Land- und Forstwirtschaft
Ein Sektor mit großen Herausforderungen
In der Landwirtschaft sind Muskel-Skelett-Erkrankungen das größte arbeitsbedingte Gesundheitsproblem. Mehrere Projekte befassen sich damit, wie Risiken für den Bewegungs- und Stützapparat minimiert werden können.
Einen „Sektor mit großen Herausforderungen“ nennt die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) die Land- und Forstwirtschaft. Sie bezieht sich dabei auf Berichte von Eurostat, dem statistischen Amt der Europäischen Union. Laut diesen Berichten stellen Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) das größte arbeitsbedingte Gesundheitsproblem in der Landwirtschaft dar. Eine in den USA publizierte Studie schätzt die Wahrscheinlichkeit, dass Landwirtinnen und Landwirte im Lauf ihres Lebens an MSE erkranken, sogar auf über 90 Prozent.
Landwirtschaft besonders betroffen
Muskel-Skelett-Erkrankungen treten damit in der Landwirtschaft deutlich häufiger als in allen anderen Sektoren auf. Die „Europäische Erhebung über die Arbeitsbedingungen“ (EWCS) aus dem Jahr 2017 zeigt, dass 57 Prozent der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte an Rückenschmerzen, 55 Prozent an Schmerzen in den oberen Extremitäten und 46 Prozent an Schmerzen in den unteren Extremitäten leiden. Damit ist die Landwirtschaft das Tätigkeitsfeld mit den meisten gemeldeten Fällen.
Die aktuelle Kampagne der EU-OSHA „Gesunde Arbeitsplätze – Entlasten Dich!“ zielt auch auf die Reduktion von MSE ab. Die AUVA bringt sich mit ihrem Präventionsschwerpunkt 2021/22 „Packen wir’s an!“ ein und informiert darüber, wie sich Risiken für den Bewegungs- und Stützapparat minimieren lassen. Die Universität für Bodenkultur Wien (BOKU) und andere wissenschaftliche Einrichtungen forschen ebenfalls zu dieser Problematik und zeigen auf, welche Arbeitsbedingungen zur Prävention beitragen können. Assoc. Prof. DI Dr. Elisabeth Quendler, MSc, von der BOKU hat sich mit Ursachen von MSE in der Land- und Forstwirtschaft befasst: „Die häufigsten Risikofaktoren sind ungünstige Arbeitsbedingungen und nicht gelöste Probleme im sozialen Umfeld, die körperliche und psychische Überforderung auslösen und mittel- bis langfristig zu Erkrankungen wie MSE führen.“
Heben und Tragen
Zu den körperlichen Ursachen von MSE zählen die Handhabung schwerer Lasten, repetitive Bewegungen und Arbeiten in Körperzwangshaltung. „Diese Belastungen kommen in der kleinstrukturierten Land- und Forstwirtschaft, in der weniger Geld für Mechanisierung und Automatisierung vorhanden ist, öfter vor. In gut mechanisierten bis automatisierten und teils stärker spezialisierten Betrieben lösen dagegen die einseitige Beanspruchung und der Bewegungsmangel durch monotone Maschinenarbeit gesundheitliche Beeinträchtigungen aus“, so Quendler.
Eine in den USA publizierte Studie schätzt die Wahrscheinlichkeit, dass Landwirtinnen und Landwirte im Lauf ihres Lebens an MSE erkranken, auf über 90 Prozent.
Heben und tragen muss man in unterschiedlichen Bereichen der Land- und Forstwirtschaft. Quendler nennt dazu die Handhabung von Arbeitshilfsmitteln, speziell von teils schweren handgeführten Maschinen wie Motorsensen oder -sägen, und von Betriebsmitteln wie Dünge-, Pflanzenschutz- oder Futtermitteln. Ein weiterer betroffener Bereich ist das Ernten und Verpacken der Ernteerzeugnisse. In der Innenwirtschaft weisen jene Betriebe die höchste Belastung auf, in denen diese Tätigkeiten in Handarbeit erledigt werden.
Um das Risiko von Muskel-Skelett-Erkrankungen durch die Manipulation schwerer Lasten zu verringern, sollten Hebe- und Tragehilfen verwendet werden. Dazu zählen hydraulische Hebehilfen und Saugeinrichtungen zur Entleerung von Fässern oder Milchtanks sowie Gabelstapler, Sackrodeln und Schubkarren für den Transport von Betriebsmitteln und Ernteerzeugnissen. Ist manuelles Heben und Tragen nicht vermeidbar, lässt sich das Gewicht der Last oft durch die Verwendung kleinerer Gebinde verringern. Bei schweren, unhandlichen Gegenständen empfiehlt es sich, diese zu zweit zu transportieren. Die richtige Hebetechnik schont den Rücken.
Repetitive Bewegungen und Zwangshaltungen
Repetitive – also häufig wiederholte – Bewegungen von Hand, Arm und Schulter kommen z. B. beim Pflanzen und Ernten vor, zum Teil in Kombination mit einer Körperzwangshaltung. Hohe Frequenz oder eine extreme Gelenkstellung bei der Bewegung erhöhen das Risiko, Erkrankungen von Gelenken, Sehnen, Schleimbeuteln oder Nerven zu entwickeln. Es wird empfohlen, Erholungsphasen in Form eines Belastungswechsels einzuplanen.
Von einer Zwangshaltung spricht man, wenn über einen längeren Zeitraum eine anstrengende Körperhaltung eingenommen wird, die nur wenig Bewegungsspielraum zulässt. Das ist etwa bei Überkopfarbeiten, z. B. bei der Obsternte, der Fall, oder bei Pflanz- und Erntearbeiten, die im Knien oder Hocken durchgeführt werden. Ein weiteres Beispiel ist die
Arbeit am sogenannten „Gurkenflieger“ – Traktoren mit tragflächenähnlichen Auslegern, auf denen Erntehelfer die Gurken in Bauchlage pflücken. Bei Geräten wie Rechen oder Besen führt ein zu kurzer Stiel dazu, dass man eine gebeugte Haltung einnimmt.
„Menschgerechtes“ Arbeiten
Lassen sich körperlich belastende Tätigkeiten nicht vermeiden, sollten sie auf mehrere Personen aufgeteilt werden. Das scheitert laut Quendler oft daran, dass nicht genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen: „Dieser Umstand wird durch den voranschreitenden Strukturwandel in der Land- und Forstwirtschaft bedingt, der sich durch die Abnahme der Anzahl an familieneigenen Arbeitskräften zusätzlich verschärft. Da auch größere Betriebseinheiten mit weniger Personal bewirtschaftet werden müssen, ist es umso nötiger, die Arbeitsbedingungen menschgerecht zu gestalten.“
Das bedeutet, dass bei Maschinen, Geräten und Arbeitshilfsmitteln auf eine genderspezifische (an das Geschlecht angepasste), alterns- und gegebenenfalls auch behindertengerechte Ausführung geachtet werden sollte. Konkret heißt das etwa, die Arbeitshöhe an die jeweilige – bei Frauen meist geringere – Körpergröße anzupassen. Als Beispiele führt Quendler die Höhe des Melkstands und höhenverstellbare Tische zum Topfen von Zierpflanzen an. Speziell Personen, die Beschwerden bei längerem Stehen haben, was oft auf ältere Menschen zutrifft, erleichtert eine Stehhilfe, z. B. bei der Topfmaschine, die Arbeit. In bestimmten Fällen, etwa beim Heben und Tragen schwerer Lasten, bei Arbeiten über Kopf oder bei sich wiederholenden Bewegungen, schafft ein Exoskelett Abhilfe. So kann es z. B. die beim Heben von Kisten mit Ernteware stark beanspruchte Rückenstreck-Muskulatur unterstützen. Allerdings reduzieren Exoskelette zwar Belastungsspitzen, sind aber nicht für alle Tätigkeiten geeignet und weisen als Nachteile zusätzliches Gewicht und Bewegungseinschränkungen auf sowie die Gefahr hängenzubleiben oder zu stolpern (siehe dazu auch den Artikel zu Chancen und Risiken von Exoskeletten in dieser Sonderausgabe). Besonders belastende Tätigkeiten lassen sich durch Automatisierung wie den Einsatz von Assistenzrobotern bei der Ernte vermeiden.
Ganzkörpervibrationen
Ein wesentlicher Faktor für die Entstehung von Muskel-Skelett-Erkrankungen sind Vibrationen. „Diese entstehen beispielsweise beim Einsatz von motorisierten Arbeitshilfsmitteln wie Traktoren mit nicht ausreichend gedämpften Konstruktionsteilen wie Fahrersitz, Vorder- und Hinterachsfederung oder von handgeführten Werkzeugen wie Motorsägen ohne Antivibrationsgriff sowie schweren Motorsensen über täglich lange Zeitspannen“, nennt Quendler die wichtigsten Quellen mechanischer Schwingungen. Die Belastung, die neben der Wirbelsäule auch innere Organe beeinträchtigen kann, variiert nach Stärke, Frequenz und Einwirkdauer.
Ganzkörpervibrationen werden in der Land- und Forstwirtschaft in der Regel durch selbstfahrende Arbeitsmaschinen verursacht. Bei sitzenden Tätigkeiten sind die Einleitungsstellen in den Körper Gesäß und Rücken. Ob bzw. wie man in einem Fahrzeug angeschnallt ist, ob man sich abstützen kann und welche Sitzhaltung man einnimmt, beeinflusst das Ausmaß der Belastung. Da die Schwingungen stark vom Untergrund abhängen, sollte man auf unebenem Boden, etwa auf dem Acker, die Geschwindigkeit reduzieren.
Die wichtigste Maßnahme zum Schutz vor Ganzkörpervibrationen ist die Ausstattung mit einem ergonomisch günstigen Sitz, der auf die Fahrerin bzw. den Fahrer eingestellt ist. Bei einem mechanisch gefederten Sitz sind insbesondere leichte Personen starken Schwingungen ausgesetzt. Ein luftgefederter Sitz stellt sich automatisch auf das Gewicht der Fahrenden ein, ist aber teurer. Aktive Systeme halten darüber hinaus die Sitzposition durch Zufuhr von pneumatischer bzw. hydraulischer Energie konstant. Bei allen Arten von Sitzen sollte man auf regelmäßige Wartung achten, da sich die Dämpfungseigenschaften oft unbemerkt verschlechtern.
Hand-Arm-Vibrationen
Hand-Arm-Vibrationen sind mechanische Schwingungen, die auf die Hände und Arme einwirken. Sie werden meist durch rotierende oder schlagende Handmaschinen verursacht. Zu den gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die durch diese Schwingungen entstehen, gehören Knochen- und Gelenkveränderungen sowie Schleimbeutel- und Nervenerkrankungen von den Fingern bis zum Schultergelenk.
Eine Erkrankung, die häufig Forstarbeiterinnen und -arbeiter betrifft, ist die „Weißfingerkrankheit“: das vibrationsbedingte vasospastische Syndrom. Aufgrund anfallsartig stark verminderter Durchblutung färben sich die Finger weiß – ein Alarmsignal, bei dem die Tätigkeit sofort unterbrochen werden muss. Da Kälte wesentlich zu dieser Durchblutungsstörung beiträgt, hilft es, sich aufzuwärmen. Ignoriert man die Beschwerden, können bleibende Gefühllosigkeit und Bewegungseinschränkungen der Finger die Folge sein. Quendler empfiehlt, beim Kauf von handgeführten Werkzeugen keinesfalls zu sparen: „Die Einflüsse auf den Körper variieren je nach Ausführungsqualität. Billigprodukte verursachen in der Regel eine höhere Vibrationsexposition als teurere schwingungsgedämpfte Werkzeuge.“ Eine wichtige Maßnahme besteht darin, die Arbeit mit vibrierenden Handmaschinen auf mehrere Personen aufzuteilen, um die Expositionszeit zu verkürzen.
Psychische Belastungen
Auch psychische Belastungen können Beschwerden des Bewegungs- und Stützapparats, z. B. Verspannungen, hervorrufen, betont Quendler: „Die häufigsten psychischen Risikofaktoren sind Zeitdruck und ein zu hohes Arbeitsvolumen, steigende Managementanforderungen sowie die Bürokratisierung in der Land- und Forstwirtschaft. Familiäre und agrarpolitische Probleme, die die Wirtschaftlichkeit beeinflussen, wirken sich ebenfalls negativ aus.“ Darüber hinaus stellt der körperlich entlastende Mechanisierungs- und Automatisierungsgrad in größeren Betrieben insbesondere bei insgesamt wenigen Arbeitskräften eine psychische Herausforderung dar. Um psychische Belastungen zu verringern, rät Quendler zu Maßnahmen der Arbeitsgestaltung, der Gesundheitsförderung und der Weiterbildung, etwa zum Thema Stressmanagement. Mehr Abwechslung bei den ausgeübten Tätigkeiten erhöht die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dazu kann sogenanntes Job Enrichment, also Arbeitsbereicherung, beitragen. Darunter ist zu verstehen, dass man durch eine höhere Qualifikation auch anspruchsvollere Aufgaben übernehmen kann. Beim Job Enlargement, der Arbeitserweiterung, vergrößert sich zwar die Bandbreite der Aufgaben, sie bleiben aber auf demselben Anforderungsniveau.
Pilotprojekte
Wissenschaftliche Projekte in der Land- und Forsttechnik befassen sich laut Quendler vermehrt auch mit dem Problem der Muskel-Skelett-Erkrankungen: „Forschungsarbeiten zu kleinstrukturierter Land- und Forstwirtschaft, die MSE als Indikator für den körperlichen Gesundheitszustand erheben, beziehen sich auf die soziale Nachhaltigkeit sowie auf Aspekte der Arbeits- und Lebensqualität und verweisen auf körperliche Belastungen.“
Im Rahmen des von Univ.-Prof. DI Dr. Werner Zollitsch von der BOKU geleiteten Projekts „Nachhaltige Milch“ wurden in Österreich, Deutschland und der Schweiz Befragungen in Milchviehbetrieben durchgeführt. Dabei erhob man auch Belastungen durch die Melktechnik, durch ungünstige Gelenkwinkel und Überbeanspruchung der Muskulatur. Betriebe, denen eine hohe Arbeits- und Lebensqualität bescheinigt wurde, zeichnen sich durch aktuelle Verfahrenstechnik gemäß dem Stand der Technik und einen mittleren bis hohen Mechanisierungsgrad in der Innenwirtschaft aus.
In dem von Quendler geleiteten Projekt „Sozial nachhaltige Inklusion von Menschen mit Behinderung in die Arbeitsprozesse von Gartenbaubetrieben“ wurde untersucht, welche Arbeiten trotz einer Behinderung möglich sind und worauf besonders geachtet werden muss, um dabei Belastungen des Bewegungs- und Stützapparats zu verhindern. Es zeigte sich, dass auch Personen mit Behinderungen im Gartenbau arbeiten können, wenn die Tätigkeiten gemäß ihren Fähigkeiten ausgewählt, ungünstige Körperhaltungen und häufige manuelle Lastenhandhabung vermieden werden.
Zusammenfassung
Muskel-Skelett-Erkrankungen sind in der Land- und Forstwirtschaft besonders häufig. Zu den Risikofaktoren zählen schweres Heben und Tragen, Körperzwangshaltungen, repetitive Bewegungen, Ganzkörper- bzw. Hand-Arm-Vibrationen sowie psychische Belastungen. Mehrere Forschungsprojekte befassen sich mit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen.