EU-OSHA
Wenn die Arbeit auf den Schultern lastet
Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) gehören zu den häufigsten arbeitsbedingten Erkrankungen in Europa. Rund drei von fünf Arbeitnehmern in der EU berichten von Gesundheitsproblemen, bei denen Rücken- und Muskelschmerzen im Vordergrund stehen.
Im Zuge der aktuellen EU-Kampagne „Gesunde Arbeitsplätze – entlasten Dich!“ der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (EU-OSHA) fand kürzlich auf Einladung des Bundesministeriums für Arbeit (BMA) ein Austausch zwischen Expertinnen und Experten statt. Dabei wurden die theoretischen Grundlagen zur Prävention arbeitsbedingter Muskel-Skelett-Erkrankungen und die Umsetzung für die Praxis interdisziplinär diskutiert.
„MSE machen einen Großteil arbeitsbedingter Erkrankungen aus. Damit sind nicht nur viel individuelles Leid und persönliche Einschränkungen verbunden, sondern auch hohe Kosten für die Gesellschaft“, sagt Dr. Anna Ritzberger-Moser, Leiterin der Sektion VII Arbeitsrecht und des Zentral-Arbeitsinspektorats im BMA. Einer Studie des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) aus dem Jahr 2020 zufolge liegt die Summe der Folgekosten arbeitsbedingter Unfälle und Erkrankungen bei 9,9 Milliarden Euro. 18 Prozent davon entfallen auf Arbeitsunfälle und 82 Prozent auf arbeitsbedingte Erkrankungen. „Von diesen 82 Prozent sind 20 Prozent Muskel- und Skeletterkrankungen. Diese Größenordnung zeigt deutlich, wie dringend die Prävention von MSE im Arbeitsschutz ist“, so Ritzberger-Moser weiter.
Partizipation und Multidisziplinarität
Prävention könnte einfach sein, denn auch die Risikofaktoren sind hinlänglich bekannt: Schweres Heben, monotone Arbeitsabläufe und psychosoziale Faktoren tragen Ihres dazu bei, dass bei vielen Menschen die Arbeit buchstäblich schwer auf den Schultern lastet. Warum Prävention dennoch schwieriger ist als auf den ersten Blick vermutet, bringt Ritzberger-Moser auf den Punkt: „Zur Reduktion der Beschwerden und zur Vorbeugung gibt es nicht die eine Patentlösung. Es braucht einen ganzheitlichen Ansatz, so wie es auch die EU-OSHA propagiert.“ Partizipation und Multidisziplinarität bei Experten müssen großgeschrieben werden und das Thema braucht im Betrieb sowohl Top-down als auch Bottom-up die entsprechende Unterstützung. „Unterschiedliche Arten von Maßnahmen müssen kombiniert werden, um für den jeweiligen Arbeitsplatz die beste Lösung zu finden“, ist die Expertin überzeugt. Das reicht von technischen Maßnahmen wie Hebehilfen bis hin zu organisatorischen Maßnahmen zum Stressabbau. Wie paradox die Situation aber trotz dieses Wissens ist, beschreibt DI Ernst Piller, stellvertretender Gruppenleiter im Zentral-Arbeitsinspektorat: „Wir haben viele technische und ergonomische Verbesserungen in den Betrieben umgesetzt und dennoch nehmen MSE laufend zu.“
Checkliste unterstützt Präventionsarbeit
Die Beschwerden lassen sich meist nicht einer Ursache zuschreiben, sondern werden von vielen Faktoren beeinflusst. Genau wegen dieses heterogenen Wirkmechanismus stellt sich Prävention als doch nicht so einfach dar. „Bisher haben wir uns hier aber hauptsächlich auf die Anthropometrie und die manuelle Handhabung von Lasten beschränkt. Wir müssen unser Maßnahmenspektrum auf alle biomechanischen Faktoren erweitern“, fordert Piller. Dazu gehören das Heben, Halten, Tragen, Ziehen und Schieben von Lasten, ihre Häufigkeit, die Wegstrecke und die Ausführungsbedingungen. Ebenso muss die Körperfortbewegung, etwa beim Klettern auf Masten und Türme, mit einbezogen werden. Körperzwangshaltungen und repetitive Tätigkeiten sind genau unter die Lupe zu nehmen, und schließlich hat die Ausübung von Ganzkörpertätigkeiten wie Klopfen, Schlagen oder Drücken noch wesentlichen Einfluss auf die Arbeitsbelastung. „Die Anforderungen sind überaus komplex und entziehen sich damit oft einer unmittelbaren Regelung“, beschreibt Piller die Problematik.
Zur Reduktion der Beschwerden und zur Vorbeugung gibt es nicht die eine Patentlösung. Es braucht einen ganzheitlichen Ansatz
Zur Lösung hat das Arbeitsinspektorat eine Checkliste [1] erstellt, mit der festgestellt werden kann, ob am Arbeitsplatz Risikofaktoren für das Auftreten von MSE vorhanden sind. Die Checkliste wurde in Zusammenarbeit mit der AUVA erarbeitet und enthält mess- und beurteilbare Parameter – keine fixen Grenzwerte –, Beispiele typischer Tätigkeiten und Angaben zur betroffenen Körperregion. „Derzeit wird die Checkliste beim Schwerpunkt ‚MSE bei Jugendlichen und jungen Arbeitnehmern‘ und in der Beratungsoffensive MSE eingesetzt. Wir hoffen, durch den Einsatz bei jungen Arbeitnehmern wirklich soweit präventiv wirken zu können, dass in späterer Folge keine Beschwerden auftreten“, erzählt Piller aus der Praxis.
MSE verursachen häufig Krankenstände
Eine Umfrage aus 27 EU-Staaten, die zwischen zwei Schwerpunktaktionen der EU-OSHA 2010 und 2015 entstanden ist, zeigt, dass rund 60 Prozent der befragten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über Rückenschmerzen, gefolgt von Schmerzen in Nacken, Schulter oder Armen berichten. „Das spiegelt sich auch in der Krankenstandstatistik von Österreich aus dem Jahr 2019 wider“, berichtet Dr. Andrea Kernmayer, Ärztin und Leiterin der Abteilung 4 – Arbeitsmedizin und Arbeitspsychologie im Zentral-Arbeitsinspektorat. Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes stehen mit 20,8 Prozent aller Krankenstandstage im Fehlzeitenreport an zweiter Stelle. „Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen reichen von leichten und vorübergehenden Befindlichkeitsstörungen bis hin zu schweren, chronischen, unumkehrbaren Schädigungen an Muskeln, Knochen, Gelenken, den Bandscheiben, Schleimbeuteln und Sehnenscheiden sowie Nerven und Gefäßen“, sagt Kernmayer.
Der Grund dafür ist nicht schwere Arbeit an sich, sondern die falsche Belastung durch einseitige Tätigkeit. Ebenso Auslöser für MSE ist aber auch ein „Zuwenig“ an Bewegung durch überlanges Sitzen und ein „Zuviel“ durch das Manipulieren schwerer Lasten sowie Vibrationen, die auf den gesamten Körper einwirken. Einige spezifische MSE können in Österreich rechtlich als Berufskrankheit anerkannt werden. Voraussetzung für die Anerkennung einer Krankheit als Berufskrankheit ist der Beweis eines direkten, überwiegenden Zusammenhangs mit der versicherten beruflichen Tätigkeit: „Bei vielen dieser Erkrankungen, wie zum Beispiel Meniskusschäden, ist es schwierig, sie kausal nur auf die Arbeit zurückzuführen. Da spielen auch der individuelle Lebensstil und Schwachstellen im Körper eine Rolle“, resümiert die Medizinerin. Interessant ist, dass arbeitsbedingte MSE in Österreich grundsätzlich weit weniger häufig als Berufskrankheit gemeldet werden als in Deutschland.
Wo Fehlbelastungen sichtbar werden
Welche Berufsgruppen besonders häufig von Fehlhaltungen bei der Arbeit betroffen sind, beschreibt Gerhard Eder, Arbeitsinspektor und staatlich geprüfter Trainer für allgemeine Körperausbildung: „Reinigungskräfte haben meist insgesamt eine schlechte Haltung, wenn sie Putzarbeiten durchführen. Sie sind die meiste Zeit nach vorne gebeugt und bewegen sich nur von der Körpermitte in eine Richtung.“ Das heißt, dass hier die Bauchmuskeln und die Muskulatur der Lendenwirbelsäule immer einseitig belastet werden. So entstehen Dysbalancen und auf Dauer kann das Schmerzen verursachen. Gleiches gilt zum Beispiel auch bei Kassenkräften, die am Förderband arbeiten, oder bei Kellnern.
„Nach Körperregionen betrachtet ist es nach wie vor das klassische Heben und Tragen schwerer Lasten, das die Bandscheiben in der Lendenwirbelsäule am meisten belastet“, so Kernmayer. Betroffen davon sind häufig Maurer, Steinesetzer, Berufskraftfahrer oder Pflegepersonal. Das Tragen schwerer Lasten auf den Schultern, wie etwa in Fleischereien, führt zu Schädigungen der Bandscheiben in der Halswirbelsäule. Die sogenannte „Weißfingerkrankheit“ entsteht durch vibrationsbedingte Durchblutungs- und Sensibilitätsstörungen an den Händen beim Bedienen von Bohrern, Meißeln, Fräsen, Sägen, Schneide-, Schleif- und Poliermaschinen sowie Niethämmern oder Handrichtern. Meniskusschäden betreffen all jene Arbeiten, die vorwiegend kniend oder in hockender Stellung verrichtet werden. Dazu zählen Tätigkeiten von Ofensetzern, Fliesen- oder Parkettlegern sowie Rangierarbeitern.
Beispiele aus der Praxis
„Jugendliche in Kfz-Betrieben arbeiten meist beim Abnehmen von Bremsen in einer ungünstigen Zwangshaltung, die durch den Einsatz von Hockern aber leicht vermieden werden kann“, erzählt Dr. Anna Geroldinger, MSc, Arbeitsinspektionsärztin im arbeitsinspektionsärztlichen Dienst für Steiermark und Kärnten aus der Beratungspraxis. Knieschoner, Hebegurte, Podeste oder Rollwagen sind einfache und meist auch kostengünstige Maßnahmen, die vor allem in kleineren Betrieben rasch umgesetzt werden. Aber auch Großbetriebe investieren in Technik, die zur Mitarbeiterentlastung beitragen kann. So hat in der Logistik der Post AG der sogenannte „Rapid Unloader“ – ein Förderband – dazu geführt, dass Pakete direkt von den Wechselaufbaubrücken der Lkw zu den Förderbändern transportiert werden können. „Damit geht das Entladen nicht nur schneller, sondern erspart den Mitarbeitern das Heben und Tragen“, beschreibt Geroldinger. Mitarbeiter haben die Aufgabe, die Pakete so zu drehen, dass die Weiterbeförderung und der automatische Scan durchgeführt werden können. Derzeit sind zwei derartige Förderbänder in Betrieb.
Bei Allnex im steirischen Werndorf, einem Hersteller von Kunstharzen, wird ein Großteil der Produkte in Gebinden händisch abgefüllt. Diese Abfüllvorgänge von 25-kg- bis 1000-kg-Gebinden sind mit hohen ergonomischen Belastungen verbunden, da die Fässer von der Waage mit einer Fassrodel zu einer Palette in etwa 30 Meter Entfernung gebracht werden müssen. In einem ersten Verbesserungsschritt wurde auf eine Vier-Fass-Abfüllung umgestellt, bei der vier Fässer auf einer Palette nach dem Befüllen mit einem Handhubwagen zum Lagerplatz transportiert werden.
„Es braucht immer die Bereitschaft zur Veränderung“, beschreibt Dr. René Schnalzer, Arzt für Allgemeinmedizin und Arbeitsmedizin und stellvertretender ärztlicher Leiter am arbeitsmedizinischen Zentrum der VAMED in der Steiermark, die Voraussetzungen für die Implementierung praktisch angewandter Ergonomie am Arbeitsplatz und ergänzt: „Ermutigung und Motivation sind eine wichtige Grundlage dafür. Passende Angebote zur Unterstützung sind notwendig, damit das neu erworbene Wissen im Arbeitsalltag auch umgesetzt wird.“ Das gilt zum Beispiel für den Einsatz von Handauflagen für Tastaturen oder höhenverstellbare Arbeitstische ebenso wie für kurze Ausgleichsübungen am Arbeitsplatz. „Wir haben gute Erfahrungen gemacht, wenn Physiotherapeuten direkt zum Schreibtisch kommen und vor Ort ein passendes Programm bieten“, sagt Schnalzer. Auch er weiß aus Erfahrung, dass es manchmal kleine und einfache Maßnahmen sind, die viel bewirken können, wie etwa das Versetzen einer Statusleuchte, damit sie im Sichtfeld des Bedieners liegt, oder einfache Erhöhungen von Arbeitsplätzen mit elektrisch verstellbaren Hubwägen, damit das Hochheben von Lasten weniger beschwerlich ist.
Psychische Belastungen und MSE
Inwieweit psychische Belastungen und MSE zusammenhängen, beschreibt Mag. Julia Steurer, stellvertretende Leiterin der Abteilung 4 – Arbeitsmedizin und Arbeitspsychologie im Zentral-Arbeitsinspektorat: „Studien belegen, dass hohe physische und psychische Belastungen das Stresserleben steigern und auch die Anfälligkeit für MSE erhöhen. Es zeigt sich auch, dass die Auslöser für MSE und psychische Erkrankungen wie Angst oder Depression oft ähnlich sind.“ Wird zum Beispiel ein Missverhältnis zwischen Aufwand und Leistung wahrgenommen – etwa in Form von Gehalt oder Wertschätzung –, so kann sich das bei Frauen in Rückenschmerzen, bei Männern häufig in Schulter- und Nackenschmerzen ausdrücken. „MSE sind auch ein häufiges Thema bei der Wiedereingliederung von Arbeitnehmern“, weiß Steurer und ergänzt: „Es lohnt sich, neben ergonomischen Maßnahmen auch Veränderungen der psychischen Arbeitsbedingungen in Betracht zu ziehen. Dazu zählt zum Beispiel, einen Blick auf die Autonomie, die Pausen, die Arbeitsdichte oder das Arbeitstempo zu werfen.“
Noch wenig beachtet, aber zunehmend problematisch ist auch der Genderaspekt im Hinblick auf die Arbeitsbelastung: „Oft haben Männer und Frauen im Betrieb unterschiedliche Aufgaben, die Belastungen fallen dann unter das Präventionsradar“, weiß die Expertin. Die Pflege ist dafür ein gutes Beispiel. Das Manipulieren desselben Patienten kann für eine ältere Arbeitnehmerin viel belastender sein als für eine junge, kräftige männliche Pflegekraft. „Wichtig ist es, Zusammenhänge zu erkennen und davon auszugehen, dass eine Maßnahme meist nicht alle Probleme lösen kann“, gibt Steurer zu bedenken. In dieselbe Kerbe schlägt auch Mag. Andrea Birbaumer von der Gesellschaft kritischer Psychologen und Psychologinnen, Berufsvertretung (GkPP): „Keine Belastung ist monokausal!“ Sie hat sich besonders des Themas „MSE und Homeoffice“ angenommen und zieht eine ernüchternde Bilanz: „Befragungen zur Zufriedenheit wurden häufig am Anfang im ersten Lockdown gemacht. Da war das Thema für viele noch neu und viele haben es als Erleichterung erlebt, zu Hause arbeiten zu können. Erst später kamen die Herausforderungen zutage, die durch vermehrten Stress und fehlende Struktur des Arbeitsalltags bei vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufgebrochen sind“, beschreibt Birbaumer.
Viele Arbeitsplätze – am Küchen- oder Kinderschreibtisch – entsprechen bei Weitem nicht den ergonomischen Anforderungen. Dazu kommen fehlende Rückzugs- und Abgrenzungsmöglichkeiten in beengten Wohnverhältnissen sowie oft das völlige Fehlen einer Trennung von Arbeit und Freizeit. „All das erzeugt enormen Stress und psychische Belastungen. Normalerweise erholt man sich davon zu Hause, aber jetzt kann man diesen Druck nicht einfach im Büro zurücklassen.“ Sie fordert hohe Klarheit vonseiten der Führungskräfte und nimmt diese in die Verantwortung: „Es braucht im Homeoffice mehr denn je bewusstes, explizites und ritualisiertes Feedback sowie klare Strukturen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter!“
[1] DOWNLOAD DER CHECKLISTE
Zusammenfassung
Im Zuge der EU-Kampagne „Gesunde Arbeitsplätze – entlasten Dich!“ der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (EU-OSHA) fand ein Austausch zwischen Expertinnen und Experten statt. Dabei wurden die theoretischen Grundlagen zur Prävention arbeitsbedingter Muskel- und Skeletterkrankungen und die Umsetzung für die Praxis interdisziplinär diskutiert.