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A&O-Psychologie

Computer Says No (1)

Die Wissensarbeit wird durch die fortschreitende Computerisierung, Digitalisierung und die Industrie 4.0 wesentlich verändert. Aus der Sicht der Autorin muss die Arbeits- und Organisationspsychologie im Sinne des dualen Entwerfens von Bearbeitungsprozessen Einfluss auf diese Entwicklung nehmen und sie mitgestaltend begleiten. Der erste Teil dieses Beitrags behandelt einige wichtige Ausschnitte der theoretischen Grundlagen der Tätigkeitsanalyse mittels TBS-GA. In Teil 2 in der nächsten Ausgabe wird anhand von sechs ausgewählten Themen zur Automatisierung, Digitalisierung und Computerisierung der Beitrag der Arbeitspsychologie thematisiert.

Fotolia/ psdesign1

Ein Großteil heutiger Erwerbsarbeit ist Wissensarbeit. Produktive geistige Tätigkeiten sind nicht nur der Entwicklung und Forschung vorbehalten. Tätigkeiten wie die eines Softwarearchitekten/einer Softwarearchitektin oder eines Facharbeiters/einer Facharbeiterin, aber auch jene von Komponistinnen und Komponisten, Ärztinnen und Ärzten, Lehrerinnen und Lehrern sowie von vielen anderen Berufen sind produktive geistige Tätigkeiten. Um genau jene Berufe geht es in einer Wissensgesellschaft, die durch Innovation vorankommen will und ein Wissensmanagement braucht, um Wissen erfolgreich weiterzugeben.

Wissensarbeit im digitalen Zeitalter

Eine der bedeutendsten Aufgaben der Arbeits- und Organisationspsychologie liegt folglich darin, Einfluss darauf zu nehmen, wie Denken und Problemlösen in der Arbeit gefördert werden können.

Roboter und die Entwicklung der künstlichen Intelligenz verändern nicht nur die unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ bekannt gewordene Industrie- und Produktionsarbeit, sondern zunehmend auch die Wissensarbeit. Auf welche Weise die Arbeit zwischen Technik und Mensch organisiert wird, hat wesentlichen Einfluss darauf, ob Denken und Problemlösen in der Arbeit störungsfrei und reibungslos möglich sind oder ob geistige Arbeit behindert wird. Eine langjährige Forderung der Arbeits- und Organisationspsychologie ist es daher, dass Arbeitspsychologie und Technik parallel und vorausschauend die Funktionsteilung zwischen Technik und Menschen entwerfen (duales Entwerfen von Bearbeitungsprozessen). Dazu bedarf es einer Analyse des Denkens und Handelns, damit die Analyseergebnisse in Form von konkreten Gestaltungshinweisen praktisch wirksam werden können. Mit der Handlungsregulationstheorie steht der Arbeits- und Organisationspsychologie eine geeignete theoretische Grundlage zur Bewertung zur Verfügung. Für die Praxis wurde unter anderem ein auf dieser Theorie basierendes psychologisches Arbeitsanalyseinstrument entwickelt, das seit Jahrzehnten erprobt ist: das Tätigkeitsbewertungssystem, TBS (Zugang: aowΨ Datenbank).

Dieser Artikel soll exemplarisch aufzeigen, mit welchem Beitrag sich die Arbeits- und Organisationspsychologie an aktuellen und zukünftigen Entwicklungen der Computerisierung, Digitalisierung und der vernetzten künstlichen Intelligenz beteiligen können.

Die Vielfalt der geistiger Arbeitstätigkeiten

Spricht man in der Arbeits- und Organisationspsychologie (A&O Psychologie) von arbeitsbedingten psychischen Anforderungen oder Belastungen, stellt sich sogleich die Frage: „Was wird gefordert oder was wird belastet?“

A&O-Psychologinnen und -psychologen beantworten diese Frage mit: „die psychische Handlungsregulation“. Gemeint sind mit der Handlungsregulation (HR) jene psychischen Vorgänge, die sich bei der Entstehung und Lenkung von Handlungen in unserem Kopf abspielen. Denken und Tun bilden eine Einheit – sowohl bei vorwiegend geistiger als auch bei vorwiegend körperlicher Arbeit. Vereinfacht gesagt, sind Handlungen die kleinste Einheit von Tätigkeiten. Ein Großteil unseres Verhaltens ist zielgerichtete Tätigkeit und davon wiederum viel Arbeitstätigkeit. Nachdem jede berufliche Aufgabe beauftragt ist, geschehen Handlungen gewollt und zielgerichtet. Die Theorie der Handlungsregulation (HRT) stellt die allgemeinpsychologische Fundierung der Arbeitspsychologie dar. Sie ist bis heute für das Fachgebiet unverzichtbar und gewinnt zunehmend an Bedeutung. Eine ausführliche Beschreibung befindet sich etwa in der am Textende angeführten Literatur (aktuell bei Hacker, 2015; vgl. auch Hacker, Richter, 2006, S. 106, 107).

Es gibt viele Arten von geistiger Tätigkeit. Je nach Aufgabe reichen sie von geistigen Routinetätigkeiten bis zu produktiven geistigen Tätigkeiten, mit hoch komplexen schöpferischen Denkanforderungen.

Ein Beispiel: Aufgaben, die es erforderlich machen, etwas zu entwickeln, enthalten komplexe geistige Denkanforderungen vom Typ „Entwurfsprobleme“ (Abb. 1; vgl. selbstständig - nicht schöpferische Tätigkeit durch komplexe Probleme). Nicht nur Entwicklungs- und Konstruktionsaufgaben, sondern auch Humandienstleistungen wie Bildung, Pflege, Medizin, Sozialarbeit, Verwaltung, Management etc. enthalten Denkanforderungen dieser Art.

Die Skizze (Abb. 1) stellt eine Auswahl von geistigen Tätigkeiten dar und entstand in Anlehnung an Hackers Ausführungen zur Begriffsklärung „Geistige Tätigkeit“ (vgl. u. a. Hacker, 2006, S. 13, 14; und Hacker, 2009, S. 18, 19).

Was für die Vielfalt von geistigen Arbeitstätigkeiten gilt, gilt selbstverständlich auch für die unterschiedlichen Arten des Wissens. So kritisiert u. a. Geiger in seinem umfangreichen und differenzierten Werk „Wissen und Narration“, in dem er den Kern des Wissensmanagements in Betrieben herausarbeitet, dass sich Wissen keineswegs auf nur wenige zu unterscheidende Arten reduzieren lässt (Geiger, 2005, S. 142).

Abbildung: Vielfalt geistiger Tätigkeiten
Abb. 1: Auswahl aus der Vielfalt geistiger Tätigkeiten (siehe Zeichenerklärung)

Analyse, Bewertung und Gestaltung geistiger Arbeitstätigkeiten

A&O-Psychologinnen und -psychologen analysieren und bewerten, welcher Art die geistige Tätigkeit ist (vgl. Abb.1) und welche Merkmale sie aufweist. Aus den Kennzeichen produktiver oder innovativer Tätigkeit lassen sich mindestens fünf Merkmale ableiten, die weitreichende Folgen für die Arbeitsgestaltung, vor allem auch an der Schnittstelle zu Technik und Organisation, haben (vgl. Hacker, 2006, S. 15–24).

A&O-Psychologinnen und -psychologen analysieren und bewerten die Höhe der geistigen Anforderungen und die Ausgewogenheit von deren Zeitanteilen. Berufliche Aufgaben umfassen einfache Tätigkeiten, die sich fortwährend wiederholen und daher wenig bis keine Aufmerksamkeit benötigen, bis hin zu Tätigkeiten, die immer wieder gleich ablaufen, aber Konzentration erfordern. Immer dann, wenn vorhandenes Wissen zur Ausführung der Tätigkeit nicht ausreicht, werden intellektuelle Vorgänge auf höherer Ebene zum Aufbauen des fehlenden Wissens unerlässlich (vgl. Abb. 2). Bei produktiven geistigen Tätigkeiten (vgl. Abb. 1) kann die wissensbasierte Tätigkeitsregulation durch explizites Wissen (knowing what und knowing how) als Normalform betrachtet werden. Dabei spielt Übung eine Rolle. Die durch deren Bewusstseinsebenen unterscheidbaren Niveaus der psychischen Regulation haben allgemeinpsychologische Gültigkeit (Tab. 1) (vgl. Hacker, 2009, S. 31, Abb. 2.2, S. 32; oder Hacker, 2006, Abb. 5, S. 24; vgl. auch „Leitermodell von Rasmussen“ in: Sträter, 2010; oder Sträter, 2005, S. 35–42).

Tabelle: Ebenen der Ausführungsregulation von Handlungen
Tab. 1: Ebenen der Ausführungsregulation von Handlungen (aus: Hacker, 2009; S. 31)

A&O-Psychologinnen und -psychologen analysieren und bewerten die Vollständigkeit der Handlungsphasen.

Ein normatives Konzept, das sich aus der Nutzung der Merkmale psychischer Regulation ergibt, ist die hierarchische und sequenzielle Vollständigkeit der Tätigkeiten. Ist diese erfüllt, ist gewährleistet, dass die Tätigkeiten Spielraum bieten und selbstständige Denkleistungen erfordern. Sie bieten die Möglichkeit, sich Ziele zu setzen, und machen es erforderlich, Entscheidungen zu treffen.

Die nach der HRT geforderten Regulationsprozesse können mit dem psychologischen Arbeitsanalyseinstrument „Tätigkeitsbewertungssystem für geistige Arbeit“ (TBS) erfasst werden. Es bildet allgemeine Prozesse der Handlungsregulation ab. Das TBS bietet z. B. Einordnungshilfen für die oben beschriebenen unterschiedlichen Formen intellektueller Leistungen nach dem Prinzip der hierarchischen Vollständigkeit an (vgl. Rudolph, Schönfelder & Hacker, 1987, S. 59–68: Merkmalsbereich D: erforderliche geistige [kognitive] Leistungen; TBS-GA Handanweisung; TBS: Zugang: „aowΨ“ Datenbank).

A&O-Psychologinnen und -psychologen analysieren und bewerten die geistigen Anforderungen auch und vor allem in Hinblick auf aktuelle und zukünftige Entwicklungen wie vernetzte künstliche Intelligenz oder Robotik. Dabei berücksichtigen sie, dass die beim Menschen verbleibenden und zukünftigen Tätigkeiten an der Schnittstelle Mensch, Technik und Organisation die Richtlinien gut gestalteter Arbeit nach internationalen Standards erfüllen. Dazu steht eine Anzahl weiterer Analyseinstrumente zur Verfügung, wie das KABA-Verfahren (Dunckel&Pleiss, 2007), das KOMPASS (Grote, Wäfler&Weik, 1997), das SynBA (Wieland-Eckelmann, Saßmannshausen, Ros&Schwarz, 1999; Auswahl nach Hacker 2016, PB 89, S. 2, oder Hacker, 2016, S. 5). Eine ganzheitliche Sicht auf ein Unternehmen erlaubt zudem die Mensch-Technik-Organisationsanalyse MTO (Ulich, 2013; Zugang: aowΨ Datenbank).

Nach Hacker kann menschliches algorithmisches Denken bis zur Stufe 5 (Abb. 3) – also immer mehr Teile der Wissensarbeit, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden – von rechnerbasierten Algorithmen abgelöst werden. Ab Stufe 5 spricht man von Innovationsarbeit – Arbeit an der Neuartigkeit von Produkten oder Prozessen –, die nach Hackers Einschätzung vorerst beim Menschen verbleibt und an Bedeutung gewinnen soll (Hacker, 2016, PB 89, S. 4; Abb. 1, S. 5; oder Hacker, 2016, S. 7–8).

Abbildung: Ebenen der Ausführungsregulation von Handlungen
Abb. 2: Vereinfacht: Ebenen der Ausführungsregulation von Handlungen: sensumotorische, wissensbasierte und intellektuelle Regulation (vgl. Tab. 1)
Abbildung: Ebenen kognitiver Regulationsanforderungen im TBS
Abb. 3: Ebenen kognitiver Regulationsanforderungen im TBS (in Anlehnung an Hacker, 2009, Abb. 2.3., S. 44; Hacker, 2016, PB 89, S. 5; oder Hacker, 2016; Abb. 1, S. 8)

In der nächsten Ausgabe wird die Autorin aufzeigen, wie Arbeitspsychologie und Technik parallel und vorausschauend die Funktionsteilung zwischen Technik und Mensch entwerfen können. Anhand beispielhafter Entwicklungen werden konkrete Einsatzmöglichkeiten des TBS-GA aufgezeigt.

Internet

Literatur

  • Geiger, D. (2005). Wissen und Narration. Der Kern des Wissensmanagements. Erich Schmidt Verlag.
  • Hacker, W. (2016). Vernetzte künstliche Intelligenz/Internet der Dinge am deregulierten Arbeitsmarkt: Psychische Anforderungen. 2016 Vol.9/No 2; 4–21. In: Sachse, P. (Hrsg). Journal Psychologie des Alltagshandelns. Innsbruck university press.
  • Hacker, W. (2016). Vernetzte künstliche Intelligenz/Internet der Dinge am deregulierten Arbeitsmarkt: Psychische Anforderungen. TU Dresden. Arbeitsgruppe Wissen-Denken-Handeln. Projektberichte. Heft 89, Januar 2016.
  • Hacker, W. (2015). Wissenskooperation bei digitalisierter Arbeit. TU Dresden. Arbeitsgruppe Wissen-Denken-Handeln. Projektberichte. Heft 87, Juli 2015.
  • Hacker, W. (2015). Psychische Regulation von Arbeitstätigkeiten. Kröning: Asanger Verlag GmbH.
  • Hacker, W. (2009). Arbeitsgegenstand Mensch. Psychologie dialogischer-interaktiver Erwerbstätigkeit. Lengerich: Pabst Verlag.
  • Hacker, W., Richter, P. (2006). Psychische Regulation von Arbeitstätigkeiten. 4. Kapitel, 105–140; In: Konradt, U., Zimlong, B. und deutsche Gesellschaft für Psychologie (Hrsg.). Ingenieurspsychologie. Hogrefe Verlag.
  • Hacker, W. (2006). Psychische Regulation „geistiger“ Tätigkeiten: Denkhandeln? In: Sachse, P., Weber, W. G. (Hrsg.). Zur Psychologie der Tätigkeit. Bern: Verlag Hans Huber (Schriften zur Arbeitspsychologie), 64, 13–28.
  • Hacker, W., Fritsche, B., Richter, P., Iwanowa, A. (1995). Tätigkeitsbewertungssystem TBS. Verfahren zur Analyse, Bewertung und Gestaltung von Arbeitstätigkeiten. In: Ulich E. (Hrsg.): Mensch-Technik-Organisation (Bd. 7). Zürich: vdf Hochschulverlag.
  • Hacker, W., Rudolph, E., Schönfelder, E. (1987). Tätigkeitsbewertungssystem – Geistige Arbeit TBS-GA. Handanweisung. Psychodiagnostisches Zentrum Humboldt-Universität zu Berlin.
  • Sträter, O. (2010). Skript, Sept. 2010 AK Wien.
  • Sträter, O. (2005). Cognition and Safety. An Integrated Approach to Systems Design and Assessment. Ashgate Publishing Company.
  • Ulich, E. (2011). Arbeitspsychologie. (7. überarb. und erw. Aufl.) Zürich: vdf Hochschulverlag.

Zeichenerklärung zu Abb. 1

Geistige Routinetätigkeiten 
Kennzeichen: Geistige Routinetätigkeiten sind Tätigkeiten, die hauptsächlich Informationsübertragung und regelgeleitete Informationsverarbeitung umfassen.
Beispiele für Tätigkeiten: Montieren nach Anleitung, Textverarbeitung, Ablage, Verwaltung.
Vorgehen: Das vorgegebene Gesamtziel ist in Teilziele zerlegbar und hintereinander abzuarbeiten.
Form der psychischen Regulation: hierarchisch-sequenzielle Handlungsorganisation.

Produktive geistige Tätigkeiten
Kennzeichen: Bei produktiven geistigen Tätigkeiten sind Denkanforderungen gegeben und Lösungsregeln nicht bekannt; eine Problemlösung ist notwendig.
Form der psychischen Regulation: Tätigkeit erfordert eine wissensbasierte Tätigkeitsregulation durch explizites deklaratives (knowing what) und prozeduales (knowing how) Wissen. (vgl. Hacker, 2006, S. 23, Abb. 5, S. 24)

Selbstständig - nicht schöpferische Tätigkeiten
Kennzeichen: Denkanforderungen sind durch offene, geschlossene oder komplexe Probleme gegeben.

Selbstständig - nicht schöpferische Tätigkeiten durch komplexe Probleme
Kennzeichen: Entwurfsprobleme, bei denen mögliche Ziele nur grob umrissen sind, es gibt keinen begrenzten Satz möglicher Schritte und zahlreiche wechselwirkende Bedingungen.
Beispiele: Entwerfen eines Textes, ein Programm schreiben, Konstruieren eines Geräts, Entwurf eines Gebäudes, Komponieren eines Musikstückes, Organisationslösungen suchen, Therapieprogramm entwerfen.
Vorgehen: Gelegenheiten suchendes (opportunistisches) Vorgehen mit systematischen (geplanten zielgerichteten) Episoden. Form der psychischen Regulation: nicht-sequenziell-hierarchisch/heterarchische Handlungsorganisation.

Kennzeichen entwerfender produktiver oder innovativer Tätigkeiten
Ihr Ziel ist oft noch zu finden - sonst läge kein Denkproblem vor.

Zusammenfassung

Dieser zweiteilige Artikel zeigt auf, welchen Beitrag die Arbeits- und Organisationspsychologie bei Digitalisierung und Industrie 4.0 leisten kann. Der erste Teil stellt wichtige Grundlagen vor, der zweite Teil dokumentiert anhand konkreter Themenstellungen, wie die A&O-Psychologie Unternehmen unterstützen kann.


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