„Packen wir’s an!“
„Packen wir’s an!“ Arbeitsbedingte Muskel-Skelett-Erkrankungen im Zentrum der Prävention 2021–2022
Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) prägen das Krankheitsgeschehen in der österreichischen Erwerbsbevölkerung. Sie sind mit persönlichen Leidensgeschichten ebenso verbunden wie mit beträchtlichen individuellen, betrieblichen und gesellschaftlichen Folgekosten. Umso wichtiger ist die wirksame Prävention von MSE.
MSE sind Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparates (z. B. von Wirbelsäule und Gelenken, Muskeln, Sehnen, Bändern). Sie gehören zu den häufigsten arbeitsassoziierten Erkrankungen in Österreich. Bestimmte Bedingungen der Arbeit wie etwa langes Sitzen, das Heben und Bewegen von Menschen oder schweren Lasten sowie häufig wiederholte Hand- und Armbewegungen tragen wesentlich zur Entwicklung von MSE bei. Zudem erhöhen Einwirkungen des unmittelbaren Arbeitsumfelds wie etwa Zeitdruck, schlecht ausgestattete Arbeitsplätze oder unzureichende Arbeitsorganisation das Erkrankungsrisiko. Rückenschmerzen sowie Schmerzen im Bereich von Nacken, Schultern und Armen zählen zu den häufigsten arbeitsbedingten MSE (siehe Abbildung 1).
Muskel-Skelett-Erkrankungen – ein Thema der AUVA?
Rund ein Fünftel (21,3 %) der dokumentierten jährlichen Krankenstandstage in Österreich sind auf MSE zurückzuführen. Dieser hohe Anteil ist in den letzten Jahrzehnten weitgehend stabil und hängt nicht zuletzt mit der langen Fehlzeitendauer pro MSE-Fall von durchschnittlich über 2 Wochen (15,5 Tage) zusammen. Zwar sind die MSE-Anteile an allen Krankenstandstagen bei Männern und Frauen in etwa gleich hoch, doch es erkranken um ein Fünftel mehr Männer an MSE, während bei Frauen die Krankenstandsdauer rund zweieinhalb Tage länger ist. Auch das Alter spielt eine wesentliche Rolle im MSE-Geschehen – nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch relativ. Der Anteil von Fehlzeiten durch MSE nimmt im Vergleich zu anderen Diagnosegruppen mit zunehmendem Alter stark zu. Daten aus Oberösterreich zeigen eine deutliche Steigerung ausgehend von 10 % aller Krankenstandstage durch MSE bei den jungen Arbeitskräften auf rund ein Drittel in der Gruppe der 50- bis 64-Jährigen (vgl. Leoni 2020).
In diesem Sinne leisten Investitionen in die Prävention von MSE einen wichtigen Beitrag zum Erhalt der langfristigen Arbeitsfähigkeit. Die berufliche Tätigkeit hat eine wesentliche Bedeutung für die Entstehung von MSE. Etwa 40–50 % aller MSE lassen sich auf die Arbeit zurückführen. Allerdings sind eindeutige und direkte Zusammenhänge mit dem Beruf oft schwer herzustellen, da es sich bei MSE in der Regel um ein multikausales Geschehen handelt. Organisatorische Faktoren der Arbeit wie etwa lange Arbeitszeiten oder sich wiederholende und monotone Tätigkeiten spielen ebenso eine Rolle wie soziostrukturelle und individuelle physische und psychosoziale Faktoren (z. B. Geschlecht, Einkommen, Alter, Qualifikation, Betreuungsverpflichtungen, Vorerkrankungen). Im österreichischen Berufskrankheiten-Recht können nur wenige, sehr spezifische MSE-Diagnosen den gelisteten Berufskrankheiten (BK) zugeordnet werden. Das betrifft derzeit die BK 20 und die BK 22 bis 25 (siehe Liste der Berufskrankheiten, abrufbar unter www.auva.at/berufskrankheiten; vgl. AUVA 2021).
Unabhängig von der Zuordnung zur Berufskrankheitensystematik oder zu sonstigen beruflichen Erkrankungen ist die Bedeutung einer wirksamen Prävention von arbeitsbedingten MSE für Gesellschaft und Wirtschaft sehr hoch. Das betonen Kostenabschätzungen der AUVA von arbeitsbedingten Erkrankungen und Unfällen auf Basis des WIFO-Fehlzeitenreports 2020 und von WIFO-Kostenberechnungen (vgl. AUVA 2021; Leoni 2020; Leoni et al. 2020). Demgemäß verursachen MSE langfristig Kosten von rund 1,6 Mrd. Euro. Das sind 16 % der jährlichen Kosten des arbeitsbedingten Krankheits- und Unfallgeschehens insgesamt. Die Erwerbstätigen tragen mit rund 960 Millionen Euro kurz- und langfristig den größten Teil dieser Kosten, gefolgt vom Gesundheits- und Sozialsystem und den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern (siehe Abbildung 3).
Mit der Prävention von arbeitsbedingten MSE wird zudem ein Beitrag zur Reduktion von Arbeitsunfällen geleistet. Denn physische Fehlbelastungen wie etwa das Heben schwerer Lasten führen zu akuter Ermüdung und erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Unfälle. In Österreich geschieht jeder zehnte Arbeitsunfall in Zusammenhang mit physischen Belastungen. Das ist die vierthäufigste Ursache für Arbeitsunfälle insgesamt (siehe Abbildung 4).
Ziele und Angebote des Präventionsschwerpunktes
Im Sinne ihres gesetzlichen Auftrages zur Prävention von Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen stellt die AUVA die Vorbeugung von arbeitsbedingten MSE sowie von Arbeitsunfällen in Zusammenhang mit physischen Belastungen derzeit in den Mittelpunkt ihrer Präventionsaktivitäten. Dafür hat sie in Anlehnung an die aktuelle Europäische Kampagne „Gesunde Arbeitsplätze – Entlasten Dich!“ den Präventionsschwerpunkt 2021–2022 „Packen wir’s an!“ ins Leben gerufen. Zentrale Botschaft ist: „Muskel-Skelett-Erkrankungen sind vermeidbar!“
Die AUVA unterstützt Unternehmen bei der Umsetzung der gesetzlichen Präventionsaufgaben. Die folgenden Angebote zielen darauf ab, das Risiko von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, an arbeitsbedingten MSE zu erkranken oder in Zusammenhang mit physischen Fehlbelastungen bei der Arbeit zu verunfallen, zu minimieren:
- kostenlose Beratungen in Betrieben, wie z. B zur richtigen Lastenhandhabung, zum Einsatz von Arbeits- und Hilfsmitteln zur Entlastung von AN oder zur optimalen Einstellung von Bildschirmarbeitsplätzen
- Fort- und Weiterbildungen für Präventivfachkräfte und andere betriebliche Stakeholder auf dem Gebiet der MSE-Prävention
- unterstützende Informationsmaterialien und Tools, die gesammelt auf der eigens dafür eingerichteten Website www.auva.at/mse zu finden sind
- regelmäßige Berichterstattung zu wichtigen Themen rund um MSE, insbesondere in den AUVA-Medien „SICHERE ARBEIT“ und „ALLE!ACHTUNG!“, die zur Sensibilisierung für das Thema beitragen soll
- branchenorientierte Angebote und Lösungsvorschläge für unterschiedliche Risikofaktoren, wie z. B. Bewegungsmangel, Heben und Tragen schwerer Lasten, monotone Tätigkeiten, Zeitdruck, mobiles Arbeiten mit Fokus auf eine gute ergonomische und organisatorische Gestaltung von Arbeit
- geförderte AUVA-Präventionsprogramme wie AUVAfit und baufit, die Betriebe bei der Entwicklung und Umsetzung passgenauer Präventionsmaßnahmen unterstützen
Informationen, Beratungen und Schulungen zielen auf Unternehmensebene insbesondere auf die Etablierung von – unter ergonomischen, arbeitsorganisatorischen und -psychologischen Gesichtspunkten – gut gestalteter Arbeit ab. Als Grundlage ist in diesem Zusammenhang die gesetzlich verpflichtende Arbeitsplatzevaluierung körperlicher und psychischer Belastung hervorzuheben. Mithilfe geeigneter ergonomischer Verfahren wie etwa den neuen Leitmerkmalmethoden und arbeitspsychologischer Instrumente wie EVALOG oder ABS-Gruppe werden körperliche und psychische Belastungen objektiviert, Risiken bewertet und geeignete Maßnahmen abgeleitet (siehe auch www.eval.at). Die Arbeitsplatzevaluierung ist in den Unternehmen für die dort vorhandenen konkreten Arbeitsplätze durchzuführen und folglich an den Gegebenheiten im Unternehmen und an der dort vorherrschenden Praxis orientiert.
Es reicht aber nicht aus, Arbeitsplätze gut zu gestalten, sondern es geht darum, dass an diesen Arbeitsplätzen ergonomisch gearbeitet wird. In diesem Sinne sensibilisiert die AUVA auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für MSE-Risiken, vermittelt Wissen für ergonomische Arbeitsweisen und unterstützt die Entwicklung von gesunden Arbeitsroutinen. Der Fokus ist je nach Branche und Tätigkeit unterschiedlich. Zum Beispiel stehen bei schwerer körperlicher Arbeit (etwa im Paketdienst, am Bau oder mit anderem Fokus in der Pflege) das richtige Heben und Tragen im Mittelpunkt. Bei Bildschirmarbeit spielen nicht nur die richtige Haltung, sondern auch Haltungswechsel und regelmäßige bewegte Pausen eine bedeutende Rolle. Im Homeoffice ist die Abgrenzung zwischen Erwerbsarbeit und arbeitsfreier Zeit besonders wichtig. Sowohl bei Fragen der Arbeitsplatzevaluierung auf Unternehmensebene als auch bei Fragen der Sensibilisierung und Wissensvermittlung im Rahmen von Information und Unterweisung der Beschäftigten bietet die AUVA Unterstützung.
Beiträge in diesem Heft
Die Beiträge dieser Sonderausgabe beleuchten zentrale Themen der Prävention von arbeitsbedingten MSE unter verschiedenen Gesichtspunkten. Branchenspezifische Besonderheiten werden ebenso erörtert wie geeignete Lösungen vermittelt. Betriebliche Beispiele guter Praxis stoßen zur Entwicklung eigener kreativer Gestaltungsideen gesunder Arbeit an.
Die Arbeitspsychologin Irene Lanner liefert im ersten Artikel Antworten auf die Frage „Was haben psychosoziale Belastungen und Stress mit MSE zu tun?“. Zunächst stellt sie die Auswirkungen von Stress auf das Muskel-Skelett-System dar. Häufige bzw. dauerhafte Beanspruchung von Organen und Muskulatur durch stressbedingte muskuläre Anspannung und geringe Erholungszeiten können demnach zu chronischen Erkrankungen führen und das Auftreten von MSE begünstigen. Die Bedingungen der Arbeit, insbesondere organisatorische und psychosoziale Faktoren, spielen neben sozioökonomischen und individuellen Aspekten eine wesentliche Rolle. Eine Erläuterung von arbeits- und organisationspsychologischen Präventionsansätzen findet sich im zweiten Teil dieses Artikels, wobei eine Verbesserung der Mitarbeiterinnen- und Mitarbeiterbeteiligung und der Führungskultur ebenso betont werden wie der Ausbau von Schutz- und der Abbau von Risikofaktoren. Mit einem praktischen Beispiel für eine gelungene Maßnahme rundet die Autorin ihren Beitrag ab.
Aufgrund der österreichischen Unternehmenslandschaft ist Prävention in Kleinbetrieben für eine gesellschaftlich wirksame Vorbeugung von MSE besonders wichtig. Mit dem Fokus auf Lastenhandhabung werden im dritten Beitrag dieser Sonderausgabe mehrere gute ergonomische Lösungen aus KMU dargestellt und aus arbeitsmedizinischer Sicht reflektiert. Die Beispiele reichen von einer Firma im Bereich Metall- und Anlagenbau über einen Verglasungsspezialisten und einen Hersteller textiler Sonnenschutzlösungen bis hin zu einem Zimmerei-Betrieb. Dabei zeigt sich, dass gerade bei Kleinbetrieben das Potenzial für flexible und unkomplizierte, auf die spezifische betriebliche Situation zugeschnittene Ideen und Lösungen groß ist.
Die Ergonomin und Sportwissenschafterin Michaela Strebl diskutiert MSE-Prävention am Bildschirmarbeitsplatz mit Fokus auf das Thema Bewegung. Sie stellt Folgebeschwerden durch langes Sitzen anhand wissenschaftlicher Studien dar und gibt Empfehlungen für die Prävention. Diese betreffen die Gestaltung von Arbeitsplätzen, ausgleichende Kurzpausen, die Steigerung der täglich zurückgelegten Schritte und das Nutzen vorhandener betrieblicher Angebote. Abschließend laden Übungstipps zum Ausprobieren ein.
Isabel Kaufmann, Arbeitsmedizinerin bei der AUVA, stellt die Pflege in den Mittelpunkt und diskutiert die dort vorherrschenden hohen körperlichen und psychischen Anforderungen. Besonders riskant für die Entwicklung von MSE sind die ausgeprägten emotionalen Anforderungen, der ständige Zeit- und Arbeitsdruck sowie häufige Gewalterfahrungen kombiniert mit meist stehenden Tätigkeiten, dem Heben und Tragen schwerer Lasten und der Arbeit in Zwangshaltungen. Möglichkeiten der Prävention durch alternative Bewegungskonzepte zeigt die Autorin anhand des praktischen Beispiels „Kinästhetik am RZ Weißer Hof“ auf und betont sowohl die entlastende Wirkung als auch die verstärkte gegenseitige Achtsamkeit als Vorteile dieses Handlungskonzepts.
MSE verursachen langfristig Kosten von rund 1,6 Mrd. Euro. Das sind 16 % der jährlichen Kosten des arbeitsbedingten Krankheits- und Unfallgeschehens insgesamt.
Ein weiterer Bereich mit ausgeprägten Risikofaktoren für MSE ist die Land- und Forstwirtschaft. Rosemarie Pexa umreißt auf Basis von Forschungsdaten und im Austausch mit der Wissenschafterin Elisabeth Quendler die besonderen Herausforderungen für MSE-Prävention, die in diesem Tätigkeitsfeld stecken. Dazu zählen die Manipulation schwerer Lasten genauso wie repetitive Tätigkeiten und das Arbeiten in Zwangshaltungen sowie Vibrationsbelastungen etwa am Traktor oder durch die Arbeit mit Motorsägen. Präventionsmaßnahmen der Mechanisierung und Automatisierung von Arbeitsvorgängen können in dieser kleinbetrieblich geprägten Branche mit häufig wechselnden Tätigkeiten weniger leicht ergriffen werden. Zugleich wirken hoher Zeit- und Arbeitsdruck kombiniert mit oft geringem Personalstand als verstärkende psychische Risikofaktoren. Der Beitrag veranschaulicht, dass es trotz dieser Bedingungen wirksame Möglichkeiten gibt, um MSE vorzubeugen.
Häufige Fahrten mit dem Auto oder Lkw belasten ebenfalls den Muskel-Skelett-Apparat. Sie können zu Schmerzen im Rücken und Schulter-Nacken-Bereich führen und langfristig MSE verursachen. Der Artikel „Arbeitsplatz Pkw“ zeigt spezifische mit Autofahrten verbundene Risikofaktoren für MSE auf. Die Ergonomin Julia Lebersorg-Likar und der Verkehrsexperte Peter Schwaighofer erläutern, dass eine ergonomische Sitzeinstellung, eine gute Fahrten-Planung mit ausreichend Zeitpolstern zur Stressvermeidung sowie regelmäßige (bewegte) Pausen nicht nur einen Beitrag zur MSE-Prävention leisten, sondern auch zur Verkehrssicherheit beitragen. Ein Betriebsbeispiel gibt Ideen für praktische Umsetzungsmöglichkeiten.
In den letzten beiden Artikeln richtet der Ergonom Norbert Lechner den Blick auf neuere technologische Entwicklungen in der Prävention von MSE. Zunächst gibt er einen Überblick über die digitalen Angebote der AUVA. Im Zentrum der Ausführungen steht das sensorbasierte Bewegungsanalyse-System Captiv, das mit unterschiedlichen Anwendungen gekoppelt werden kann. So ermöglicht Captiv Motion die Identifikation von ungünstigen Körperhaltungen oder Bewegungsabläufen durch die Synchronisierung mit Videoaufnahmen. Auch kombinierte Anwendungen von Captiv mit Eyetracking oder Virtual-Reality-Anwendungen sind möglich und können bei der AUVA angefragt werden. Der abschließende Beitrag dieser Sonderausgabe stellt Exoskelette in den Mittelpunkt der Betrachtung. Nach einer Begriffsklärung und Darstellung verschiedener Arten von Exoskeletten reflektiert der Autor die damit verbundenen Chancen und Risiken anhand des aktuellen Forschungsstandes. Deutlich wird, dass keine pauschale Aussage über den ergonomischen Nutzen von Exoskeletten getroffen werden kann, sondern je nach Tätigkeit und Einsatzgebiet die spezifischen Vor- und Nachteile durch geeignete Fachleute geprüft werden sollten.
QUELLEN:
- AUVA – Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (2021): M.plus 024 „Arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen vorbeugen“. Abrufbar auf https://www.auva.at/publikationen (zuletzt abgerufen am 18.10.2021)
- Leoni, Thomas (2020): Fehlzeitenreport 2020. Krankheits- und unfallbedingte Fehlzeiten in Österreich. Abrufbar auf https://www.wifo.ac.at/publikationen (zuletzt abgerufen am 18.10.2021)
- Leoni, Thomas; Brunner, Anna & Christine Mayrhuber (2020): Die Kosten arbeitsbedingter Unfälle und Erkrankungen in Österreich. Abrufbar auf https://www.wifo.ac.at/publikationen (zuletzt abgerufen am 18.10.2021)
Zusammenfassung
Die Autorin zeigt die Bedeutung einer wirkungsvollen Prävention von arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen auf und bringt einen Überblick über den Präventionsschwerpunkt MSE der AUVA 2021–2022.