Chemie
Chemical Leasing: Mehr als nur ein Schlagwort!
Mit Chemical Leasing wird ein neues, höchst integratives Geschäftsmodell zunehmend auch in Österreich bekannt. Doch was genau steckt hinter diesem Begriff?
Nein, geneigter Leser, natürlich ist mit Chemical Leasing nicht die chemische Industrie des 23. Wiener Gemeindebezirks (Liesing) gemeint!
Chemical Leasing: Was ist denn das schon wieder?
Obwohl seit über einem Jahrzehnt etabliert, ist der Kenntnis- und Wissensstand selbst in Fachkreisen kaum vorhanden bis simpel ganz falsch. In einer Befragung war nur rund einem Drittel der Unternehmen Chemical Leasing bekannt, und davon wiederum brachten nur 22 Prozent dieses Thema in Zusammenhang mit einem funktionsbasierten Geschäftsmodell. Es handelt sich dabei im Kern nicht nur um die kommissionshafte Nutzung einer bestimmten benötigten Chemikalienmenge, sondern um ein ganz bestimmtes, im höchsten Maß integratives Geschäftsmodell, das jedoch bei mangelnder Erfahrung auch seine Tücken haben kann.
Prozessbewertung und -verbesserungen aller Parameter
Der integrative Ansatz geht weit über die benötigte Menge an chemischen Produkten hinaus: Es geht um den Produktionseinsatz von Energie, Wasser, Technologie und Know-how zur Herstellung eines vorher definierten Produktions- oder Dienstleistungserfolgs.
In diesem Umstand liegt schon einerseits ein wesentlicher Schlüssel zum Erfolg, anderseits auch der Grund für manches Scheitern: Die Frage: Was benötige ich wirklich, und woran werde ich erkennen, dass ich es erreicht habe? Hierfür werden sogenannte KPIs definiert, also Key-Performance-Indikatoren, die von Projekt zu Projekt unterschiedlich sind, ja sogar sein müssen, und die im weitesten Sinn die Grundlage für Vertragserfüllung und Finanzströme darstellen.
Gezahlt wird also primär nicht die Reinigungschemikalie, sondern die gereinigte Fläche, deren Reinheitsanforderung zu Beginn zu definieren ist. Es eignet sich nicht jeder Prozess bzw. jede Branche ideal für solche Vorgehensweisen. Jedoch gibt es sehr gute Erfahrungen in den Bereichen Metall-Schmierprozesse, Beizprozesse, Entfettungen, Wasseraufbereitung, Abwasserbehandlung, Abgasreinigung und Katalyse.
Gegenseitiges Vertrauen bei der Prozesshoheit und -gestaltung
Bei der Zusammenarbeit der jeweiligen Lieferanten bzw. Anbieter und der Anwender bzw. Nutzer auf der anderen Seite zeigten sich in der Praxis nicht ganz auf der Hand liegende, jedoch sehr positive Erkenntnisse: Chemical Leasing funktioniert nur auf Basis von zum Teil tiefgehendem Vertrauen, d. h. der Anwender/Nutzer muss schon aus technologischer Sicht tiefgehende Einblicke in sein Verfahren geben, um eine neue Betrachtungsweise überhaupt zu ermöglichen und zuzulassen. Das bedingt natürlich auf der Gegenseite ein hohes Maß an Diskretion und in der gegenseitigen Vertragsgestaltung neben der Definition der finanziell-wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren auch sanktionsbehaftete Vertrauensverletzungen.
Chemical Leasing ist also weder das bloße Nutzen von Chemie bei Bedarf, noch ist es ein kompletter Auslagerungsprozess im Sinne einer Verselbstständigung von Teilproduktionen. Die Kernverantwortung bleibt beim Anlagenbetreiber!
Kernverständnis ist jedoch nicht ein nur kurzfristiges wirtschaftliches Antworten auf einen momentanen Bedarf oder eine Störung, sondern ein zum Teil sehr langfristiger Nutzungsansatz. Der Total Cost of Ownership eines Prozesses kann bis zu einem 10-Jahres-Ansatz reichen. Kreislaufwirtschaft, Nachhaltigkeit und Verbesserung bzw. Erneuerung von verfahrenstechnischen Prozessen ergeben zum Teil gewaltige Einsparungsmöglichkeiten.
Kompetente Beratung und Unterstützung wird benötigt!
Als äußerst interessantes Ergebnis einer Befragung von beteiligten Unternehmen und somit Anwendern dieses Geschäftsmodells stand nicht so sehr finanzielle Projektunterstützung an erster Stelle, sondern der Wunsch nach tiefgreifender Fachberatung und Expertise. Hat sich in früheren Jahren der Lieferanten-Kunden-Kontakt auf die bloße Warenlieferung beschränkt, ist jetzt (und speziell hier!) ein Know-how-Transfer gefragt, der in Einzelfällen sogar zum Technologiewechsel führen kann bzw. wird.
Die Erkenntnisse vieler praktischer Projekte in global tätigen Unternehmen haben gezeigt, dass eine Chemikalie, zumindest in Zentraleuropa, noch immer nicht die Aufmerksamkeit erhält, die ihr gebührt: Dem Dihydrogenmonoxid, besser als Wasser bekannt, gilt in der Süßwasservariante in Zukunft vermehrtes Augenmerk! Wegen mangelnder Kühlung bzw. Kühlmöglichkeit müssen Produktionsprozesse gedrosselt werden, kann die Schifffahrt weder Rohstoffe bringen oder Produkte liefern. Dies mussten 2018 nicht nur Chemiebetriebe am Rhein erfahren! Die Aufbereitung von Abwasser, der effektive Wasserhaushalt eines Unternehmens im Sinne einer Kreislaufwirtschaft ist heute ein wesentlicher Erfolgsbestandteil geworden.
People, Planet, Profit: ein fragiles unbekanntes Gleichgewicht!
Im modernen Management finden sich (und nicht nur dort!) beim Chemical Leasing Balanceanforderungen für die drei Ps der Zukunft wieder: People, Planet und Profit (wie könnte es bei Letzterem denn anders sein?). Jedoch wächst zunehmend das Verständnis, dass es sich dabei um ein empfindliches und labiles Gleichgewicht zwischen diesen Bereichen handelt: Will man auf lange Sicht Gewinne einfahren, muss auch in die anderen Segmente reinvestiert werden! Eigentlich simpel und anscheinend gerade deswegen so schwierig.
Weniger Arbeitsunfälle – besseres Gesamtergebnis!
Das vermehrt notwendige Vertrauen der – juristisch etwas spitz formuliert – „an der Handlung beteiligten Personen“ hat auch noch einen vordergründig überraschenden, aber äußerst positiven Aspekt: Die Arbeitsunfälle bei Unternehmen, die Chemical Leasing anwenden, gehen zurück und sind weniger schwer.
Das scheinbare Paradoxon ist rasch geklärt: Fast zwangsweise müssen sich alle Beteiligten mit den Eigenschaften von Produkten und den Risiken von Prozessen auseinandersetzen. In manchen dem Autor bekannten Fällen reicht ja schon gegenseitiges Zuhören! Als sehr positives Resultat solcher Verbesserungsprozesse scheint am Ende ein beherrschtes technologisches Vorgehen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu stehen, die mit höherem Kenntnisstand auf Restgefährdungen besser reagieren können. Chemical Leasing fördert jedenfalls nicht nur den Gedanken der Kreislaufwirtschaft, sondern ist mit ein Grundbaustein dieses technologisch-wirtschaftlichen Verbesserungsansatzes. Prozesse sollen eben nicht nur optimiert werden, sondern im Sinne eines Gebrauchens und Verwendens auf einen möglichst langen Zeitraum hin entwickelt werden. Das zugehörige Wirtschaftsfachvokabel, der Total Cost of Ownership, spiegelt das Ergebnis dieser mehr oder weniger gelungenen Anstrengungen wider.
Zukunft: Wissen ist Macht, und Wissen macht᾿s aus!
Durch das Hinterfragen klassischer Bewertungsparameter in Richtung nutzenorientierter Bezahlung werden in Zukunft technologische Bewertungen in ihrer Gesamtheit eine wesentlich größere Rolle spielen als der bloße Einkaufspreis von einer bestimmten Menge an chemischen Produkten oder Energie. Eingekauft wird zukünftig das Wissen um Lösungen bzw. die Fähigkeit der Kontraktoren, im Problemlösungswettbewerb beim Anwender die richtigen ergebnisorientierten Fragen stellen zu können.
Empfehlungen und Ausblick:
Was sollte nun ein Anbieter/Lieferant/Bereitsteller jedenfalls tun?
- Vertrauen aufbauen, gemeinsame Kontrolle der Chemikalienmengen, des Energie-, Wasser- und Ressourcenverbrauchs
- Unterstützung beim konkreten Umgang mit speziellen chemischen Produkten anfordern
- Indexbasiertes Einpreisen von Kostensteigerungen vertraglich vereinbaren
- Einsatz möglichst ungefährlicher Chemikalien prüfen
- Nutzung digitaler Technologien evaluieren
Der Anwender/Nutzer/Prozessinhaber hat analoge Verpflichtungen:
- Experten des Anbieters müssen Zutritt zu relevanten Produktionsbereichen und -technologien besitzen.
- Vertraulichkeit und Urheberschutz beachten!
- Vertrauen in langfristige Partnerschaften aufbauen
Chemical Leasing führt jedenfalls nicht nur zum gezielteren, sondern vor allem auch zu einem geschulteren und wissenden Einsatz von chemischen Produkten bei den Beschäftigten der chemischen Anwender und Kontraktoren. Im Wesentlichen gibt es drei Erfolgsfaktoren:
- Weniger Verluste in Anlagen durch gezielteren Einsatz (geschlossene, sauberere Prozesse)
- Überlegterer Einsatz
- Beschäftigung mit den Möglichkeiten, aber auch Gefährdungen von chemischen Stoffen
Chemical Leasing ist jedenfalls auch ein Baustein, um das Ziel Nr. 9 im Sektor Industry, Innovation and Infrastructure der UNO-Sustainability-Kampagne 2030 zu erreichen.
Zusammenfassung
Chemical Leasing als neues Prozessmodell scheint geeignet, die herkömmlichen Strukturen der Chemikalienbeschaffung, -verwendung und -entsorgung zu verändern. Der Autor analysiert die Vor- und Nachteile des neuen Modells.