Interne Trainerinnen und Trainer werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege im Zertifizierungsprozess fachlich begleiten.

Stellvertretend für alle beteiligten Rehabilitationszenten soll im Folgenden die Umsetzung des kinästhetischen Handlungskonzeptes in der Pflege am AUVA-Rehabilitationszentrum Weißer Hof in Klosterneuburg vorgestellt werden.

Abbildung: Subjektive Arbeitsbelastungen in der Pflege
Abbildung 2: Subjektive Arbeitsbelastungen in der Pflege, Quelle und Grafik: österr. Arbeitsklima-Index, SORA 2021

Kinästhetik am RZ Weißer Hof  

Die Kick-off-Veranstaltung zum Zertifizierungsprozess fand am 22. Oktober 2021 statt. Federführend verantwortlich für die Umsetzung sind Martin Benes MSc, seit 2020 Pflegedienstleiter des Rehabilitationszentrums, und Josef Laposa, der als Kinästhetik-Trainer über 5 Jahre die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege in der Entwicklung der Kinästhetikkompetenz begleiten wird. Martin Benes begann 2002 nach seiner Diplomierung am AUVA-RZ Weißer Hof an der Abteilung für Rückenmarksverletzung und Querschnitt zu arbeiten. Die physischen Belastungen, denen man bei der Pflege von immobilen Patientinnen und Patienten ausgesetzt ist, kennt er nur allzu gut. „Spätestens bei Auftreten von länger andauernden Rücken- oder Gelenksschmerzen hinterfragt man die eigene Arbeitsweise genauer und beginnt Fragen zu stellen“, berichtet Benes. „Warum tut dir nichts weh?“, „Wie mobilisierst du?“ oder „Zeig mir, wie du das machst!“, habe er Kolleginnen und Kolleginnen gefragt. Man neige als Pflegeperson oft dazu, den Patientinnen und Patienten alles abnehmen zu wollen, „overprotective“ zu sein“, so Benes. Seit 3 Jahren beschäftigt er sich intensiv mit Kinästhetik. Eine ganz entscheidende Rolle für eine erfolgreiche Anwendung sieht er bei den Führungskräften. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen aktiv Verantwortung für ihre eigene Gesundheit übernehmen, das sollen Vorgesetzte gezielt fördern. Um Strukturen nachhaltig zu verändern, muss das Handlungskonzept von den Führungskräften repräsentiert werden, ist er überzeugt. Nur dann wird es auch von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angenommen und umgesetzt. Am Weißen Hof sind derzeit 101 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege beschäftigt, davon haben bereits zwei Drittel den Grundkurs Kinästhetik absolviert. Ziel ist, dass mit Erlangen des Gütesiegels 90 % der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Grundkurs, 80 % den Aufbaukurs absolviert haben.

zwei Pfleger (ein Mann eine Frau) heben eine Person aus einem Rollstuhl
Bild 3: Eine Patientin mit hohem Querschnitt kann sich selbst nicht im Rollstuhl positionieren. Das heißt, es braucht zwei Pflegepersonen, die mit hohem Kraftaufwand und in einer ungünstigen vorgebeugten Köperhaltung eine Positionsveränderung durchführen. Josef Laposa

Josef Laposa hat 2004 in der Pflege am AUVA-RZ Weißer Hof begonnen, seit 2011 geht er konsequent den „kinästhetischen“ Weg und hat sich bei internationalen und nationalen Ausbildungsstätten zum Kinästhetik-Trainer ausbilden lassen. Er fasst das Handlungsprinzip der Kinästhetik folgendermaßen zusammen „Nicht die Patientinnen und Patienten bewegen, sondern den Patientinnen und Patienten helfen, sich selbst zu bewegen“. Kinästhetik basiert auf Erfahrung und Wahrnehmung der eigenen Bewegung. Das führt zu einer erhöhten Achtsamkeit für die Qualitäten und Unterschiede der eigenen Bewegung in allen alltäglichen Aktivitäten. Neben Selbstwahrnehmung sind Fremdwahrnehmung und Empathie für die Bedürfnisse der zu Pflegenden erforderlich, um vorhandene Bewegungsressourcen erkennen und gezielt fördern zu können. Ein respektvoller Umgang zwischen der Patientin bzw. dem Patienten und der Pflegekraft ist Voraussetzung, um Vertrauen aufzubauen. Bei jeder Bewegung und bei jedem Transfer soll die zu pflegende Person, soweit es ihr möglich ist, selbst Kontrolle über das Geschehen haben. So können Patientinnen und Patienten die Bewegungen des eigenen Körpers nachvollziehen, ihren Körper wieder spüren und aktiv am Geschehen teilnehmen, statt passiv aufgesetzt, gehoben oder getragen zu werden. Diese Eigenständigkeit der Patientinnen und Patienten erleichtert die Mobilisation und führt zu einer Entlastung für die Pflegenden.

Um die Anwendung der Kinästhetik in der praktischen Umsetzung zu verdeutlichen, schildert Josef Laposa folgendes Beispiel aus dem Pflegealltag: „Eine Patientin mit hohem Querschnitt kann sich selbst nicht im Rollstuhl positionieren. Das heißt, es braucht zwei Pflegepersonen, die mit hohem Kraftaufwand und in einer ungünstigen vorgebeugten Körperhaltung eine Positionsveränderung durchführen.“ (siehe Bild 3) 

Diese physischen Fehlbelastungen erhöhen nicht nur das Risiko für Muskel- Skelett-Erkrankungen, sondern verursachen auch akute Ermüdung. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für Fehlhandlungen und Arbeitsunfälle

Isabel Kaufmann

Alternativ zu dieser Aktivität besteht die Möglichkeit, durch eine angeleitete Gewichtsverlagerung der Rollstuhlfahrerin sowie eine leichte Unterstützung durch die Pflegeperson eine Positionsveränderung herbeizuführen, wobei die Körperspannung sowohl der Rollstuhlfahrerin als auch der Pflegeperson zu beachten ist. Da die Rollstuhlfahrerin ihre eigenen Ressourcen nutzt und nur die „notwendige“ Unterstützung erhält, entsteht ein Lernprozess; dadurch wird sie diese Aktivität immer selbstständiger durchführen können. Der Kraftaufwand der Pflegeperson wird auf das Notwendige reduziert. (siehe Bilder 4 + 5)

Martin Benes und Josef Laposa haben in ihrer Berufslaufbahn verschiedene Zugänge zu Pflegehandlungen erlebt. Beide sehen die Kinästhetik als eine nachhaltige Möglichkeit, um mechanische Belastungen in der Pflege zu reduzieren und eine qualitätsvolle Interaktion zwischen Pflegenden und Patientinnen bzw. Patienten zu fördern. Sowohl Pflegekräfte als auch Patientinnen und Patienten können gleichermaßen davon profitieren. 

Bei Interesse an Kinästhetik und am AUVA-RZ Weißer Hof finden Sie Informationen unter: www.kinaesthetics.at und www.rzweisserhof.at

Frau in Rollstuhl beugt sich seitlich
Josef Laposa

Bilder 4 und 5: Die Bewegungsressource „seitlich verlagern“ ist bei der Patientin noch vorhanden, daher muss bei der Pflegehandlung nicht alles von der Pflegekraft übernommen werden, sondern die Patientin macht aktiv mit, sodass eine leichte Unterstützung durch Anheben der linken Gesäßhälfte durch die Pflegekraft ausreicht. (Fotos nach realer Situation nachgestellt)

Änderung der schlechten Rahmenbedingungen für Pflegekräfte in greifbarer Nähe? 

Dass Pflegekräfte seit Jahren überlastet sind, ist keine neue Erkenntnis. Die Covid-19-Pandemie hat altbekannte Missstände in der Pflege für die Öffentlichkeit aber sichtbarer gemacht. Es braucht eine nachhaltige Verbesserung der Arbeitsbedingungen, um Pflegekräfte langfristig in ihrem Beruf zu halten und den Beruf für junge Menschen attraktiv zu machen. Das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz hat die „Taskforce Pflege“ ins Leben gerufen, die einen Strategieprozess um das System der Langzeitbetreuung und ‐pflege weiterentwickeln soll. In unser aller Interesse ist es, dass entsprechende Maßnahmen rasch und effektiv gesetzt werden, um für pflegebedürftige Menschen ein würdevolles Leben und für Pflegekräfte ein gesundes und wertgeschätztes Arbeitsleben zu ermöglichen.

Quellen:   

  • [1] Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz; Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen; Sonderauswertung Arbeitsklima-Index Ö, SORA 2021.
  • [2] Arbeitsbedingungen in der Langzeitpflege aus Sicht der Beschäftigten in Ö, europäisches Zentrum für Wohlfahrtspflege und Sozialforschung, Bauer et al. 2018.
  • [3] Eurofound: Working conditions and job quality: Comparing sectors in Europe, Dublin 2014.
  • [4] Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, Pflegepersonal-Bedarfsprognose für Ö, Rappold & Juraszovich 2019.

Zusammenfassung

In den AUVA-Rehabilitationszentren gilt Kinästhetik als sehr erfolgversprechender Weg, die körperliche Belastung des Pflegepersonals zu reduzieren. 


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