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Gefahrguttransport

Baron Münchhausens Ritt durch die Gefahrgutvorschriften 2019

Alle kennen ihn – den legendären Lügenbaron mit seinen fantastischen Geschichten, die jeweils so unglaublich spektakulär erscheinen, dass sie bei näherer Betrachtung sich ja ganz offensichtlich als „fake news“ herausstellen mussten. Und das ist auch schon der große Unterschied zu diesem Artikel: Alle hier mehr oder weniger spektakulären Neuigkeiten existieren in der Welt des Gefahrguttransportes tatsächlich, selbst ein Baron Münchhausen wäre angesichts der zeitgeistig um sich greifenden und in Echtzeit mittels WhatsApp, E-Mail, Twitter und Facebook bis unter die Bettdecke nachgeschossenen zeitweiligen „fake news“ einfach nur – verwirrt gewesen!

Gefahrenguttransport
Adobe Stock

Und nun zu den neuen Kanonenkugeln, die die Gefahrgutwelt so von sich schießt und auf denen geritten wird. Wobei seit einigen Jahren die verkrampfte, besser: krampfhafte Veränderungstaktik der internationalen Gremien stark hinterfragt wird: Jeder wünscht sich Kontinuität und möchte die neuen Regelungen anwenden bzw. angewendet wissen – und nicht schon wieder eine „Gefechtsänderung“!

Wirklich große Mengen Gefahrgut

Zu Beginn ein paar interessante Fakten, die nicht so auf der Hand liegen oder alltäglich sind und beim alljährlichen Gefahrgutkongress in München zu erfahren waren:

Wer im Gefahrguttransport mit wirklich großen Kubaturen zu tun haben will, sollte sich der Binnenschifffahrt zuwenden. Jedoch wurde endlich der gesamte Explosionsschutz im ADN 2019 neu geregelt, Vorsicht! Hier gilt die österreichische VEXAT per Definition dieser Verordnung nicht. Weitgehend unbekannt: Auf dem Verkehrsträger Binnenschifffahrt werden oftmals weitaus größere Mengen an Gefahrgut befördert als auf dem Verkehrsträger Straße. Um eine gleiche Menge wie im Schott eines Binnenschiffes zu transportieren, sind oftmals mehr als 60 Straßentanklastzüge notwendig.

Wenn also in Zukunft durch klimatische Umwälzungen sogar die Rheinschifffahrt zeitweilig zum Erliegen kommt, wird das nicht ohne dramatische Folgen auf wirtschaftliche Transport- und Versorgungsvorgänge bleiben.  

Willkommen Nigeria zum ADR! Somit hat das „ADR“ den „Großraum“ Europa endgültig verlassen, nicht-europäische Staaten (Marokko, Tadschikistan) im „kontinentalen Umfeld“ sind ja schon seit Längerem dabei.

Im ADN 2019 sind nach 8.3.5 nun auch Genehmigungspflichten für sämtliche kritische Arbeiten an Bord gefordert, d. h. de facto eine Art Heißarbeitsschein sowie eine Beurteilung des Einsatzes kategorisierter elektrischer Geräte in den jeweiligen Zonen. Vorsicht! Entsprechende ADN-Schulungen sind auch für die landseitigen Annahmestellen der Binnenschiffe übergreifend Pflicht (!) und sollten hier unter Berücksichtigung des Arbeitnehmerschutzes durchgeführt werden.

Wichtig für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Zustellfirmen diverser Versandhandelsagenturen, die bewusst oder auch unbewusst – oftmals ungeschult – Gefahrgüter zu Endkunden bringen: Durch das bloße Abstellen der Sendung (mit Gefahrgütern) beim Empfänger, weil man zum Beispiel diesen nicht angetroffen hat, beschließt man juristisch den Beförderungsvorgang nicht. Das heißt, der Beförderer ist weiter in der Pflicht und Verantwortung, was mit dem Inhalt der nun nicht mehr von ihm kontrollierten Ware bzw. dem Gefahrgut weiter passiert. Wie gut, dass „Zalando-Schuhe“ kein Gefahrgut sind, das bei der Nachbarin in falsche Hände gerät.

Wichtige Klarstellung zum Begriff „Privatpersonen“: Dieser umfasst auch Fahrgäste in Bussen, Taxis, Fahrgastschiffen und Personenzügen. Als Beispiel fallen Li-betriebene Rollstühle und Fahrräder sowie medizinische Sauerstoffversorgungseinrichtungen demnach nicht unter den Gefahrgutbegriff nach ADR, wenn sie privat angewendet bzw. benutzt werden. Natürlich ändert dies nichts an ihrem Gefahrenpotenzial bzw. befreit den einzelnen Anwender nicht von einem sorgsamen Umgang.

Sondervorschrift SV 363: das „rote“ Tuch

Zu den besonderen „Kanonenkugeln“, die im Gefahrgutrecht und den Vorschriften immer wieder im „Gefecht“ neu auftauchen, gehören die Sondervorschriften, wo mangels Regeleinigung oder/und Neuheit die Flucht in eine spezielle Regelungsmaterie angetreten wird. Die auch von Prüflingen gefürchtete Spalte 6 der Zentraltabelle ist jedenfalls, egal welches Gefahrgut, immer Pflichtlektüre.

Ein besonderes Highlight stellt hierbei die SV 363 und ihr wechselnder Inhalt dar, der leider auch eine ganze Reihe von Gewerken und Unternehmen trifft, die mit Gefahrgut oder/und Chemie eigentlich sonst so gut wie nichts zu tun haben. Hier geht es um die korrekte Kennzeichnung von Treibstofftanks bzw. Versorgungseinrichtungen für Maschinen und/oder Motoren in Spezialverwendung wie z. B. in mobilen (Not-)Stromaggregaten oder Generatoren.

Auf die potenzielle Gefahr des Treibstoffs hinzuweisen, ist das eine, die organisatorische Vorschrift dazu und ihre Änderungen das andere: War früher an allen 4 Seiten ein Gefahrzettel Nr. 3 für die brennbaren Flüssigkeiten vorgesehen, so sind es jetzt (ADR 2019) nur noch 2 gegenüberliegende Gefahrzettel Nr. 3, und die Regelung gilt erst ab 60 Liter Treibstoff. Nun, hier hat jemand de facto eine Art Bagatellgrenze eingezogen, könnte man wohlmeinend unterstellen. Die kann man aber kompliziert geregelt noch höher schrauben, denn die Regelung greift erst, wenn ein Tank benutzt wird, dessen Bauart über 450 Liter ist. Also anders ausgedrückt: 440-Liter-Tank bauen und füllen und der SV 363 den Rücken kehren (bis zur nächsten Änderung der Vorschriften, versteht sich: alle 2 Jahre NEU lesen, bitte!). Und es geht auch in der SV 363 noch mengenmäßig „bergauf“: Ist die Bauart des Tanks mehr als 1.000 Liter, muss ein Beförderungspapier ausgefüllt werden und die orangefarbenen Warntafeln vorne und hinten an der (Beförderungs-)Einheit angebracht werden. Ist die Bauart des Tanks sogar über 3.000 Liter, müssen außen 2 gegenüberliegende Placards mit 25 cm x 25 cm angebracht sein.

Dass ein „gewöhnlicher“ Tank – für den zumeist für solche Maschinen der SV 363 verwendeten Treibstoff Diesel – noch mit der Aufschrift UN 1202 und der Kennzeichnung „umweltgefährlich“ versehen wird, ist hier unerheblich. Wieso auch? Der hier gespeicherte Kraftstoff verunreinigt pro ausfließendem Tropfen (!) anscheinend nicht einen Liter Trinkwasser. Alles nicht so schwer, oder?

Li-Batterien: Damit die Energie nicht ausgeht

Der Dauerbrenner sind natürlich Lithiumbatterien: Im Kennzeichnungsschild dürfen mehrere Auswahlmöglichkeiten für UN-Nummern angegeben sein, jedoch müssen die tatsächlich relevanten auch richtig angekreuzt sein. Wer hätte das als richtig vermutet?! Wirklich übertroffen werden solche Regelungen nur von der 5.2.2.1.12.2. Jetzt sagen Sie nicht, Sie wissen nicht, dass das die Ausrichtungspfeile betrifft: An 2 gegenüberliegenden Seiten sind diese bei Gegenständen, die flüssige Gefahrgüter enthalten, anzubringen, und nur wenn die Geometrie es nicht erlaubt, darf darauf verzichtet werden … wie auch immer diese Oberfläche aussehen mag …

Auch die Verpackungslehre kann mit Besonderheiten dienen: Ein und dieselbe „Umschließung“ kann sowohl als Tank als auch als Kiste oder IBC völlig regelkonform parallel zugelassen werden, wenn auch die jeweiligen Kriterien erfüllt werden. Zu beachten gilt, dass bei Tankumschließungen prinzipiell keine Kleinmengen möglich sind.

Von wirklich praktischem Nutzen, vor allem in der laienmäßigen Abschätzung zur Frage: wie sicher ist laut Hersteller mein(e) Li-Batterie(system), kann die Tatsache sein, dass bei Li-Batterien, die nach dem 30.6.2003 hergestellt wurden (und das dürfte die überwiegende Zahl an Systemen und Li-Batterien betreffen), nun gemäß dem Handbuch Prüfungen und Kriterien Teil III Unterabschnitt 38.3. Absatz 38.3.5. eine Prüfzusammenfassung der jeweiligen Li-Batterie vorliegen muss. Hier wird auch auf die durchgeführten Prüfungen, deren Ausführende und Ergebnisse verwiesen. Meistens ist die „38.3“ auch auf den Batteriesätzen direkt als Zahl angebracht.

Diese Prüfbescheinigung muss zwar im Transport nicht mitgeführt werden, ist jedoch (geschickterweise im [Bestell-]Vorfeld) seitens des Herstellers bzw. Vertreibers anforderbar. Im Vertrauen, dass der „freie (Welt-)Markt“ ja alles (wie von) selbst regelt …

Vision Zero: ein medizinischer Notstand?

Ein generell interessanter Ansatz wurde in einem Spezialvortrag verfolgt: Von der (in der Praxis meist sowieso nicht realisierbaren „absoluten“) Fehlervermeidung zur Fehlersteuerung. Hat man auf Fehler einen Einfluss, gilt (aus erfindlichen Gründen) das Vermeidungsprinzip. Hat man darauf keinen Einfluss, sollte man sie steuern bzw. in möglichst wenig schädliche Bahnen lenken. No na, werden Sie jetzt sagen. Aber die Fehlersteuerung legt ein paar (revolutionäre?) Grundgedanken als Basis nahe:

  • Fehlerfreiheit ist eine Fiktion.
  • Der Mensch ist für Fehlerfreiheit nicht ausgelegt, da er zum Lernen Fehler in Eigenerfahrung benötigt.
  • Gleichzeitig ist er aber auch noch immer ein hervorragender Fehlerkorrigierer: Denken Sie an den Straßenverkehr.
  • Nur zirkuläre Kommunikationsprozesse führen zu einem angestrebten hohen Maß an (rechtzeitiger) Fehlerelimination.
  • Die Grunddaten (im Gefahrgut- und Gefahrstoffrecht: Sicherheitsdatenblatt, Einstufung, Zuordnungen, Messdaten) der vorhin geforderten Zirkularkommunikation müssen allerdings stimmen.
  • Beste Lernmethode ist die eigene Erfahrung in einer Übung.

Die Schweiz ist speziell

In weiteren Vorträgen konnte man erfahren, dass das einheitliche globale Einstufungs- und Kennzeichnungssystem, mal abgesehen vom lokalen Bekanntheits- und Bejubelungsgrad in der Anwendung, durchaus noch über beachtliche nationale Lücken verfügt: So besitzt die Ukraine, Weißrussland, Moldawien und Georgien kein GHS, Kolumbien in Südamerika ist gerade bei der Einführung, und Venezuela dürfe auch andere Sorgen haben ...

Wirklich interessant und sehr lehrreich war auch der Schweizer Beitrag über die möglichst vernünftige Umsetzung der internationalen Gefahrgut-Transportvorschriften. Für Außenstehende sind jedoch die behördlichen regionalen Kantonalstrukturen nur schwer verständlich und nachvollziehbar, aber gültig.

Hier seien wichtige Spezialitäten der Eidgenossenschaft wiedergegeben:

  • Internationale Beförderungen von Gefahrgut zwischen der EU und der Schweiz unterliegen nur mit Motorfahrzeugen über 25 km/h Bauartgeschwindigkeit und mindestens 4 Rädern sowie mit deren Anhängern den ADR-Vorschriften.
  • Unter den Begriff „Fahrzeug“ fallen auch motorlose Fahrzeuge, d. h. Fahrräder, E-Scooter, Kutschen, Draisinen etc., sie unterliegen dem ADR, wenn mit ihnen Gefahrgut befördert wird. (Die orange Warntafel am Fiaker in Wien war undenkbar, in Österreich gültig nur für motorbetriebene Fahrzeuge.)
  • Fußgänger unterliegen nicht dem Gefahrguttransportrecht, wenn sie Gefahrgut dienstlich mitschleppen. – Gott sei Dank wurde das mal klargestellt! – Die maximal mögliche Menge und die Geschwindigkeit dürften allerdings zu keiner kommerziell relevanten Anwendungsbreite geführt haben …

Aber nun zu zwei echten Highlights der Schweizer Besonderheiten:

  • Kleinmengenrelevant: Ungereinigte leere Verpackungen der Beförderungskategorie 4 benötigen in der Schweiz kein Beförderungspapier.
  • Gefüllte oder leere Flaschen für Atemschutzgeräte der Rettungsdienste, Feuerwehren, Taucher benötigen ebenfalls kein Beförderungspapier.

Warum diese äußerst sinnvollen Erleichterungen in Österreich keine Anwendung finden, bleibt zu hinterfragen. Wer, wenn nicht die Rettungskräfte der Feuerwehr, weiß mit Atemschutzgeräten sinnvoll und gefahrenarm umzugehen?

In unserem westlichen Nachbarland ist jedoch auch ein besorgniserregender Trend zu verzeichnen: Da doch recht streng kontrolliert und gestraft wird, bedienen sich viele Unternehmen des „Verladers“ nur mehr über Zeitverträge: d. h. es wird eine Firma (one-man- or woman-show) engagiert, die die Verladerpflichten offiziell übernimmt, und wenn es nicht passt bzw. es zum Unfall kommt, auch die Strafpunkte bei Verstößen kassiert bzw. haftet. Inwieweit eine solche Vorgehensweise wider das ABGB ist, werden hierzulande, sollten solche Entwicklungen Platz greifen, die Juristen klären müssen.

Abfall und Gefahrgut: Es bleibt spannend

Das Thema „Abfall und Gefahrstoff- bzw. Gefahrgutrecht“ bleibt weiterhin spannend, da die Begriffe und Schutzziele auch international nicht harmonisiert sind und auch in Österreich zum Teil stark voneinander abweichen. Hier gibt es nur einen erfolgversprechenden Lösungsansatz für eine sichere und rechtskonforme Anwendung: Kommunikation aller beteiligten Verantwortlichen eines Unternehmens bzw. einer Transportkette und segmentielle Abarbeitung aller Fragestellungen gemäß den zutreffenden Vorschriften:

  • Stoff oder Gegenstand? Maschine?
  • Abfall oder wirtschaftlicher Einsatz?
  • Chemikalie mit speziell geltenden Vorschriften (Arzneimittelgesetz, Pflanzenschutzmittel, …)
  • Erleichterungen und/oder speziell gültige gesetzliche Regeln?
  • Welche Transportträger werden benutzt?
  • Wie sehen die nationalen Spezialvorschriften für den jeweiligen Fall aus? 

Gas: der spezielle Aggregatzustand

Den Abschluss der Veranstaltung bildete ein ausgezeichneter Experimentalvortrag von Ing. Georg Schröder von Air Liquide Düsseldorf. Hier wurde anschaulich gezeigt, wie wichtig die Physik nicht nur beim Transport, sondern auch beim Einsatz und sicherheitstechnisch richtigen Umgang mit diesen besonderen Produkten ist. Die wichtigsten zu bestimmenden Eckdaten sind an dieser Stelle kurz aufgelistet:

  • Ist das Gas/Gasgemisch leichter oder schwerer als Luft?
  • Welche chemischen Eigenschaften (brennbar, giftig, inert, oxidierend) besitzt das Gas/Gasgemisch?
  • Welche Kälte-Wärme-Effekte können bei (unsachgemäßer) Entnahme auftreten?
  • Was bedeutet Verflüssigung sicherheitstechnisch? (Bei 1 Liter flüssigem Stickstoff hat dies 690 Liter als Gasvolumen zur Folge, erstickendes Gas!)
  • Welche Rolle spielt der Sauerstoff – a.) als Gas, b.) in der Luft?

So wurde, ganz zum Schluss der Tagung, nochmals sogar praktisch vor Augen geführt, worum es bei den Vorschriften wirklich geht: Den Kern der Gefahr zu erkennen und die richtigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu treffen!

Zusammenfassung

Der Autor zieht ein Resümee der Münchner Gefahrguttage und berichtet pointiert über die jüngst beschlossenen Neuregelungen und Änderungen im internationalen Vorschriften-Dschungel.


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