Arbeitsstoffe
Was geht durch die Haut?
Seit September 2018 sind mehrere Arbeitsstoffe, darunter Xylole, nicht mehr als hautresorptiv markiert. Das hat gute Gründe und hilft der Prävention, sich auf relevante Risiken beim Hautkontakt mit Arbeitsstoffen zu konzentrieren. Am Grundsatz, dass jeder Hautkontakt mit Arbeitsstoffen ebenso wie deren Einatmung vermieden werden müssen, ändert sich nichts.
Seit der im September 2018 erfolgten Anpassung der österreichischen Grenzwerteverordnung (GKV) sind einige chemische Arbeitsstoffe nicht mehr mit „H“ als stark hautresorptiv markiert. Andererseits wurde die fehlende Markierung „H“ für einige als stark hautresorptiv erkannte Stoffe nachgetragen. Zu den bekannteren Arbeitsstoffen, deren frühere Markierung mit „H“ entfallen ist, gehören die Xylole, ein Diisocyanat, Phenoxyethanol, 2-Aminoethanol, Triethylamin, Chrom(VI)-Verbindungen oder das als mikrobiozider Zusatz verwendete „Kathon“. Bevor beispielhaft auf den Grund dafür, nämlich die geringe oder unbekannte Hautresorptivität dieser Stoffe, eingegangen wird, ist die Bedeutung und Abgrenzung der „H“-Markierung in Erinnerung zu rufen. Sowohl das „H“ wie auch das „S“ sind in der MAK-Werteliste (Anhang I zur GKV) als eine Zusatzinformation angegeben, die mit den Luftgrenzwerten nicht unmittelbar zu tun hat.
Die „S“-Markierung (für überdurchschnittlich sensibilisierend) hat eine völlig andere Bedeutung und darf mit „H“ nie verwechselt werden. Siehe die Übersichtstabelle. Vorsicht erfordert weiters der Umstand, dass in englischsprachigen Publikationen eine starke Hautresorptivität häufig mit „S“ (für skin) signalisiert wird.
Die Markierung mit „H“
Mit „H“ sollen in der MAK-Liste nur Arbeitsstoffe markiert sein, die in hohem Maße durch die menschliche Haut in den Körper eindringen können und im Körper danach systemisch verfügbar sind. Das „H“ soll primär vor einer unbemerkten, ohne Reizwirkung ablaufenden Hautaufnahme warnen. Wissenschaftlich betrachtet kann jeder chemische Stoff in die menschliche Haut eindringen und – sofern er nicht bereits in der Haut gebunden oder chemisch umgewandelt wird – diese durchdringen, im Körper verteilt und so systemisch verfügbar werden. Es wäre aber sinnlos, alle Stoffe als hautresorptiv mit „H“ zu markieren. Für die Praxis des Arbeitnehmerschutzes wird eine vernünftige Schwelle benötigt, ab welcher bei einem Arbeitsstoff vor der Gefahr einer starken Hautgängigkeit gewarnt werden soll. Die Forderung nach einer auf reale Resorptionsgefahren bei der Arbeit abgestimmten und möglichst nach Resorptionsstärke gestaffelten „H“-Markierung kommt auch von der International Commission on Occupational Health (ICOH) [1].
Die Grenzwerteverordnung selbst legt eine sehr hohe Schwelle fest, die allerdings „in Vergessenheit“ zu geraten scheint und kaum angewandt wird. § 9 GKV sagt nämlich, dass ein „H“ nur anzubringen ist, wenn bei der Verwendung des Stoffs die Gefahr der Aufnahme durch die Haut „wesentlich größer“ sein kann als seine Aufnahme durch Einatmung. Selbst wenn man von einer Verwendung unter mangelhaften Schutzmaßnahmen ausgeht, würden unter dieser extremen Vorgabe nur (sehr) wenige Stoffe mit „H“ markiert sein.
Praxisfremde Kriterien
Das entgegengesetzte Extrem verwendet die deutsche MAK-Kommission; als akademische Einrichtung erhebt sie freilich keinen Anspruch auf betriebliche Relevanz und Zweckmäßigkeit ihrer Kriterien. Nach ihrem Vorschlag werden Stoffe bereits dann mit „H“ markiert, wenn sie so schwach durch die Haut aufgenommen werden, dass „beide Hände und beide Unterarme eine Stunde lang“ mit dem Arbeitsstoff flächig benetzt sein müssen, damit 25 Prozent (oder mehr) der systemisch tolerablen Dosis durch die Haut in den Körper gelangen. Zur Erklärung der „systemisch tolerablen Dosis“ und der „Resorptionskraft“ eines Stoffes siehe den Infokasten.
Die Hautfläche beider Hände und beider Unterarme wird standardmäßig mit durchschnittlich 2.000 cm² angenommen. Vorausgesetzt wird weiters eine vollständige und „klatschnasse“ Flüssigkeitsumschließung der Haut, denn die dermal aufgenommene Menge wird aus Daten errechnet, die in Messungen mit einem großen Überschuss an resorbierbarem Stoff gewonnen wurden. Angenommen wird von der deutschen MAK-Kommission weiters eine (arbeitstägliche) Einwirkung in der Dauer von einer Stunde.
Ein derart großflächiger, intensiver, langdauernder und regelmäßiger Hautkontakt ist in entwickelten Industriestaaten unrealistisch; er ist selbst unter nicht optimalen Arbeitsbedingungen wirklichkeitsfremd. Sogar das – verbotene – Händewaschen mit Lösungsmittel würde nur zwei oder drei Minuten dauern.
Das Szenario „2.000 cm² Haut müssen eine Stunde benetzt sein, damit ein Viertel der tolerablen Dosis in den Körper aufgenommen wird“, bedeutet, dass auch sehr schwach hautgängige Arbeitsstoffe ein „H“ erhalten. Das würde die Anzahl der als hautresorptiv markierten Stoffe stark erhöhen. Eine Inflation von Stoffen, die mit „H“ markiert sind, verstellt jedoch den Blick auf jene – ebenso mit „H“ bezeichneten – Stoffe, die wirklich stark durch die Haut resorbiert werden. Das gilt besonders im Alltag der präventivdienstlichen Betreuung, in dem kaum Zeit bleibt, in Fachpublikationen nachzulesen. Notwendig ist daher eine an der realistischen Gefahr orientierte „H“-Markierung, die die Gefährdungsbeurteilung erleichtert.
Jede „H“-Markierung verlangt, dass die Beschäftigten über eine besondere Gefahr der Aufnahme durch die Haut ausdrücklich informiert werden, auch wenn eine solche Gefahr praktisch nicht gegeben ist. Allzu leicht geraten dann tatsächlich schwerwiegende Stoffeigenschaften, etwa Gefahren der Sensibilisierung, der Kanzerogenität oder der Reizwirkung, in den Hintergrund. Denn: „Wenn alles gefährlich ist, ist nichts gefährlich.“
Lösung abseits der Extreme
Deshalb ist es notwendig, das „H“ für Arbeitsstoffe zu reservieren, die unter realistischen, wenn auch nicht immer ganz einwandfreien Arbeitsbedingungen in gefährlicher Menge durch die Haut in den Organismus resorbiert werden können. Anzustreben ist eine Markierung nur jener Arbeitsstoffe als hautresorptiv, die eine sehr starke, starke oder zumindest recht beträchtliche Resorptionskraft aufweisen.
Wie stark muss also die „Resorptionskraft“, das heißt das Hautdurchdringungsvermögen, des Stoffs sein, damit ein warnendes „H“ unter praktischen Bedingungen nützlich und informativ ist? Das folgende Kriterium weist in die heutige Richtung; es soll zugrunde gelegt werden: Die Exposition von 1.000 cm² Haut (anstatt 2.000 cm²) für eine Stunde bewirkt, dass durch diese Einwirkung zumindest 25 Prozent der systemisch tolerablen Dosis des Arbeitsstoffs resorbiert werden.
Die genannten 1.000 cm² entsprechen der durchschnittlichen Hautfläche beider Hände.
Dieses Kriterium geht noch immer von einem sehr heftigen „Worst Case“ aus: beide Hände eine Stunde lang mit dem Arbeitsstoff benetzt, und das praktisch jeden Arbeitstag. Viele Praktikerinnen und Praktiker des Arbeitnehmerschutzes werden einwenden: Eine Stunde lang arbeiten mit völlig durchfeuchteten Handschuhen an beiden Händen – das haben wir schon vor Jahrzehnten abgestellt! Ja, das Szenario ist noch immer drastisch. Aber es vermeidet die Kritik, man habe ignoriert, dass es noch einzelne Arbeitsplätze geben könnte, die an das Mittelalter erinnern. Eine niederländische Arbeitsgruppe schlägt alternativ folgendes Expositionsszenario vor: 360 cm² Hautfläche (etwa eine Handinnenfläche) achtmal pro Tag für drei Minuten exponiert [2].
Beispiele für Arbeitsstoffe, bei denen eine „H“-Markierung nicht zutrifft:
Beispiel Xylole
Ortho-, meta- und para-Xylol haben sehr ähnliche Eigenschaften und werden im Folgenden als „Xylol“ bezeichnet. Die Hautresorptivität von Xylol wurde an freiwilligen Probanden untersucht. Anders als bei vielen Arbeitsstoffen ist man bei Xylol nicht auf Daten aus Tiermodellen angewiesen, die oft nur schwierig auf den Menschen zu übertragen sind. Die voneinander unabhängigen Humanstudien ergaben eine dermale Xylol-Aufnahme von 0,120 bis 0,147 mg pro cm² und Stunde [3]. Wenn eine Hautfläche von 1.000 cm² (also etwa die Fläche beider Hände) eine Stunde lang mit Xylol benetzt wird, gelangen somit etwa 140 mg in den Körper.
Nach einer weiteren Probandenstudie [2] wäre unter denselben Umständen eine resorbierte Menge von 290 mg zu erwarten. Diese Dosis wurde mithilfe anderer experimentell gewonnener Humandaten errechnet, wobei jedoch diverse Annahmen zu treffen waren, Korrekturen unterblieben und auffällt, dass die mit dieser Methode gefundene Resorption auch bei anderen Stoffen weitaus höhere Resorptionsraten liefert, als sie in konventionellen Studien für diese Stoffe ermittelt werden.
Die dermal resorbierte Xylol-Menge ist mit der systemisch tolerablen Dosis (siehe Infokasten) von Xylol zu vergleichen. Diese beträgt 2.650 mg pro Arbeitstag [3]. Mit anderen Worten: Nach gegenwärtigem Kenntnisstand ist es gesundheitlich unbedenklich, wenn an jedem Arbeitstag 2.650 mg Xylol in den Organismus aufgenommen werden, zum Beispiel durch Einatmung. Der als Konvention herangezogenen 25-Prozent-Schwelle entsprechen rund 660 mg Xylol. Selbst unter der überspitzten Annahme, dass beide Hände eine Stunde lang mit Xylol benetzt sind, werden dermal nur etwa 140 bis 290 mg Xylol resorbiert. Das sind 5 bis 11 Prozent der systemisch tolerablen Dosis. Auch die wahrscheinlich zu hoch errechnete Hautaufnahme von 290 mg liegt noch weit unter der 25-Prozent-Schwelle. Eine Markierung mit „H“ gäbe wegen der schwachen Resorptionskraft von Xylol ein falsches Zeichen und unterbleibt daher.
Sogar nach den praxisfremden deutschen Kriterien (siehe oben), nach denen ein Stoff bereits dann ein „H“ erhielte, wenn dieser so schwach durch die Haut aufgenommen wird, dass „beide Hände und beide Unterarme eine Stunde lang“ mit dem Arbeitsstoff flächig benetzt sein müssen, damit wenigstens 25 Prozent der systemisch tolerablen Dosis durch die Haut in den Körper gelangen, erhielte Xylol kein „H“. Gegen die Möglichkeit einer unbemerkten einstündigen Einwirkung von Xylol spricht die hautreizende Wirkung von Xylol: Bereits nach zehn Minuten Hautkontakt berichteten Versuchspersonen von deutlicher Hautreizung. Manchmal wird behauptet, Xylol werde im Laufe eines Arbeitstages aus der Xylol-haltigen Luft erheblich durch die Haut resorbiert. Das ist falsch. Selbst wenn eine Person sich wenig bekleidet acht Stunden in einer Atmosphäre aufhält, die Xylol in der Konzentration des zweifachen österreichischen MAK-Werts enthält, wird weniger als ein Prozent der systemisch tolerablen Dosis aufgenommen. Die dermale Aufnahme aus der Luft ist irrelevant [3].
Weitere Stoffe mit geringer Hautresorptivität
Als „hautresorptiv“ soll, wie oben ausgeführt, ein Stoff gelten, wenn bei einstündiger Hautexposition durch 1.000 cm² (= beide Hände des/der Arbeitenden) 25 Prozent (oder mehr) der systemisch tolerablen Dosis des Stoffs dermal aufgenommen werden. Dieses Szenario ist als ein seltener Worst Case anzusehen. Wenn also selbst unter so katastrophalen Verhältnissen die dermal aufgenommene Menge unter 25 Prozent der systemisch tolerablen Dosis bleibt, ist eine „H“-Markierung keinesfalls argumentierbar. Für einstündigen Kontakt mit 1.000 cm² Haut findet man beispielsweise folgende dermale Aufnahme in Prozent der systemisch tolerablen Dosis:
- 2-Phenoxyethanol [4] 4,2% bis 5,3%
- tert-Butanol [5] 1,8%
- 2-Ethylhexanol [6] etwa 1,4%
- 1,3-Dihydroxybenzol [7] etwa 0,4%
Die „H“-Markierungen waren daher zu streichen. Weitere Stoffe sollten diesbezüglich geprüft und, wenn erforderlich, angepasst werden.
Beispiel CMIT/MIT (Isothiazolinone)
Das Gemisch aus Chlormethylisothiazolinon (CMIT) und Methylisothiazolinon (MIT) hat mikrobiozide Wirkung und wird unter verschiedenen Handelsnamen (z. B. „Kathon“) in niedriger Konzentration als Konservierungsmittel zu Reinigern, Kühlschmierstoffen, Farben, Klebstoffen, Dichtmassen etc. beigegeben. Dieser Zusatz bewirkt auch in (sehr) niedriger Konzentration Sensibilisierungen der Haut und kann schwere allergische Hautreaktionen auslösen. Durch die Haut hingegen wird CMIT/MIT nicht resorbiert. Die Markierung mit „Sh“ (hautsensibilisierend) ist zutreffend und wichtig. Eine faktenwidrige Markierung mit „H“ würde hingegen von der tatsächlichen Gefahr ablenken und entfällt.
Beispiel Diisocyanate
Diisocyanate werden nicht durch die Haut resorbiert. Methylendicyclohexyldiisocyanat (HMDI) kann wie alle technisch eingesetzten Diisocyanate (z. B. MDI, HDI, TDI) allergische Reaktionen der Atemwege (Asthma) erzeugen. Nach heutigem Wissen erfolgt die Sensibilisierung durch (intensiven) Hautkontakt mit dem Diisocyanat – nicht aber durch Hautresorption! Nachdem durch Hautkontakte die Sensibilisierung angebahnt ist, kann eine spätere, weit über dem Luftgrenzwert liegende, inhalative Belastung die Atemwegsallergie auslösen [8]. Die wichtigste Maßnahme gegen die Entstehung von Isocyanat-Asthma liegt – neben der Einhaltung der MAK-Werte – in der Vermeidung jedes Hautkontakts!
Die deutsche MAK-Kommission markiert seit 2007 auch Stoffe, die durch Haut-Kontakt eine Atemwegs-Sensibilisierung induzieren können, mit „H“. Als wichtigste Vertreter betrifft dies die Diisocyanate, die zu Recht bereits die Markierung „Sa“ oder „Sah“ tragen. Die Markierung nicht hautresorptiver Stoffe als hautresorptiv erscheint für die Arbeit der Präventivdienste jedoch nicht als hilfreich, sondern verwirrt. Auch hier gilt: Durch die Vermehrung der Verkehrszeichen wird eine gefährliche Straße nicht sicherer, noch dazu wenn es sich um unzutreffende Verkehrszeichen handelt. In der GKV war das irrtümlich übernommene „H“ bei Methylendicyclohexyldiisocyanat (HMDI) zu streichen.
Beispiel Hautreizstoffe
Arbeitsstoffe, die auf die Haut reizend oder gar ätzend wirken, sind nicht mit „H“ zu markieren. Diese Unterlassung ist zweckmäßig, weil „H“ vor allem vor der Gefahr unbemerkter gefährlicher Hautresorption warnen soll. Hautreizung und -ätzung gehen mit Schmerzwahrnehmung einher. Auch geschieht durch entzündete Haut jede Resorption automatisch wesentlich rascher, sodass einem „H“ keine Aussagekraft zukäme. In der Frühzeit der österreichischen MAK-Liste wurden irrtümlich vereinzelt Stoffe wegen ihrer hautreizenden oder hautschädigenden Wirkung mit „H“ versehen, da die Stofflisten einiger Staaten auch hautreizende Stoffe als „hautresorptiv“ angeben [9; 1]. Zu berichtigen waren beispielsweise die Einträge für 2-Aminoethanol, Triethylamin, Cyclohexylamin und Acrylaldehyd. Die Reiz- oder Ätzwirkung eines Arbeitsstoffs an der Haut erkennt man an seiner chemikalienrechtlichen Kennzeichnung mit „H315 Verursacht Hautreizungen“ oder „H314 Verursacht schwere Verätzungen der Haut und schwere Augenschäden“. Es ist ein ungünstiger Zufall, dass sowohl die H-Sätze der Chemikalien-Kennzeichnung („hazard statements“) wie auch die „H“-Markierung den Buchstaben H aufweisen, obwohl sie nichts miteinander zu tun haben.
Selbstverständlich erfordern die chemikalienrechtlichen H-Sätze eine entsprechende Unterweisung der Betroffenen und gegebenenfalls maßgeschneiderte Schutzmaßnahmen.
Unzuverlässige Resorptionsdaten
Für viele chemische Arbeitsstoffe sind Daten zur Hautgängigkeit weder aus Humanstudien noch aus Tierversuchen zugänglich. Die deutsche MAK-Kommission versucht diese Lücke auf problematische Weise zu schließen. Aus der Vielzahl von mathematischen Vorhersagemodellen für die Hautresorption wählte sie drei Theorien, deren Ergebnisse über die Markierung/Nichtmarkierung eines Stoffs mit „H“ entscheiden sollen. Dies mag als Versuchsfeld für die Erprobung akademisch-wissenschaftlicher Modelle interessant sein. Für eine „H“-Markierung mit betrieblich-praktischer Verbindlichkeit und rechtlicher Konsequenz sind solche Theorien jedoch leider untauglich. Die errechneten Ergebnisse für die Stärke der Hautresorption unterscheiden sich nämlich im „besten“ Fall um einen Faktor von etwa 20 (!) voneinander. Nicht selten divergieren die berechneten Resorptionsraten um das 100-Fache oder mehr. Größer noch und ebenfalls unvorhersehbar ist die Abweichung der berechneten von den experimentell ermittelten Daten (sofern solche vorhanden sind). In einem Vergleich mathematisch modellierter mit tatsächlich gemessenen Resorptionsraten kommen die Autoren zum Ergebnis, dass die derzeit vorhandenen mathematischen Modelle für Entscheidungen im Rahmen der Risikobeurteilung nicht brauchbar sind [10].
Dieser Schlussfolgerung ist zuzustimmen. „H“-Markierungen, die ausschließlich auf so unsicheren mathematischen Modellen beruhen, sind für eine rechtlich tragfähige Aussage (GKV) nicht akzeptierbar. Im Fall von Butandion divergieren die Modellrechnungen für die Hautresorptionsraten um 1.300 Prozent, bei Butindiol-1,4 sind es 800 Prozent. Dies lässt eine Entscheidung „H – ja oder nein“ nicht zu. In der erwähnten Studie [10] wichen Modellergebnisse bis zum 413-Fachen von der gemessenen Resorptionsrate ab.
Resümee
In der GKV waren und sind zum Teil Arbeitsstoffe mit einem „H“ versehen, die nur sehr schwach durch die Haut resorbiert werden, sowie – aufgrund von Fehlern in der Vergangenheit – solche, die akut hautreizend oder ätzend sind, sowie weiters Stoffe, deren Hautresorption unbekannt und ungewiss ist. Deshalb war in einem ersten Berichtigungsschritt bei einigen schwach hautgängigen Arbeitsstoffen oder solchen ohne belastbare Daten zur Hautresorption die Markierung „H“ zu entfernen.
Möglicher Hautkontakt: Was tun?
Auch bei Arbeitsstoffen, die kein „H“ tragen, ist selbstverständlich jeder Hautkontakt zu vermeiden. Man denke nur an Haut entfettende, reizende, sensibilisierende oder krebserzeugende Stoffeigenschaften. Entsprechende Maßnahmen sind zu planen und durchzuführen. Dabei ist nach dem STOP-Prinzip vorzugehen.
Stets ist betroffene Haut sofort zu reinigen, Abwischen ist zu wenig. Die Reinigung sollte zuerst kalt erfolgen, da Wärme die Hautdurchblutung und damit eine mögliche Resorption steigert. Die potenziell Betroffenen sind zu unterweisen, dass sie kontaminierte Kleidung sofort wechseln müssen. Dazu muss frische Kleidung allerdings verfügbar sein. Nicht zu vergessen ist die Festlegung von Notfallmaßnahmen sowie deren innerbetriebliche Vermittlung und erforderlichenfalls Übung, beginnend bei funktionierenden Notduschen bis hin zu Anleitungen und Hilfsmitteln für Einsatzkräfte und Notarzt, die auch in der Nachtschicht bereitstehen müssen. Die Beschäftigten müssen wissen, wie im Fall eines auch großflächigen Hautkontakts mit dem jeweiligen Stoff vorzugehen ist. Es empfiehlt sich, dies auch in den schriftlichen Betriebsanweisungen für gefährliche Arbeitsstoffe darzustellen. Liegt der hautresorptive Stoff gelöst vor, bewirkt das Verdunsten des Wassers oder Lösemittels ein Aufkonzentrieren und damit eine stärkere Penetration.
Bei Gemischen ist die Hautresorption in der Regel umso geringer, je geringer die Konzentration des problematischen Stoffs in der Mischung oder Lösung ist. Wenn aber das Lösungsmittel („Vehikel“) die Haut reizt oder gut in die Haut eindringt, wird der in diesem gelöste Stoff mittransportiert. Diesen Schleppeffekt beobachtet man beispielsweise bei Dimethylsulfoxid (DMSO), Dimethylformamid (DMF) oder Propylenglykol.
Kennzeichnung beachten
Die chemikalienrechtlichen H-Sätze haben mit dem „H“ in der MAK-Liste nur zufällig den Buchstaben gemeinsam. Bei der Gefährdungsbeurteilung sind diese H-Sätze stets zu berücksichtigen; man findet sie auf dem Kennzeichnungsetikett und im Sicherheitsdatenblatt. Siehe die schon erwähnten Sätze „H315 Verursacht Hautreizungen“ oder „H314 Verursacht schwere Verätzungen der Haut und schwere Augenschäden“.
Nur sehr unscharfe Hinweise gewinnt man hingegen aus den H-Sätzen „H311 Giftig bei Hautkontakt“ und „H310 Lebensgefahr bei Hautkontakt“. Beispielsweise wird H310 angegeben, wenn im Tierversuch mit Ratten (deren Haut für die meisten Stoffe viel durchlässiger ist als Humanhaut) weniger als 200 mg pro kg Körpergewicht (Ratte) ausreichen, um bei 24-stündiger dermaler Einwirkung 50 Prozent der Versuchstiere zu töten.
Spritzer auf die Haut
Zufällige kurze Hautkontakte, wie Spritzer, sind hinsichtlich der Hautresorption weitaus weniger bedenklich als großflächige oder okklusive oder längerdauernde Einwirkungen auf die Haut. Resorptionsraten werden experimentell zumeist unter Überschussbedingungen sowie unter Verhindern des Verdampfens (d. h. okklusiv) und langzeitig, d. h. nach Erreichen der Steady-state-Resorptionsrate, gemessen. Auch kann die Hautresorption wegen der Entfettungs- und/oder Reizwirkung mit der Dauer der Einwirkung zunehmen. All diese Bedingungen liegen beim kurzem Hautkontakt, dem rasch die Reinigung folgt, nicht vor. Liegt die Hautfläche frei, verdunstet außerdem schnell ein sehr großer Teil der auf die Haut gespritzten Flüssigkeit, wenn diese einigermaßen flüchtig ist.
Schutzhandschuhe müssen entsprechend der Eignung und Durchbruchszeit ausgewählt werden. Eine Hilfestellung bieten Listen der Hersteller. Da das langzeitige Tragen von dichten Handschuhen die Haut belastet sowie die Resorption von eventuell durch das Handschuhmaterial gedrungenen Stoffen bewirken kann, empfiehlt die DGAUM-Richtlinie [11]: „In bestimmten Fällen kann nach Abwägung der Gefährdungen ein Verzicht auf das Tragen von Handschuhen eine geringere Belastung darstellen als gelegentlicher, kleinflächiger und kurzzeitiger Hautkontakt, wenn die sofortige Reinigung der betroffenen Hautstellen gewährleistet ist.“
QUELLEN:
- [1] Sartorelli, P., Ahlers, H.W., Alanko, K., Chen-Peng, C., Cherrie, J.W., Drexler, H., Kezic, S., Johanson, G., Larese Filon, F., Maina, G., Montomoli L., Nielsen, J.B. (2007), How to improve skin notation. Position paper from a workshop. Regul Toxicology Pharmacology, 49, 301–307.
- [2] Kezic, S., Monster, A.C., van de Gevel, I.A., Krüse, J., Opdam, J.J.G., & Verberk, M.M. (2001), Dermal absorption of neat liquid solvents on brief exposures in volunteers. AIHAJ – American Industrial Hygiene Association, 62(1), 12–18.
- [3] Xylol (alle Isomeren). Toxikologisch-arbeitsmedizinische Begründungen von MAK-Werten. Nachtrag 1998. 27. Lieferung, 1998.
- [4] 2-Phenoxyethanol. MAK Value Documentation in German Language. The MAK Collection for Occupational Health and Safety 2017, Vol 2 (No 2), 836– 877.
- [5] tert-Butanol. Toxikologisch-arbeitsmedizinische Begründungen von MAK-Werten. 56. Lieferung, 2014.
- [6] 2-Ethylhexanol. Toxikologisch-arbeitsmedizinische Begründungen von MAK-Werten. 30. Lieferung, 2000 (sowie Nachtrag 2006, 41. Lieferung, und Nachtrag 2012, 53. Lieferung)
- [7] Resorcin. Toxikologisch-arbeitsmedizinische Begründungen von MAK-Werten. 35. Lieferung, 2002.
- [8] Pauluhn J. (2013), Tiermodell zur Bestimmung der Asthma-Auslöseschwelle von Diisocyanaten und ihre Relevanz für die Ableitung von Arbeitsplatzgrenzwerten. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed, 48, 120–129.
- [9] Nielsen J.B., Grandjean P. (2004), Criteria for Skin Notation in Different Countries. Am J of Ind Med, 45, 275–280.
- [10] Korinth G., Schaller K.H., Bader M., Bartsch R., Göen T., Rossbach B., Drexler H. (2012), Comparison of experimentally determined and mathematically predicted percutaneous penetration rates of chemicals. Archives of Toxicology, 86, 423–430.
- [11] Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (2014), Arbeitsmedizinische Leitlinie „Toxische Gefährdung durch Hautresorption“. S1-Leitlinie 002/037.
Weiterführende Informationen beispielsweise in: WHO-Report 235„Dermal Absorption“
„Systemisch tolerable Dosis“ und „Resorptionsrate“
Jeder Arbeitsstoff hat eine unterschiedliche Schädigungswirkung („Giftigkeit“), egal ob er nach Einatmen oder nach Aufnahme durch die Haut oder durch Verschlucken im Körper („systemisch“) verteilt wird. Die insgesamt in den Körper gelangende Menge, die über viele Jahre an jedem Arbeitstag aufgenommen werden „darf“, ohne Gesundheitsschäden zu verursachen, heißt systemisch tolerable Dosis.
Ausnahme: Toxikologisch nicht maßgeblich ist die systemisch tolerable Dosis für Schädigungen, die von lokal wirksamen Stoffen hervorgerufen werden, also von reizenden oder ätzenden Stoffen. Diese entfalten ihre Wirkung am Ort des Kontaktes (z. B. Schleimhaut, Atemwege, Haut); ihre Verteilung im Körper ist dafür irrelevant. Bei einem lokal wirkenden Stoff kann der MAK-Wert von der Reizschwelle bestimmt sein, während die systemisch tolerable Dosis für denselben Stoff einen weitaus höheren MAK-Wert zuließe.
Für die potenzielle dermale Aufnahme eines Arbeitsstoffs lautet die Frage: Wie stark muss die „Resorptionskraft“, also das Hautdurchdringungsvermögen, des Stoffs sein, damit ein warnendes „H“ unter praktischen Bedingungen nützlich und notwendig ist?
Die „Resorptionskraft“ wird ausgedrückt durch die sogenannte Resorptionsrate. Diese beschreibt die resorbierte Menge pro Zeiteinheit und Hautfläche. Sie wird z. B. in Mikrogramm pro cm² und Stunde angegeben. Die Resorptionsrate entscheidet über die resorbierte Menge, die – wie ersichtlich – außerdem noch von der Hautfläche und der Einwirkungszeit abhängt. Die resorbierte Menge eines Arbeitsstoffs für sich allein hat aber noch keine Aussagekraft. Sie kann nur in Bezug auf die systemisch tolerable Dosis des betreffenden Arbeitsstoffs beurteilt werden.
Die hohe dermale Aufnahme eines Stoffes kann unbedenklich sein, wenn seine systemisch tolerable Dosis gleichfalls hoch ist. Handelt es sich jedoch um einen stärker toxischen Stoff, dessen systemisch tolerable Dosis dementsprechend kleiner ist, kann dieselbe dermale Aufnahmemenge bereits einen hohen Prozentsatz der systemisch tolerablen Dosis in den Körper einbringen. Im zuletzt genannten Fall kann die Hautresorption eine relevante Gefahr darstellen.
Beispiel: Butyldiglykol hat eine systemisch tolerable Dosis von etwa 3.500 mg pro Arbeitstag, Anilin jedoch eine von nur etwa 80 mg. Beide Stoffe haben ähnliche Resorptionsraten: Butyldiglykol etwa 0,6 mg/(cm²·h), Anilin etwa 0,73 mg/(cm²·h). Bei gleicher Hautfläche (1.000 cm²) und Expositionszeit (1 Stunde) werden daher 600 mg Butyldiglykol bzw. 730 mg Anilin dermal in den Körper aufgenommen. Für Butyldiglykol sind das 17 Prozent der systemisch tolerablen Dosis, für Anilin jedoch das 9-Fache (910 Prozent!) der systemisch tolerablen Dosis.
Arbeitsstoffe, deren Hautresorption selbst bei sehr ungünstiger Arbeitshygiene nur einen eher geringen Prozentsatz (≤ 25 Prozent) der systemisch tolerablen Dosis ausmacht, benötigen kein „H“ (Beispiel Butyldiglykol). Bei anderen Arbeitsstoffen (Beispiel Anilin) soll das „H“ hingegen eine ernste Warnung vermitteln.
Hautresorptivität und VGÜ-Untersuchung
Die Durchführung einer medizinischen Untersuchung nach der Verordnung Gesundheitsüberwachung (VGÜ) ist an Voraussetzungen gebunden: Eine Gesundheitsüberwachung ist nur durchzuführen, wenn (a) aufgrund der konkreten Tätigkeit die Gefahr einer Berufskrankheit besteht und (b) im Hinblick auf die spezifische mit dieser Tätigkeit verbundene Gesundheitsgefährdung der arbeitsmedizinischen Untersuchung prophylaktische Bedeutung zukommt (§ 49 ASchG). Diese Entscheidung ist auf Grundlage der Ermittlung und Beurteilung der Gefahren („Evaluierung“) sowie von Messungen und Bewertungen zu treffen (§ 6a VGÜ). Die genannten Kriterien, die oft wenig beachtet werden, müssen erfüllt sein, bevor der/die ArbeitgeberIn für eine/n ArbeitnehmerIn eine VGÜ-Untersuchung anordnet.
Bei der Beurteilung sollte sich der Betrieb mit seinen Präventivkräften beraten. Insbesondere ArbeitsmedizinerInnen sind qualifiziert, sich in Kenntnis der genauen Arbeitsvorgänge und -bedingungen darüber fachlich ein Bild zu machen, ob (a) tatsächlich die Gefahr einer Berufskrankheit besteht und (b) außerdem die Untersuchung prophylaktische Bedeutung hat. Nur wenn beides gegeben ist, kann eine – immerhin die freie Entscheidung des Betroffenen ausschaltende – körperliche Untersuchung gerechtfertigt und angebracht sein.
Die manchmal geäußerte Ansicht, eine VGÜ-Untersuchung sei geboten, sobald ein Arbeitsstoff mit „H“ markiert ist, ist falsch. Die Durchführung einer medizinischen Untersuchung, unabhängig vom Ausmaß der dermalen Einwirkung, bloß weil der Arbeitsstoff ein „H“ trägt, würde zu absurden Untersuchungen führen, die schon deshalb dem ASchG widersprechen, weil bei insgesamt mäßigem Hautkontakt weder die Gefahr einer Berufskrankheit argumentierbar ist noch die Untersuchung ein interpretierbares Ergebnis erwarten lässt. Nach dieser Fehlauslegung würde ein „H“ ja selbst dann Untersuchungen bewirken, wenn gar kein Hautkontakt besteht. Auch formal gesehen vermag eine Verordnung (VGÜ) die vom Gesetz vorgegebenen Schranken nicht aufzuheben, die noch dazu im § 6a Abs. 1 der VGÜ bestärkt werden.
Der vom Zentral-Arbeitsinspektorat veröffentlichte Erlass vom 20.5.2014 zur VGÜ 2014 fordert im Einzelfall des Hautkontakts, Folgendes zu ermitteln und zu berücksichtigen: „Das Ausmaß des Hautkontakts ist festgelegt durch die Fläche der betroffenen Körperteile sowie die Häufigkeit und Intensität des Kontakts und ist durch eine Analyse der Tätigkeiten bzw. des Arbeitsverfahrens zu ermitteln. Zu berücksichtigen ist die auf die Haut einwirkende Stoffmenge einschließlich der Konzentration.“ Diese Anordnung unterstreicht, dass vor einer VGÜ-Untersuchung eine genaue Evaluierung auch dahingehend durchzuführen ist, ob eine Untersuchung nach den Vorgaben des ASchG und des § 6a VGÜ notwendig ist oder nicht. Körperliche Untersuchungen aus „Tradition“, „versuchsweise“ oder „weil man glaubt, sich dann sicherer zu fühlen“, sind durch das Gesetz nicht gedeckt. Nicht sorgfältig gerechtfertigte „Zwangsuntersuchungen“ verbieten sich schon wegen der möglichen rechtlichen Folgen für die betroffenen ArbeitnehmerInnen, die ArbeitgeberInnen und, nicht zuletzt, für unvorsichtige ArbeitsmedizinerInnen.
Vom toxikologischen Standpunkt aus kann eine Gesundheitsüberwachung angebracht sein, wenn das Expositionsausmaß die Höhe des MAK-Werts (genauer: die Höhe der täglichen systemisch tolerablen Dosis) überschreitet. Maßgeblich ist die Summe der dermal und der inhalativ aufgenommenen Mengen des Arbeitsstoffs. Die MAK-Werte für resorptiv wirksame Arbeitsstoffe berücksichtigen jene arbeitstäglich (inhalativ und/oder dermal in den Körper aufgenommene) zulässige systemisch tolerable Dosis, die auch über Jahre keine Gesundheitsschädigung bewirkt.
Jede Präventivfachkraft weiß natürlich: Wenn ein häufiger Hautkontakt mit dem Arbeitsstoff vorkommt oder der Luftgrenzwert überschritten ist, ruft man nicht nach medizinischer Untersuchung der Betroffenen, sondern setzt alle Hebel in Bewegung, um den Arbeitsvorgang so zu gestalten, dass er ohne Hautkontakt (sowie ohne inhalative Belastung) sicher durchgeführt werden kann.
Zusammenfassung
Seit September 2018 sind einige Arbeitsstoffe in der österreichischen MAK-Liste nicht mehr als hautresorptiv gekennzeichnet, weil sie nur sehr schwach durch die Haut resorbiert werden oder zuverlässige Daten fehlen. Kriterien für eine Praxis konforme „H“-Markierung sowie Empfehlungen für die Prävention beim Umgang mit hautresorptiven Arbeitsstoffen werden gegeben.