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Sicherheitstechnik

Staufreie Flucht: Simulation und Analyse von Personenströmen

Neue Technologien halten auch in der Sicherheitstechnik Einzug. So steht nun ein Tool für die computergestützte Simulation von Personenströmen bei Evakuierungsszenarien zur Verfügung. Das Anwendungsgebiet ist deutlich breiter und facettenreicher, als man denkt …

Symbolbild staufreie Flucht
P. Winkler

Räumungsübungen sind ein wichtiger Bestandteil jedes Notfallkonzepts und der Brandschutzordnung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen wissen, wie sie das Gebäude im Gefahrenfall schnell verlassen können. Sie sollten sich dabei aber nicht auf ihre Intuition verlassen, sondern den Fluchtplänen folgen, die nächstgelegenen Notausgänge kennen, wissen, wer Brandschutzbeauftragter ist bzw. die Brandschutzwarte sind, sowie ruhig und in geordneter Weise aus dem Gebäude hinausgehen. Genau dieses Verhalten soll mittels Räumungsübungen trainiert werden, die auch der Gesetzgeber fordert (siehe AStV § 45 (5)). Sollte tatsächlich einmal der Ernstfall eintreten, können die vorab gelernten und trainierten Abläufe spontan abgerufen und umgesetzt werden.

Übung für den Ernstfall?

Dennoch kommen Räumungsübungen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern selten gelegen. Immer wieder wollen Beschäftigte erst noch die E-Mail fertigschreiben, ihre Sachen in Ruhe zusammenpacken, noch schnell auf die Toilette gehen oder das gerade laufende Telefonat nicht unterbrechen. In der Psychologie spricht man hier von konkurrierenden Tätigkeiten, die aber im Fall des Falles wertvolle Zeit kosten und das schnellstmögliche Verlassen der Arbeitsstätte oder des Gebäudes verzögern.

Oftmals herrscht auch die Meinung vor, dass es für den einzelnen Beschäftigten ohnehin keinen großen Unterschied mache, ob er oder sie daran teilnimmt, denn im Ernstfall könne man den Kolleginnen und Kollegen einfach zu den Sammelplätzen folgen. Für den Brandschutzbeauftragten, die Sicherheitsfachkraft bzw. den Arbeitgeber ist der Unterschied jedoch schon groß: Er muss gewährleisten, dass in einer Notsituation alle Personen aus dem Gebäude kommen, muss Staus so gering wie möglich halten, damit die Menschenmenge auch im Ernstfall ruhig bleibt, und muss die Zeit abschätzen können, bis alle Menschen in Sicherheit sind.

Wie aussagekräftig sind also solche Übungen, wenn viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dem Alarm einfach nicht folgen? Der gesamte Betrieb wird natürlich trotzdem unterbrochen. Die lokale Feuerwehr ist vorab informiert und gegebenenfalls sogar in die Übung miteingebunden. Viele praktische Aspekte der Übung gehen aber verloren. So werden sich etwa kaum Staus bilden, die erwünschten Lernerfolge bei den Beschäftigten stellen sich damit nicht ein. Auch wird es schwierig, die für die Entfluchtung (Räumung des Gebäudes) notwendige Zeit abzuschätzen – ebenso wie die Frage, ob das Schutzziel erreicht werden kann. Je mehr Menschen sich bewegen, umso länger dauert es – doch diese Zeit steigt nicht unbedingt linear und sollte nicht einfach nur geschätzt werden. Eine sichere Evakuierung lässt sich im Ernstfall nicht unbedingt gewährleisten. Auch kann nicht jeder Gebäudetyp ohne weiteres und jederzeit mit einer realen Übung bespielt werden, man denke zum Beispiel an Krankenhäuser oder ähnliche Einrichtungen. Eine Möglichkeit, die Sicherheit am Arbeitsplatz zu erhöhen, bietet die computergestützte Simulation. Dabei lässt sich am Computer berechnen, wie Menschen sich bewegen würden, und das anschließend visualisieren. Es ist also nicht immer nötig, wirkliche „Experimente“ zu machen. Oft vermag eine Simulation die Wirklichkeit darzustellen, und anhand der Ergebnisse der Simulation kann man wichtige Erkenntnisse gewinnen und sein Notfallkonzept optimieren.

Aber Achtung: Die Simulation ersetzt nicht die Evakuierungsübung!

Abbildung: 3-D-Visualisierung einer Simulation
Abb. 1: 3-D-Visualisierung einer Simulation

Simulation: Wo fängt man an? Und wie funktioniert das?

Eine Simulation ist schnell aufgesetzt: Benötigt wird ein zwei- oder dreidimensionaler Plan der Geometrie des Gebäudes. Aus dieser Geometrie sollten die Fluchtwege herauslesbar sein, wenn man eine Evakuierung simulieren will.

Natürlich ist eine Simulation nur so gut, wie es die Daten sind, mit denen man sie „füttert“. Deshalb werden bei einer Simulation, wenn möglich, die Eingangsgrößen und Parameter immer gemeinsam mit dem Sicherheitsexperten erarbeitet: Gemeinsam legt man fest, wo sich die Menschen zu Beginn der Simulation befinden und wohin sie entfluchtet werden sollen, wo sich also die sicheren Bereiche oder Sammelplätze befinden. Die Demografie der Personen spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle: Handelt es sich beispielsweise um älteres Publikum, junge Leute oder gar Kinder? Befinden sich alle an ihren gewohnten (Arbeits-)Plätzen oder liegt ein neues Open-Office-Konzept vor, bei dem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oft Platz tauschen und sich nicht von jedem Platz aus gut zurechtfinden? Findet vielleicht eine Veranstaltung in Räumlichkeiten statt, die dafür selten genutzt werden, wie zum Beispiel einer Kantine? Dies alles hat Einfluss auf die Gehgeschwindigkeit und auf das Verhalten der zu simulierenden Personen.

Sind Geometrie und Population festgelegt, kann die Simulation gestartet werden. Das zugrundeliegende Modell lässt sich vereinfacht so beschreiben: Jede Person hat ein bestimmtes Ziel, auf das sie zustrebt. Auf dem Weg zum Ziel befinden sich aber Hindernisse unterschiedlichster Art sowie andere Personen, die zum Ausweichen zwingen. Man kann sich das wie eine Hügellandschaft vorstellen, in der sich die Personen bewegen. Hindernisse wie zum Beispiel Zäune, Wände und Tische sind Hügel, ebenso wie andere Personen. Jede Person versucht nun, durch diese Hügellandschaft zu navigieren und dabei möglichst entlang der Täler und nicht bergauf zu gehen. Damit weicht sie Hindernissen und anderen Menschen aus und vermeidet Kollisionen. Dieses Vorgehen wird für jede Person angewandt. Die Personen beeinflussen sich somit gegenseitig im Modell – so kann die reale Dynamik sehr gut erfasst und wiedergegeben werden.

Die Ergebnisse sind auch ohne tiefes Expertenwissen leicht verständlich: Ergebnisvideos veranschaulichen die Entwicklung eines Szenarios über die Zeit. Mit sogenannten Heatmaps werden Stauungen erkannt, mit Entfluchtungsverläufen lässt sich angeben, zu welchem Zeitpunkt wie viele Personen bereits den sicheren Bereich erreicht haben. Auch ist eine Darstellung in 3-D möglich (siehe Abb. 1).

Die Simulationsmodelle werden laufend anhand von Realdaten validiert und überprüft. Bestimmte Phänomene wie Bahnenbildung oder Staubildung vor Engstellen sind in der Realität gut beobachtbar. Diese Phänomene werden dann am Computer nachgebildet und überprüft. Wie bei physikalischen Simulationen werden diese beobachtbaren Phänomene an kleinen Testfällen nachsimuliert und nochmals validiert.

Abbildung: Personenstromsimulation eines Bahnsteiges
Abb.2: Personenstromsimulation eines Bahnsteiges mit dazugehöriger Heatmap, die Stauzonen visualisiert

Zur Realitätsnähe

Zunächst muss klar sein, dass sich die Realität nicht 1:1 wiedergeben lässt. Das kann auch gar nicht passieren, da es „die eine“ Realität nicht gibt. Betrachtet man die Brandschutzübungen zweier aufeinanderfolgender Jahre, so werden bestimmte Charakteristika wiederkehren, gleichzeitig werden teilweise andere Menschen anwesend sein und damit andere Situationen entstehen. Die Simulationen zielen also genau darauf ab, die wiederkehrenden Charakteristika realitätsgetreu zu erfassen und wiederzugeben. Damit ist es möglich, Tendenzen und Trends abzubilden, die bereits einen großen Mehrwert in der Planung leisten. Das Stolpern eines Menschen hingegen und der Ort, wo er stolpert, werden nicht durch eine Simulation abgebildet. Dieses Restrisiko bleibt, da der Mensch nicht berechenbar ist. Außerdem kann im Realfall und in Extremsituationen eine Vielzahl von menschlichen Verhaltensweisen hinzukommen (verletzte Personen, Stress, Panik, konkurrierende Tätigkeiten, Ortsunkenntnis, Reduktion rationaler Fähigkeiten, Dominanz primitiver Motive …).

Simulationen sind aber nicht nur bei Evakuierungen und Brandschutzübungen einsetzbar. Sie haben zahlreiche andere Anwendungsmöglichkeiten. Die Palette reicht hier von der Planung von Abläufen während der Bauphase über die Überprüfung der Sicherheit von Veranstaltungen mit tausenden Besucherinnen und Besuchern bis hin zu Komfortstudien für Fahrgäste in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Anwendungen aus der Praxis

Gerade in öffentlichen Verkehrsmitteln wie einer U-Bahn ist es kaum möglich, verschiedene Situationen an den Fahrgästen zu testen. Auch sind Umbaumaßnahmen nicht einfach zu bewerkstelligen – deshalb erweist sich hier eine Simulation als besonders praktisch. Verschiedene Fragestellungen können beantwortet werden: beispielsweise, wie und ob sich bei normalem Verkehr Stauungen an den Ausgängen bilden und wie lange die Wartezeiten sind.

Abbildung 2 illustriert das sehr anschaulich – hier wurde ein Bahnsteig simuliert, bei dem die Fahrgäste über die Mitte (Bereich in Rosa) die Züge erreichen. Diese fahren dann in beide Richtungen ab (Bereich in Grün). Die Fahrgäste, die den Zug verlassen, kreuzen sich auf dem Bahnsteig mit den wartenden Personen. Man kann bei der Auswertung der Simulation – wie hier mittels einer Heatmap – gut erkennen, dass sich an verschiedenen Stellen, besonders aber an den Ein- und Ausgängen, Staus bilden.

Ein weiteres Beispiel: Sportstadien und andere große Versammlungsstätten müssen mit der Zeit renoviert werden, um den neuesten Sicherheitsrichtlinien zu entsprechen. Doch die Renovierung sollte bezahlbar und die Kapazitäten sollten zumindest erhalten bleiben, in manchen Fällen vielleicht sogar erhöht werden. In diesem Beispiel mussten Außentreppen eines Eishockeystadions altersbedingt saniert werden. Durch den Wegfall der Außentreppen, die als Fluchtwege gelten, reduzieren sich die zur Verfügung stehenden Fluchtwege. Gemäß gesetzlicher Bestimmungen müsste deshalb auch die Besucherzahl erheblich reduziert werden. Um zu überprüfen, ob und inwieweit der Wegfall dieser Fluchtwege Auswirkungen auf die Entfluchtungszeiten hat und wie viele Besucherinnen und Besucher künftig zugelassen werden können, hat eine Simulation bereits vor dem Umbau folgende Fragen beantwortet:

  • Wie lange dauert die Entfluchtung des Stadions mit geplanter Besucherzahl?
  • Kommt es zu Staus, und wenn ja, wo?
  • Wie lange dauern die Staus an?

Hier stellte sich heraus, dass bei der gesetzlich verordneten Reduktion der Besucherzahl die Fluchtwege auf der Haupteingangsseite bei Weitem nicht ausgelastet sind – was vor allem daran lag, dass der Personenfluss bereits im Tribünenbereich des Stadions stark reduziert worden war (siehe Abb. 3). Es traten also ohne die Außentreppen – anders als erwartet – besondere Staus auf. Dank der Simulation konnte man den Umbau starten und trotzdem weiterhin allen Fans Platz bieten.

Abbildung: Evakuierungssimulation eines Stadions
Abb. 3: Evakuierungssimulation eines Stadions: Die Tribünen erwiesen sich als die eigentliche Engstelle, nicht die wegfallenden Außentreppen.

Personenstromsimulationen können also einen großen Beitrag zur Sicherheit aller leisten. Auch wenn sich menschliches Verhalten nicht 100-prozentig voraussagen lässt: In der Realität kann man sich schlichtweg besser vorbereiten, wenn man bereits einen Überblick über verschiedene mögliche Szenarien erhalten hat und anhand von Daten Vergleiche und Bewertungen vorzunehmen vermag. In Zukunft wird man sich hier immer mehr der Realität annähern. Zudem werden Personenstromsimulationen in Verbindung mit anderen Technologien wie Smart Wearables oder intelligenten Multimedia-Lösungen den Handlungsspielraum noch mehr erweitern und zu interessanten Entwicklungen führen, die das Zusammenleben und -arbeiten sicherer gestalten können.

Zusammenfassung

Mithilfe computergestützter Simulationen ist es mittlerweile möglich, Personenstromanalysen durchzuführen, um Evakuierungskonzepte zu überarbeiten und zu testen, Bauvorhaben besser planen zu können oder ein Sicherheits- und Notfallkonzept für Veranstaltungen zu erstellen. Dies bietet eine wertvolle Ergänzung und Bereicherung der gesetzlichen Evaluierungspflicht und gibt Verantwortlichen Daten in die Hand, auf die sie sich bei Entscheidungen stützen können.


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