Digitale Prävention
Mit den Augen eines Staplerfahrers
Eyetracking – also die genaue Analyse des Blickverhaltens – hilft, gefährliche Situationen im innerbetrieblichen Verkehr zu erkennen. Dies bildet die Grundlage für die Entschärfung von Gefahrenstellen.
Im Straßenverkehr werden 90 Prozent aller Informationen über das Auge aufgenommen. Kommt es zu fehlerhaften Wahrnehmungen, können Gefährdungen die Folge sein. Was für die Straße gilt, trifft laut Peter Schwaighofer, BSc, Präventionsexperte von der Abteilung Unfallverhütung und Berufskrankheitenbekämpfung der AUVA-Hauptstelle, auch auf den innerbetrieblichen Verkehr zu: „Schwere Unfälle sind in Österreichs Betrieben keine Seltenheit – und jeder davon ist einer zu viel. So kann beispielsweise eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter von einem Stapler erfasst und verletzt werden.“ Die Gründe für derartige Unfälle sind vielfältig, die Verantwortung dafür liegt oft nicht allein bei der Fahrerin oder beim Fahrer. So verstärken digitale Geräte wie das Diensthandy oder das private Mobiltelefon die Wahrnehmungsproblematik. Auch wenn man das Gerät gerade nicht nutzt, kann allein schon der Gedanke, immer erreichbar sein zu müssen oder zu wollen, von der aktuellen Tätigkeit ablenken. Bedienterminals, die ständig mit Informationen zu Radstellung, Geschwindigkeit oder Batteriezustand versorgen, fordern dazu auf hinzuschauen.
Das Eyetracking-System
Durch Blickanalysen mittels Eyetrackings kann man die menschliche Wahrnehmung und die Aufmerksamkeit visualisieren. So lässt sich feststellen, ob jemand beim Fahren die Umgebung im Auge behält oder die Aufmerksamkeit auf das Bediendisplay des Staplers richtet. Man erkennt auch, wenn das Blickfeld durch Hindernisse eingeschränkt ist.
Die AUVA-Hauptstelle kaufte vor rund fünf Jahren ein Eyetracking-System an, mit dem Blickanalysen durchgeführt werden können. Die Entscheidung fiel auf das in der Verkehrssicherheit häufig verwendete „Viewpointsystem“ des gleichnamigen Wiener Technologieunternehmens. Im Rahmen eines Pilotprojekts führten Schwaighofer und seine Kolleginnen und Kollegen in einzelnen Betrieben Analysen mit dem Schwerpunkt innerbetrieblicher Verkehr durch. „Aufgrund der guten Erfahrungen in den letzten Jahren ist das System mittlerweile in allen vier AUVA-Landesstellen in Verwendung“, so Schwaighofer.
Das Viewpointsystem besteht aus einer Brille mit fünf Kameras, die sowohl die Bewegungen der Pupillen aufzeichnen als auch, nach vorne gerichtet, die im Blickfeld der Trägerin bzw. des Trägers liegende Umgebung. Die Bilder der Kameras werden mittels einer Software übereinandergelegt, was ermöglicht, die Blicke zu verfolgen und anschließend zu analysieren.
Auswertung des Blickverhaltens
Trägt eine Staplerfahrerin oder ein Staplerfahrer die Brille, so sieht man in der Auswertesoftware, ob und wie z. B. in einem Kreuzungsbereich die Blicke nach links und rechts wandern. Ebenso kann evaluiert werden, ob ein Verkehrsspiegel richtig montiert ist und, noch wichtiger, von den Staplerfahrerinnen und -fahrern auch genutzt wird, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Aufzeichnungen haben gezeigt, dass bei Verkehrsspiegeln vielfach Nachbesserungsbedarf besteht.
Mit dem Eyetracking-System ist es möglich, kritische Situationen zu erkennen, noch bevor sich Unfälle ereignen. Aus der Auswertung des Videomaterials lassen sich Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit ableiten. Darüber hinaus kann das Material für betriebsinterne Sicherheitsschulungen verwendet werden, und zwar nicht nur für Lenkerinnen und Lenker selbstfahrender Arbeitsmittel. Es eignet sich auch zur Sensibilisierung der anderen Teilnehmenden am innerbetrieblichen Verkehr, da anhand des Videomaterials die Sicht von Staplerfahrerinnen und -fahrern erkennbar wird.
„Den Betrieb mit den Augen eines Staplerfahrers zu sehen, kann viel zur Bewusstseinsbildung beitragen. Den meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist die eingeschränkte Sicht beim Fahren eines Staplers nämlich nicht bewusst. Sie verhalten sich daher nach dem Motto ‚die sehen mich eh‘, was aber leider nicht immer der Fall ist“, so Schwaighofer. Diese Fehleinschätzung würden die Viewpointsystem-Aufnahmen anschaulich zeigen und sich auch in den Zahlen der Unfallstatistik widerspiegeln.
Einsatz in Betrieben
Interessiert sich ein Unternehmen für das Eyetracking-System, klärt man in einem Erstgespräch, welches Ziel damit verfolgt werden soll. In vielen Fällen geht es um eine Häufung von Unfällen im innerbetrieblichen Verkehr, deren Ursachen man auf den Grund gehen möchte. Bevor mit der Umsetzung begonnen wird, führt man Gespräche mit der Personalvertretung und mit Datenschutzbeauftragten. „Es ist wichtig, dass im Vorfeld alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über das Projekt informiert werden. Dadurch lässt sich sicherstellen, dass das Projekt im Betrieb erfolgreich umgesetzt wird“, betont Schwaighofer. Am Tag der Aufzeichnung werden mit der Eyetracking-Brille zuvor definierte Arbeitsplätze und Arbeitsprozesse gefilmt. Idealerweise analysieren dann Expertinnen und Experten der AUVA mit Vertreterinnen und Vertretern des Unternehmens gemeinsam die Aufnahmen. Anhand des aufbereiteten Videomaterials können Sicherheitsschulungen durchgeführt und konkrete Maßnahmen nach dem STOP-Prinzip abgeleitet und umgesetzt werden.
Konflikte entschärfen
Bisherige Erfahrungen mit dem Eyetracking-System zeigen, dass viele Konflikte im innerbetrieblichen Verkehr durch temporäre Engstellen entstehen. „Verkehrswege werden z. B. durch Behälter oder Paletten eingeengt. Reicht die Breite an einer Stelle gerade noch aus, dass sich zwei Stapler begegnen können, und wird dort eine Palette zwischengelagert, muss einer ausweichen. Wenn Gegenstände in den Verkehrsweg ragen, behindern sie die Sicht. Solche Dinge kann man in einer klassischen Begehung oft nur schwer feststellen“, erklärt Schwaighofer. Ein Lösungsansatz besteht darin, Abstell- und Sperrflächen für Behälter oder Paletten zu schaffen und zu kennzeichnen.
Schwere Unfälle sind in Österreichs Betrieben keine Seltenheit – und jeder davon ist einer zu viel.
„Kurven schneiden“ ist nicht nur im Straßenverkehr verbreitet, auch auf dem Werksgelände wird gern eine Abkürzung genommen, die zu einer brisanten Situation führen kann. Lässt sich das anhand der Eyetracking-Aufnahmen erkennen, schaffen Bodenmarkierungen oft Abhilfe. „Wenn man Unterstützung bekommt, sich richtig zu verhalten, dann wird man es eher tun“, stellt Schwaighofer fest. Sollte das nicht ausreichen, können fixe Barrieren und Hinweise in Schulungen für mehr Sicherheit sorgen. Am innerbetrieblichen Verkehr nehmen auch Personen teil, die kein Fahrzeug lenken. Ihr Unfallrisiko ist erhöht, wenn an Gefahrenstellen zwar Verkehrsspiegel montiert sind, allerdings in einer für sie nicht passenden Höhe. Dadurch haben z. B. die erhöht sitzenden Staplerfahrerinnen und -fahrer die Gefahrstelle im Blick, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die den Verkehrsweg queren müssen, sehen einen herannahenden Stapler jedoch zu spät. Manchmal reicht es aus, den Spiegel etwas zu verstellen, anderenfalls muss ein zweiter angebracht werden.
Ein umfassendes Verkehrskonzept
Um sämtliche Unklarheiten zu beseitigen, die sich im innerbetrieblichen Verkehr ergeben, sollte ein umfassendes Verkehrskonzept erstellt werden. Ein bei der Werkseinfahrt stehendes Schild mit der Aufschrift „Es gilt Rechtsverkehr ausgenommen Stapler“ kann zu Missverständnissen führen. Glaubt eine Staplerfahrerin bzw. ein -fahrer, ohnehin immer Vorrang zu haben, achtet sie bzw. er möglicherweise weniger auf andere Personen und übersieht dadurch auch leichter einen anderen Stapler, dessen Fahrerin oder Fahrer für sich ebenfalls den Vorrang in Anspruch nimmt. Lösen lässt sich dieses Problem durch eine veränderte Verkehrsführung an Gefahrstellen, die anhand der Viewpointsystem-Aufnahmen identifiziert werden können. Wo keine Alternativen für die Verkehrsführung möglich sind, können Verkehrsschilder deutlich machen, wer Vorrang hat. Auch die Information, dass bei der Annäherung von zwei Staplern an einen Kreuzungsbereich zwischen diesen die Rechtsregel gilt, trägt zur Klärung bei. Oft lassen sich durch interne Prozessoptimierung Wege von selbstfahrenden Arbeitsmitteln auch vollständig vermeiden, was wesentlich zur innerbetrieblichen Verkehrssicherheit beiträgt. „Generell gilt: Die sicherste Fahrt ist jene, die nicht getätigt wird“, so Schwaighofer.
Äußere und innere Faktoren
Selbst wenn die Sicht nicht durch Gegenstände behindert wird und die Staplerfahrerin bzw. der -fahrer die Aufmerksamkeit auf die Umgebung richtet, kann durch Blendung ein Unfall verursacht werden. Das trifft z. B. beim Herausfahren aus einer dunklen Halle ins Freie zu, wenn draußen die Sonne scheint. Beleuchtungen in unterschiedlicher Stärke und Abschattungen helfen dem Auge, sich an die veränderten Lichtverhältnisse anzupassen. Nicht immer sind Probleme so deutlich zu erkennen wie ein großer Hell-dunkel-Unterschied. Bei der Interpretation der Eyetracking-Videos liefern Betriebszugehörige oft die entscheidenden Hinweise. Eine auf der Aufnahme leicht zu übersehende Bodenunebenheit kann der Grund dafür sein, dass Lenkerinnen und Lenker von selbstfahrenden Arbeitsmitteln von der vorgegebenen Verkehrsführung abweichen und eine bestimmte Stelle umfahren.
Manchmal sieht man in den Videos aber auch ein Verhalten, das sich weder durch Unaufmerksamkeit noch durch äußere Faktoren erklären lässt – und das auch nicht alle mit einer Eyetracking-Brille ausgestatteten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufweisen. Die Ursache, warum einige Staplerfahrerinnen und -fahrer z. B. bei einem Stoppschild nie stehenbleiben, kann in der Macht der Gewohnheit liegen: Etwa, wenn früher an dieser Stelle eine Nachrangtafel gestanden ist, nach der sich betriebsältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach wie vor richten. Der Schlüssel zu einer dauerhaften Verhaltensänderung liegt in regelmäßigen Schulungen.
Für Mag. Roland Prettner, Geschäftsführer des steirischen Automobilzulieferers Magna Presstec GmbH, ist die Verwendung der Aufnahmen in Schulungen der wichtigste Punkt bei der Nutzung eines Eyetracking-Systems: „Die Videos helfen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu erkennen, in welchen Situationen durch Unaufmerksamkeit etwas passieren könnte. Oft merken sie gar nicht, wenn sie abgelenkt sind.“ Das „Viewpointsystem“-Projekt mit der AUVA trage dazu bei, eines der Unternehmensziele, „null Arbeitsunfälle“, zu erreichen.
Eyetracking bei Magna Presstec
Durch den ständigen Austausch mit der AUVA erfuhr Prettner von der Möglichkeit einer Blickanalyse und entschied sich für den Einsatz des Systems an mehreren Tagen im Oktober 2018. Die Analyse des Videomaterials lieferte genaue Informationen zu Situationen, in denen bereits davor ein erhöhtes Risiko vermutet wurde, und zeigte bis dahin noch nicht bekannte Gefahrenquellen auf. Daraus leitete man konkrete Sicherheitsmaßnahmen ab und setzte diese um. Die Markierung von Übergängen, Fahr- und Gehwegen wurde erneuert und ergänzt. „Wir haben den Verlauf der Fahrwege zum Teil verändert, z. B. einen weiteren Kurvenradius gewählt. Auch Sperrflächen und Abstellflächen für Behälter sind neu markiert worden“, führt Prettner einige Maßnahmen an. Abstellflächen an Eckpunkten von Fahrwegen wurden verlegt, um eine Sichteinschränkung für Staplerfahrerinnen und -fahrer zu vermeiden.
An unübersichtlichen Stellen brachte man Verkehrsspiegel an, damit sowohl Staplerfahrerinnen und -fahrer als auch das Bedienpersonal an den Produktionsmaschinen den Gefahrenbereich einsehen können. Personen, die mit dem Stapler auch im Freien unterwegs sind, erhielten zum Schutz vor Blendung Sicherheitsbrillen mit getönten Gläsern. Um die Sichtbarkeit der Stapler zu erhöhen, stattete man sie mit Blaulichtern – LED-Leuchten, die einen Warnpunkt auf den Boden projizieren – aus. Ein Verhalten, das immer wieder zu kritischen Situationen führt, ist das Telefonieren am Steuer eines Staplers. Daher werden derzeit für den Produktionsbereich geeignete Freisprecheinrichtungen getestet. Solange hier keine geeignete Lösung gefunden wird, sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angehalten, beim Telefonieren stehenzubleiben.
„Wenn sich vom Werkslayout etwas Wesentliches ändert, greifen wir gern wieder auf das Eyetracking zurück“, so Prettner, der diese Methode allen Unternehmen mit innerbetrieblichem Staplerverkehr empfiehlt, da sie die Arbeitssicherheit deutlich erhöht.
Zusammenfassung
Fehlerhafte Wahrnehmung im innerbetrieblichen Verkehr kann zu schweren Unfällen führen. Eyetracking-Systeme zeichnen die Blicke von Staplerfahrerinnen und -fahrern auf, wodurch sich mangelnde Aufmerksamkeit und Ablenkung ebenso erkennen lassen wie Sichtbehinderungen. Blickanalysen ermöglichen es, gezielte Maßnahmen zu Unfallvermeidung zu setzen. Die Aufnahmen eignen sich auch als Schulungsmaterial, um bei anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was man beim Fahren eines selbstfahrenden Arbeitsmittels sieht und was nicht.